Solidarisches Wohnen

Mieter*innenkämpfe gegen Gentrifizierung und Sozialkahlschlag

| Peter Nowak

Solidarischeswohnen Beitrag
Foto: murdelta via flickr.com (CC BY 2.0)

Menschen sind selten nur Mieterinnen, sondern ihr Leben ist komplexer. Wem eine Kündigung droht, und wer das als existentielle Bedrohung wahrnimmt, ist wahrscheinlich auch erwerbslos oder prekär bzw. schlecht bezahlt beschäftigt. Gleichzeitig sind Arbeitskämpfe auch immer Kämpfe um die Kosten der Reproduktion.

Wer vor zehn Jahren als Geringverdienerin in Berlin noch ein einigermaßen bequemes Leben führen konnte, ist mit steigenden Mietpreisen und Lebenshaltungskosten auf einmal in einer Notlage. Wir müssen diese Kämpfe verbinden, weil die Problemlagen, in die Prekarisierte in der heutigen Zeit geraten, oft multiple sind.“ So erklärte eine Aktivist*in der 2018 gegründeten Gruppe „Neukölln solidarisch“ den politischen Ansatz ihrer Initiative. In Berlin-Neukölln, einem Stadtteil, in dem viele Menschen mit geringen Einkommen leben, soll der Kampf um bezahlbare Wohnungen verbunden werden mit dem um Löhne und für ein Einkommen, von dem man leben kann. Der Zusammenhang liegt auf der Hand. Dass Menschen Mietschulden haben, liegt neben steigenden Mieten eben auch an Niedriglöhnen. In der aktuellen Ära der prekären Lebens- und Arbeitsverhältnisse können Menschen mit voller Lohnarbeit davon immer öfter ihre Reproduktionskosten nicht mehr vollständig bestreiten.

Das zeigt sich an der wachsenden Zahl der Aufstocker*innen, die trotz Vollerwerbsarbeit Hartz IV beantragen müssen und damit auch unter Zumutungen und Reglementierungen dieses Systems fallen. Der Zusammenhang zwischen Mietschulden, die am Ende zu Zwangsräumungen führen können, und den Jobcentern, wurde in Berlin schon in Studien nachgewiesen. Ursachen für diese Mietschulden sind z.B. von Jobcentern verhängte Sanktionen oder zu spät vom Amt überwiesene Mieten etc.

Zahltag und solidarische Begleitung am Jobcenter

Auch an den Jobcentern und Arbeitsagenturen versuchen Gruppen wie „Neukölln solidarisch“ die Vereinzelung zu überwinden. Diese Institutionen sollen ein Bild vermitteln bzw. festschreiben, nach dem jede*r Einzelne eine Nummer bzw. ein Fall ist, der individuell abgearbeitet oder auch zu den Akten genommen werden kann. Das wird sich erst ändern, wenn diese vielen Einzelnen die Scham und die Angst überwinden und sich zusammenschließen. „Aktion Zahltag“ nennen sich die Aktionen, bei denen die Menschen gemeinsam im Jobcenter gegen Sanktionen und für ihre Rechte kämpfen.

Eine abgeschwächte Form lautet „Solidarische Begleitung“ und „Keine/r muss allein zum Amt“. Dabei geht es darum, dass man eben den Fallmanager*innen der Ämter nicht allein gegenübersitzt, sondern sich Menschen ihrer Wahl zur Unterstützung mitnimmt. Auch hier gilt die Devise, die die Berliner Stadtteilaktivist*innen so beschreiben: „Alle, die die Solidarische Aktion Neukölln mitgegründet haben, wohnen in Neukölln und wir wollen in unserer direkten Umgebung politisch wirken. Außerdem haben wir uns entschieden, ein breiteres Themenfeld zu bearbeiten, unseren eigenen Alltag und Stress auch politisch anzugehen. Und wir haben eben nicht nur Stress mit den Vermieter*innen, sondern auch auf Arbeit, mit dem Jobcenter, Sozialamt und dergleichen.“ Was hier für „Neukölln solidarisch“ gesagt wurde, gilt auch für die Gruppe „Wilhelmsburg solidarisch“, die im proletarischen Hamburger Stadtteil eine ähnliche Arbeit macht. Das „Solidarische Netzwerk Leipzig“ oder das Kollektiv „Solidarisch in Gröpelingen“ (Bremen) sind weitere Beispiele von Initiativen, die auf Stadtteilebene den Kampf gegen prekäre Arbeits-, Wohnungs- und Lebensverhältnisse verbinden wollen.

Solidarische Netzwerke

Diese politischen Suchbewegungen finden nicht nur in zahlreichen Städten in Deutschland, sondern schon länger auch im Ausland statt. So war die Broschüre „Solidarische Netzwerke“, die vor einigen Jahren ins Deutsche übersetzt wurde, eine Art Blaupause für die Initiativen in Deutschland. Dort wird das „Seattle Solidarity Network“ exemplarisch dargestellt. Einer der Übersetzer der Broschüre stellt sich diese Fragen:

Was bedeutet es, Widerstand in einer Gesellschaft zu leisten, in der wir jeden Tag radikal individualisiert werden, während uns gleichzeitig beigebracht wird, nur durch extreme Anpassung an das Bestehende eine Überlebenschance zu haben? Was heißt es, sich in einer Arbeitsgesellschaft zu organisieren, der die Arbeit ausgeht? Wie schaffen wir Sinn in einer Gesellschaft voller überwältigendem, gewalttätigem Stumpfsinn? Wie gehen wir mit den Schäden um, die diese Gesellschaft in uns und an der Natur anrichtet? Wie treten wir einem System entgegen, das unsere Leben fast total kontrolliert und 24 Stunden am Tag ausbeutet? Und wie schaffen wir politische Strukturen, die das leisten können?“

Mit diesen Fragen wird der Kontext klar benannt, in dem sich diese solidarischen Netzwerke gegründet haben und auch in der Praxis bewähren müssen. Der Zerfall einer Arbeiter*innenkultur und ihres Milieus, das sicherlich nicht idealisiert werden sollte, bedeutete u.a. den Wegfall einer solidarischen Kultur.

Das soll an einem Beispiel verdeutlicht werden: Die Menschen, die in den typischen Arbeiterkneipen aufeinander trafen, wussten voneinander, was sie verdienen. Sie kannten ihre Chefs und sie waren auch schnell bereit, mal gemeinsam auf die Straße zu gehen und zu streiken, wenn sie einen Lohnabzug als ungerecht ansahen. Heute gilt es selbst in linken Kreisen als verpönt, über das eigene Einkommen und den Lohn zu reden. Selbst in linken Politgruppen wissen die meisten nicht, was die Genoss*innen verdienen.

Die Angst überwinden, über den eigenen Niedriglohn zu reden?

Aber wie will man gemeinsam für mehr Lohn oder gegen Sanktionen kämpfen, wenn man aus dem Einkommen ein Geheimnis macht? So sind solidarische Netzwerke im Stadtteil oft auch die Orte, an denen man (wieder) über die eigenen Löhne und die niedrigen Renten reden kann. Das ist nicht so banal, wie es sich vielleicht anhört. Denn erst durch den Dialog wird das eigene Niedrig-Einkommen, werden die Mietschulden oder die Sanktionen im Jobcenter von einem individuellen zu einem gesellschaftlichen Problem. Wer die Miete nicht pünktlich zahlen kann oder immer wieder sanktioniert wird, versucht das oft vor Freund*innen, Arbeitskolleg*innen und Bekannten geheim zu halten. Die Angst, stigmatisiert zu werden, ist groß. Schließlich geben sich ja auch viele der Betroffenen selber die Schuld, dass sie Probleme mit dem Jobcenter oder dem Bezahlen der Miete haben. Manche haben mehr Angst, dass ihre Umgebung davon erfährt, als vor Obdachlosigkeit. Daher verlassen sie ihre gekündigten Wohnungen bevor es zur Zwangsräumung kommt und landen auf der Straße.

Die solidarischen Netzwerke könnten vorher die Orte sein, an denen die Betroffenen zu der Erkenntnis kommen, dass nicht sie schuld sind an Mietschulden etc., sondern eine Gesellschaft und eine Politik, die unter anderem durch die Etablierung von Hartz IV ein Niedriglohnsystem eingeführt und Wohnen zur Ware gemacht hat. Wenn sich die Betroffenen im Stadtteil organisieren und gemeinsam gegen Sanktionen im Jobcenter, gegen Zwangsräumungen und Niedriglöhne wehren, haben sie schon einen Riesenschritt zurückgelegt. Sie haben die Angst überwunden, sich öffentlich als Personen zu outen, die Probleme mit Mieten, Jobcenter und Niedriglohn haben und offensiv erklären, dass es sich um ein gesellschaftliches Problem handelt. Hier liegt auch die wichtige Rolle der solidarischen Netzwerke im Stadtteil – da, wo die Menschen wohnen und leben. Hier müssen im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne die Orte geschaffen werden, in denen Menschen die Angst verlieren, sich als Mietschuldnerin oder Sanktionierte zu erkennen zu geben.

Rolle der organisierten Linken

Doch welche Rolle kann die organisierte Linke dabei spielen? Eine organisierende und lernende zugleich. Wie bei den Solidarity Networks in den USA können sie Kenntnisse vermitteln, die sie beim Organisieren von unterschiedlichen politischen Kampagnen den Menschen im Stadtteil zur Verfügung stellen. So hatten große Teile der außerparlamentarischen Linken lange Zeit vor allem Kampagnen organisiert, sei es gegen Gipfeltreffen oder andere Herrschaftsevents. Die Publizistin und Aktivistin Nina Scholz schreibt dazu in dem von Sebastian Friedrich bei Bertz & Fischer herausgegebenen Buch „Neue Klassenpolitik. Linke Strategien gegen Rechtsruck und Neoliberalismus“:

Einzelne Events standen im Fokus, Hoffnungen waren oft an Spontanität von Massen, Riots, Mobs geknüpft. Die erhofften Erfolge blieben aus. Exemplarisch steht dafür Occupy Wall Street, das trotz seiner nur mäßigen langfristigen Erfolge zur Blaupause für die internationale Linke wurde. Solche ‚Events‘ kosten Kraft. Es kostet Kraft, sie zu organisieren, sie zu begleiten, sich danach davon zu erholen – und dann wieder von vorne zu beginnen. Die Kosten-Nutzen-Rechnung von solchen Formaten trägt eben nicht langfristig: Es braucht sehr viel Arbeitskraft von zahlreichen Aktivistinnen und Aktivisten, so etwas vorzubereiten, mit Medienkampagnen zu begleiten, andere zu mobilisieren und gleichzeitig kurzfristig Strukturen aufzubauen und am Laufen zu halten – wenn dabei kaum neue tragfähige Organisationsformen entstehen und die Aktiven danach oft auch noch ausfallen, weil sie ihr Burnout kurieren müssen, ist die Bilanz negativ.“

Eine langfristigere bessere Alternative ist dann die Unterstützung bei solidarischen Netzwerken in Stadtteilen, in denen Linke wohnen und an Arbeitsstellen, in denen sie selber schuften. Dort lernen sie die Probleme der Nachbar*innen und ihre eigenständig entwickelten Bewältigungsstrategien kennen. Hier kann die Linke zuhören und lernen. Doch sie hätte auch eine wichtige Rolle, um eine kämpferische Stadtteilarbeit zu einem Kampf um eine ganz andere Gesellschaft zu transformieren.

Ein Beispiel ist der vom Lower Class Magazine lancierte Vorschlag einer Rätestruktur, die aus den Räten im Stadtteil, am Arbeitsplatz und im Jobcenter entstehen könnte. Denn es ist klar: wer „seinen“ Hauseigentümer*innen oder Chef*innen nicht Paroli bieten kann, wird auch kaum an einer emanzipatorischen Gesellschaftsveränderung arbeiten. „Dein Boss braucht Dich, Du brauchst ihn nicht.“

Diese Erkenntnis wurde von Kolleg*innen im Streik entwickelt.

Peter Nowak

Peter Nowak gibt demnächst gemeinsam mit Matthias Coers bei der Edition Assemblage das Buch „Umkämpftes Wohnen – Neue Solidarität in den Städten“ heraus, das Aktivist*innen sozialer Netzwerke in verschiedenen Ländern vorstellt und zu Wort kommen lässt.

Dies ist ein Beitrag aus der monatlich erscheinenden Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier