Transnationales

Frankreichs verschärftes Demonstrationsgesetz

Auch in Frankreich gibt es neue Polizeigesetze

| Lou Marin, Marseille

Frankreichbeitrag
Foto: Olivier Ortelpa (CC BY 2.0) via flickr.com

Die neuen Polizeigesetze, die in Bayern und Nordrhein-Westfalen durchgesetzt wurden (die GWR berichtete) und dem präventiven Eingreifen des Staates vor jeder Protestaktion erweiterten Raum verschaffen, finden derzeit ihr Pendant in Frankreich im neuen Gesetz zur sogenannten „Vorbeugung von Gewalttaten während Demonstrationen und zur Bestrafung der Ausführenden“ – im Volksmund „loi anti-casseurs“ genannt.

Der Begriff „Casseurs“ (wörtlich: „Zerbrecher“ oder „Zerschlager“) ist im Deutschen mit „Randalierer“ nur ungenügend übersetzt. „Casser“ bezieht sich vom Wortsinn her klar auf die Zerstörung von Sachen, wird aber in Frankreich von kaum jemand so verstanden. Für Staat, Medien und bürgerliche Öffentlichkeit sind die „Casseurs“ immer Gewalttäter, die Polizist*innen angreifen und gleichzeitig Sachen zerstören – was wiederum auch allgemein unter dem Begriff „violence“ (Gewalt) gefasst wird. Doch auch unter den Protestierenden, in den letzten Wochen vor allem den „Gelbwesten“, wird das in dieser Verbindung verstanden: Es wird fast nie versucht, eine prinzipielle Unterscheidung zwischen bewusster Sachbeschädigung gegen neoliberale Einrichtungen, etwa gegen Bankfilialen, und Angriffen auf Personen, vor allem Polizist*innen, zu treffen.

Auch diejenigen, die ihre Aktionen öffentlich als „pazifistisch“ begreifen und benennen („on reste pacifiquement“), u.a. auch die „Gelbwesten-Frauen“, die Sonntags gegen die männliche Dominanz bei den militanten Auseinandersetzungen auf die Straße gingen, machen diese Unterscheidung nicht. Auch sie begreifen Sachbeschädigungen ihrerseits als „violences“. Diese begriffliche Vermischung zeigt, wie wenig eine Kultur der direkten gewaltfreien Aktion und des zivilen Ungehorsams in Frankreich verbreitet ist, und erleichtert es den Staatsbehörden, eine öffentliche Legitimierung für ihr Gesetz „anti-casseurs“ durchzusetzen. Dabei werden sie unterstützt von den sogenannten „Foulards rouges“ (Rote Schals), Mittel- und Oberschichts-Demonstrant*innen für Law and Order, die gegen die „Gelbwesten“ aufmarschieren.

Begünstigt wurde die neue repressive Gesetzgebung in den letzten Wochen durch die Mobilisierungen der „Gelbwesten“, die auf einem geringeren Niveau als in den Wochen vor Weihnachten stattfinden (ca. 60-80.000 im Januar und Februar im Gegensatz zu 150-200.000 im November und Dezember). Dadurch war die Macron-Regierung nicht mehr zu sozialen Zugeständnissen gezwungen, sondern verschärfte im Bewusstsein der zurückgegangenen Beteiligungszahlen Polizeibrutalität und Repression.

Enteignung der Judikative zu Gunsten der Exekutive

Das französische Parlament beschloss am 5. Februar 2019 die folgenden Verschärfungen im Demonstrationsrecht (1):

Im Artikel 1 kann die Staatsanwaltschaft die Durchsuchung von Personen im Vorfeld einer Demo verfügen; sie kann die Durchsuchung von Taschen, Rucksäcken und Fahrzeugen am Rande einer Demo verfügen, um als „Waffen einsetzbare Gegenstände“ zu beschlagnahmen. Dazu können benzinhaltige Flaschen, aber auch Hämmer oder Boulekugeln und Alltagsgegenstände gehören.

Nach Artikel 2 kann der Präfekt nach Vorbild des geltenden Verfahrens bei Stadionverboten gegen Fußball-Hooligans Demo-Verbote von maximal einem Monat Dauer gegen Individuen aussprechen, die „aus ernsthaften Gründen zum Denken“ Anlass geben, dass sie „die öffentliche Ordnung auf besonders starke Weise gefährden“.

Nach Artikel 3 werden solche Personen, gegen die Demo-Verbote ausgesprochen wurden, in einer speziellen Datei erfasst. Ungeklärt ist, ob und wann diese Daten wieder gelöscht werden.

Artikel 4 betrifft eine Verschärfung des in Frankreich bereits geltenden Vermummungsverbots, ganzer oder teilweiser Art oder auch mit Helm: Dieses wird nun von einer Ordnungswidrigkeit mit geringem Bußgeld zu einer Straftat hochgestuft, die mit bis zu einem Jahr Knast und mit bis zu 15.000 Euro Strafe belegt werden kann.

Artikel 5 führt das Prinzip des umfassenden Schadenersatzes für Sachbeschädigung ein: Für Sachbeschädigung verurteilte Personen können gezwungen werden, den Schaden bis zur Gesamtsumme des kollektiv verursachten Schadens zu bezahlen.

Gegen diese Gesetzesverschärfungen haben sich nicht nur Anarchist*innen und andere Linke ausgesprochen, der öffentliche Widerspruch geht bis weit ins bürgerliche Lager und in das Anwaltsmilieu hinein. Selbst der bisher Macron nahe stehende Anwalt François Sureau hat von einer Verlagerung der Entscheidung hin zur Exekutive und von einem Ausschalten judikativer Funktionen des Gerichts oder der Untersuchungsrichter gesprochen: „Man sagt da, dass ein Regierungsangestellter [der Präfekt; d.A.] ein Verbot aussprechen kann, wenn jemand ‚aus ernsthaften Gründen zum Denken’ von etwas Anlass gibt. Und man sagt, dass da ein Richter, selbst im Eilverfahren, nur ein Hindernis darstellt. (…) Dadurch ist nun aber alles möglich. Anscheinend kommt hier niemand auf den Gedanken, dass der Präfekt eben nicht selbst ‚denkt’. Sondern er denkt, was die Regierung ihm zu denken vorgibt.“ Sureau kommt beim Gesetz zu dem Ergebnis: „Man will hier die Demos eindämmen, nicht die Gewalttaten. Der Bürger soll eingeschüchtert werden, nicht der Straftäter.“ (2) Schon für die Notstandsgesetze nach den islamistischen Terroranschlägen 2015-2017 war typisch, dass Rechte der Judikative beschnitten oder zurückgedrängt und in den Machtbereich der Exekutive verlagert wurden.

Erneut viele Verletzte durch Polizeigranaten – aber auch antisemitische Ausfälle

Derweil ging die Polizei an den letzten Wochenenden mit ihren aus dem Militär stammenden Gummigeschossen, den sogenannten LBD40 (Lanceurs de Balles de défense) oder auch den Offensivgranaten zur Zerstreuung von Ansammlungen (grenade de désencerclement), ihrerseits brutal vor. Jérôme Rodriguez wurde am 25. Januar beim Filmen eines Polizeieingriffs von einer Zerstreuungsgranate am Auge getroffen und wird wahrscheinlich halbseitig erblindet bleiben. (3) Am 9. Februar wurden einem Demonstranten durch eine ebensolche Granate vier Finger abgerissen, als die Polizei auf ihn und andere schoss, die vor dem Parlament Absperrgitter einreißen wollten. (4)

Auf Anfrage der Tageszeitung „Libération“ nannte das Innenministerium Anfang Januar eine Zahl von ca. 50 Schwerverletzten unter den insgesamt angegebenen 1700 verletzten „Gelbwesten“ und eine kaum nachprüfbare Zahl von 3000 Verletzten insgesamt (Demonstrant*innen und Polizei) seit Beginn der Proteste Mitte November 2018. (5) Der kritische Journalist David Dufresne hat angefangen, Meldungen über Verletzungen zu sammeln, um eine Bilanz zu erstellen. Zusammen mit der linken Medienplattform „Mediapart“ hat er bisher 337 Verletzungsfälle aufgelistet, davon einen Todesfall, 152 Kopfverletzungen, 17 Fälle gravierender Augenverletzungen – und vier Fälle abgerissener Hände, noch vor dem Vorfall am 9. Februar. (6)

Der Rückgang der Beteiligtenzahlen bei den Demos der „Gelbwesten“ macht deren neofaschistische, von Verschwörungstheorien und Antisemitismus geprägte Minderheit sichtbarer. Am 16. Februar wurde der konservative Philosoph Alain Finkielkraut auf der Straße explizit als Jude von „Gelbwesten“ mit folgenden Diffamierungen angegangen: „Frankreich gehört uns!“, „Dreckiger Scheiß-Zionist, hau ab!“, „Palästina!“, „Geh heim nach Israel!“, „Nach Tel Aviv, nach Tel Aviv!“, „Du wirst sterben!“, „Du wirst zur Hölle fahren!“, „Gott wird dich bestrafen!“ Dabei befürwortet Finkielkraut in Bezug auf Israel/Palästina sogar eine Zwei-Staaten-Lösung, aber das interessiert die Diffamierer nicht weiter. Das ist nur die Spitze eines Eisbergs, sowohl aus dieser Bewegung als auch in ganz Frankreich. 2018 sind die registrierten antisemitischen Akte in Frankreich gegenüber 2017 um 74% gestiegen.

Lou Marin, Marseille

Anmerkungen:

(1): Vgl. Marie Astier: Les députés ont voté pour limiter la liberté de manifester, in: Website Reporterre, 5.2.2019, siehe: https://reporterre.net/Les-deputes-ont-vote-pour-limiter-la-liberte-de-manifester

(2): Solenn de Royer: Interview mit François Sureau: „C’est le citoyen qu’on intimide, pas le délinquant“, in: Le Monde, 5.2.2019, S. 10.

(3): Vgl.: https://www.lesinrocks.com/2019/01/27/actualite/societe/le-temoignage-de-jerome-rodrigues-le-gilet-jaune-blesse-loeil-bastille-111162335/

(4): Christine Ollivier: Gilets jaunes: un blessé grave au cours de l’acte XIII, in: Le Journal du Dimanche, 10.2.2019, S. 10.

(5): Angaben nach Silvia Stöber: Das Schweigen über die Verletzungen, in: ard-Website, 9.2.2019.

(6): Angaben nach Website der Tageszeitung Le Figaro, 26.1.2019.

Dies ist ein Beitrag aus der monatlich erscheinenden Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier