Clara Wichmann. Vom revolutionären Elan. Beiträge zu Emanzipationsbewegungen 1917-1922. Mit einer biografischen Einleitung, übersetzt aus dem Niederländischen und herausgegeben von Renate Brucker, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2018, 180 Seiten, 14,90 Euro, ISBN 978-3-939045-36-6
Die Geschichte der politischen Ideen von Frauen am Anfang des 20. Jahrhunderts wird oft so dargestellt, als hätten sich damals Frauenrechtlerinnen und Sozialistinnen gegenüber gestanden, wobei die einen sich nur für die Gleichstellung innerhalb bürgerlicher Verhältnisse engagiert hätten und die anderen Frauenrechte dem Klassenkampf unterordneten. Dass diese Sicht zumindest sehr verengt ist, zeigt das Beispiel der deutsch-niederländischen Juristin, Philosophin und Anarchistin Clara Wichmann. Ihre in dem Band „Vom revolutionären Elan“ versammelten Texte aus den Jahren 1917 bis 1922 zeigen, wie aus der Reflektion über Ungleichheiten – auch, aber nicht nur zwischen Geschlechtern – Erkenntnisse für politischen Aktivismus entstehen und dass Feminismus und Sozialismus einander nicht nur ergänzen können, sondern letzten Endes ein und dasselbe sind.
Clara Wichmanns Aufsätze gehen häufig von aktuellen Ereignissen aus und bieten dann eine philosophische Tiefenanalyse der dahinter liegenden symbolischen Ordnung. Das macht ihre Gedanken auch für heute äußerst aktuell: Wenn sie etwa darüber schreibt, warum Evolution und Revolution sich nicht widersprechen, sondern Revolutionen sich über Jahre hinweg langsam vorbereiten etwa, oder wenn sie auf strukturelle Ungerechtigkeiten im Justizsystem hinweist, wenn sie über die „Psychologie der Revolution“ nachdenkt oder erklärt, worin das Problem der SPD liegt (sie kann nur in wirtschaftlichen Boom-Zeiten etwas erreichen und ist strukturell nicht in der Lage, wirklich Konflikte mit dem Kapitalismus auszutragen). Wichmann wendet sich gegen Machtpolitik auch in eigenen Organisationen, vertritt ein Freiheitsverständnis, das „nicht Ungebundenheit, sondern Selbstbestimmung“ meint, und tritt für eine wirklich „freie Liebe“ ein, was für sie mehr bedeutet als bloß die Abschaffung der Monogamie.
Hilfreich ist, dass der Aufsatzsammlung eine ausführliche biografische Einführung von Renate Brucker vorangestellt ist. Clara Wichmann wurde 1885 als Kind deutscher Eltern geboren, ihre Mutter war Schriftstellerin und Künstlerin, ihr Vater Geologieprofessor in Utrecht. Sie studierte Geschichte und Jura, worin sie promovierte, gab aber nach kurzer Zeit ihre Arbeit als Anwältin auf – es entspreche ihr nicht, sich „auf die Seite je einer Partei zu stellen“. Stattdessen arbeitete Wichmann als Angestellte im statistischen Zentral-Büro in Den Haag und als Dozentin an der Internationalen Schule für Philosophie in Amersfoort. 1907 gründete sie die Utrechter Abteilung des Niederländischen Bundes für das Frauenwahlrecht, 1911 gehörte sie zu den Gründerinnen der Zeitschrift „Die Frau im 20. Jahrhundert“, sie war Mitautorin eines Handbuches über die Frauenbewegung und die Frauenfrage und engagierte sich ab 1918 im Revolutionär-sozialistischen Frauenbund. Leider endete ihr so vielfältiges Schreiben und Schaffen abrupt, als sie 1922, im Alter von nur 36 Jahren, bei der Geburt ihres ersten Kindes starb.
Antje Schrupp