Meinhard Creydt: Die Armut des kapitalistischen Reichtums und das gute Leben. Ökonomie, Lebensweise und Nachhaltigkeit, Oekom-Verlag, München, Oktober 2017, 212 Seiten, 19 Euro, ISBN 978-3-96238-004-5
Meinhard Creydts Buch „Die Armut des kapitalistischen Reichtums und das gute Leben“ liefert neue Impulse für die Diskussion über zentrale Fragen der Nachhaltigkeitsdiskussion: Was sind die objektiven Ursachen für die ökologische Krise? Welche Mentalitäten und Ideologien fördern sie? Warum kann sich Nachhaltigkeit so wenig durchsetzen? Zugleich wendet sich Creydt gegen die These z. B. von Naomi Klein und Sabine Leidig, der Klimawandel sei das Thema, das zur entscheidenden Veränderung der Welt führen könne. „Wer sich auf die Bedingungen des Lebens fokussiert, tut sich oft schwer, die Ursachen für deren Ruinierung in den Blick zu bekommen. Denn dafür ist es erforderlich, dem Inhalt eines solchen Lebens auf seinem eigenen Terrain zu Leibe zu rücken, der dafür sorgt, dass – auch – seine Bedingungen unter die Räder kommen. Nicht nur die Übernutzung natürlicher Ressourcen ist zu thematisieren, sondern auch die soziale Energieverschwendung, nicht nur die Umweltverschmutzung, sondern auch die Innenweltverschmutzung, nicht nur die Erwärmung der Erde, sondern auch das Klima in den Betrieben und Organisationen sowie in den sozialen Beziehungen. Gutes Leben ist nicht nur emissionsärmer und energiesparender“ (180).
Die vorliegende Darstellung der Zusammenhänge zwischen kapitalistischer Ökonomie und Lebensweise unterscheidet sich von populären Charakterisierungen wie „Haben statt Sein“, „Konsumismus“ oder „Wachstumswahn“. Creydt bringt die rationalen Momente und die massiven Mängel dieser Problemdiagnosen fair auf den Punkt. Kapitalismuskritik beschränkt sich meist auf Klagen über Ungerechtigkeit, Sozialstaatsabbau und „Umverteilung von unten nach oben“. Vorstellungen über Alternativen zum Kapitalismus verbleiben oft im Horizont einer anderen Wirtschaftspolitik.
Creydts Buch geht andere Wege. Der Autor analysiert z. B. die Grenzen von Preisen. Als unterkomplexe Informationskonzentrate vermögen sie die Schädigungen menschlicher Physis und Psyche sowie der Natur nicht darzustellen. Um den Stellenwert von Märkten zu verringern, sei das Wirtschaften mit Umweltbilanzen, Stoffstromanalysen und Technikfolgenabschätzungen zu durchziehen. Als Beispiele für die auszubauenden und weiter zu entwickelnden qualitativen Indikatoren nennt der Autor MIPS (Materialintensität pro Serviceeinheit) und den DGB-Index für gute Arbeit. Creydt lässt sich auf die Argumente für die kapitalistische Marktwirtschaft ein und prüft sie und ihre Maßstäbe. Beispiele dafür sind Fragen wie „Erlahmen ohne Konkurrenz Motivationen für sinnvolle Neuerungen?“ und „Ist die kapitalistische Ökonomie effizient?“ Der Autor zeigt, dass nicht erst die Verteilung des Reichtums Anlass zu grundlegenden Zweifeln gibt, sondern bereits dessen stofflicher Inhalt. Viele der angebotenen und nachgefragten Waren, wie z. B. das Auto und das Eigenheim, sind nicht nur unökologisch, sondern befördern massiv problematische Entwicklungen der Lebensweise.
Creydt geht den Wirkungen des Marktes, der Konkurrenz, des Privateigentums, der betrieblichen Hierarchien und der Kapitalakkumulation nach. Er zeigt, wie der kapitalistischen Marktwirtschaft ihre Erfolge durch vergleichsweise preiswerte Produktion und Produkte nur deshalb gelingen, weil in ihrer Rechnungsweise viele ihrer problematischen Effekte nicht zählen. Ökologisch schädliche Externalisierungen bilden die vielleicht prominenteste Teilmenge dafür. Im Unterschied zur populären Reduktion von Kapitalismuskritik auf Kritik an der „Dominanz des Finanzkapitals“ verortet Creydt die „Schwindelblüte“ der kapitalistischen Ökonomie tiefer. Ihm geht es um eine Bilanzierung des Wirtschaftens, die deren Wirklichkeit komplett in den Blick bekommt. Wirklich ist, was wirkt. Die Fragen lauten also: Was „machen“ das Arbeiten, die Produkte, die mit Arbeit, Konsum und Märkten verbundenen Marktbeziehungen mit der Subjektivität der Individuen und mit ihrer Lebensweise?
Wer die „Effektivität“ des kapitalistischen Wirtschaftens lobe, lege sich keine Rechenschaft von ihren umfassend verstandenen und gegenwärtig verschwiegenen Kosten ab. Um das zu vergegenwärtigen unterscheidet der Autor sieben Dimensionen der Entfaltung von menschlichen Sinnen, Fähigkeiten und Reflexionsvermögen. Sie entwickeln sich z. B. im Arbeiten, in der Auseinandersetzung mit Gegenständen außerhalb der Arbeit (also im Umgang mit ihnen oder in ihrer Rezeption), in Sozialbeziehungen und in der Gestaltung der Gesellschaft durch ihre Mitglieder. Creydt beschreibt „die Auswirkungen der kapitalistischen Marktwirtschaft auf zentrale Dimensionen des Lebens“. Zum Thema wird z. B., „was den Individuen erschwert, sich ihre Realität zu vergegenwärtigen“, wie „das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein verstimmt“ und in welche „Gegensätze und Widersprüche die Individuen notwendigerweise im Kapitalismus geraten“. Bei der Frage, „was die für die Menschen wesentliche Selbstwirksamkeit beeinträchtigt“, zeigt der Autor, wie problematisch die Konzentration vieler Menschen darauf ist, in ihrer Arbeit individuell Momente der „Selbstverwirklichung“ erleben zu können, wenn dafür die sozialen Kontexte der Arbeit ausgeblendet werden müssen. Creydt zitiert hier als Extrembeispiel, „von dem Licht und Schatten auf weniger radikale, aber weiter verbreitete Phänomene fallen“ (156), Enrico Fermi, einen der maßgeblich an der Entwicklung der Atombombe beteiligten Wissenschaftler: „Lasst mich in Ruhe mit Euren Gewissensbissen, es ist so schöne Physik.“
Dem Autor geht es nicht vorrangig um eine Berücksichtigung der unterschlagenen Kosten, sondern um ein Wirtschaften, das die Schädigungen nicht hervorbringt und schon gar nicht sie zum Anlass für Problemvermarktung macht. „Je kranker eine Gesellschaft, um so größer die Anzahl von Institutionen zur Behandlung der Symptome und umso weniger sorgt man sich um eine Veränderung des Lebens insgesamt“ (Tolstoi). Die Alternative dazu könne nur in einer Transformation des für die Gesellschaft praktisch maßgeblichen Verständnisses von Reichtum bestehen. Eine der „Kernspaltungen“ der Bevölkerung, die Creydt beschreibt, besteht in der mit der Marktwirtschaft verbundenen Gleichgültigkeit zwischen Produzenten und Konsumenten. Viele Linke beklagen die Grenzen des Lohns, die ihm insofern gesetzt sind, als er am Maßstab der Kapitalverwertung gemessen wird. Für die Entwicklung menschlicher Sinne, Fähigkeiten und Reflexionsvermögen in der Arbeit gelte in der kapitalistischen Moderne der Maßstab: So wenig wie nötig (insofern Qualifikationen kosten), so viel wie nötig (um Güter und Dienstleistungen zu schaffen). Selbst ein hoher Lohn könne die Lohnabhängigen aber nicht für das entschädigen, was ihnen die Lohnarbeit nimmt. Arbeit im Sinne des guten Lebens heiße: Die Arbeit ist nicht allein Mittel zur Produktion eines Gebrauchswerts, sondern auch eine zentrale Realität, in der sich die Sinne, Fähigkeiten und Reflexionsvermögen der Arbeitenden bilden. Dieser Begriff von Arbeit als Moment des guten Lebens umfasst zudem die gemeinsame Auseinandersetzung darüber, wie das Arbeiten und die Arbeiten die Lebensweise entwickelt. Gemeint ist die Lebensweise der Arbeitenden, Kunden und der von Arbeit und Konsum mittelbar Betroffenen.
Creydt formuliert im letzten Teil seines Buches einen Begriff der anzustrebenden Lebensqualität. Die verschiedenen Momente des guten Lebens fordern und verstärken sowie korrigieren sich gegenseitig. Der Autor vermag mit dem Begriff des guten Lebens instruktiv in verschiedene Debatten einzugreifen. Ein Beispiel dafür ist die These vom Gegensatz zwischen einem vermeintlich „männlich-instrumentellen“ Arbeitsbegriff und einer angeblich eher konvivial-interaktiven „weiblichen“ Sorgetätigkeit. Das Konzept der widerspruchsvollen Einheit der sieben Momente des guten Lebens bildet ein Modell dafür, das auseinanderstrebende Ganze zu re-integrieren – ohne Trivialisierung und Simplifizierung. Die Partialtriebe der verschiedenen Rationalitäten lassen sich einer übergreifenden Aufmerksamkeit ein- und unterordnen, ohne das legitimer weise ausdifferenzierte Besondere einem reduktiven Allgemeinen zu opfern. Creydts These lautet: Ohne eine Integration der vielen Teilkritiken und ohne ihre positive Artikulation im Konzept des „guten Lebens“ kann es keine grundlegende Veränderung geben. Die gegenwärtige Gesellschaft an ihren Maßstäben und Idealen zu messen reiche nicht aus. Das Engagement für Nachhaltigkeit, so umfassend es ist, müsse eine weiter reichende Aufmerksamkeit für die „Stärken“ der gegenwärtigen Gesellschaft und für Hindernisse gegenüber ihrer Transformation entwickeln. Sonst bleibe es bei einem Ein-Punkt-Thema, das alles in der Gesellschaft auf den eigenen Dreh- und Angelpunkt bezieht. Nicht in den Blick geriete dann, warum das vermeintlich so Evidente – hier: Nachhaltigkeit (zur Zeit der großen Friedensbewegung war es die Abrüstung) – sich nicht durchsetzen lässt. Für alle substanziellen Veränderungen – auch in Richtung Nachhaltigkeit – sei entscheidend, wie sich nicht nur die Schadensursachen, sondern auch die Gründe für die Akzeptanz der herrschenden Rechnungs- und Denkweisen überwinden lassen. Dafür müssen gesellschaftliche Strukturen und Lebensweisen infrage gestellt werden. Dies werde nicht allein aus Motiven der Nachhaltigkeit geschehen können.
Das Buch ist in 65 Kapitel gegliedert und kommt insofern Kurzstreckenlesern entgegen. Die Darstellungsweise entspricht der eines verständlichen und alles andere als drögen Sachbuchs. Gut gewählte Beispiele lockern den Text auf und verdeutlichen die Argumentation. Creydt macht einleuchtend klar, warum grundlegend verändertes Nachdenken über vermeintlich Bekanntes nottut.
Wilhelm Eckardt