Jürgen Bruhn: Weltweiter ziviler Ungehorsam. Die Geschichte einer gewaltfreien Revolution, Tectum Verlag, Baden-Baden 2018, 192 Seiten, 19,95 Euro, ISBN 978-3-8288-7018-5
Jürgen Bruhn ist ein Fan des gewaltfreien Widerstands. Dieser habe eine Wichtigkeit, Bedeutung und „historische Tradition, die untrennbar mit der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Demokratie und des Rechtsstaates verbunden ist“. Aus diesem Grund besteht sein Buch zum größten Teil aus einem geschichtlichen Abriss, einer Ahnengalerie des zivilen Ungehorsams (Kapitel 1 bis 8): Henry David Thoreau, Mahatma Gandhi, Bertrand Russell, Albert „Chief“ Luthuli, Martin Luther King Jr., die Friedensbewegung, die NGOs (bei Bruhn: NROs) ab den 1970er Jahren, der indigene gewaltfreie Widerstand. Dabei verwendet Bruhn die Begriffe „gewaltfreier Widerstand“ und „ziviler Ungehorsam“ mehr oder weniger synonym. Es sei der „gewaltfreie Widerstand, der als Begriff und Aktion den zivilen Ungehorsam“ einschließe.
Der zivile Ungehorsam beginnt bei Bruhn mit Henry David Thoreau und geht dann chronologisch vorwärts. Das ist vielleicht nicht ganz konsistent, da erst weiter hinten im Buch, in Kapitel 8, auch der gewaltfreie, zivile Ungehorsam der Sioux-Indianer erwähnt wird. Die Hunkpapa-Sioux haben 2016 darauf hingewiesen, „dass die Standing Rock Reservation eine alte Tradition des zivilen Ungehorsams gegen die US-Regierung vorweisen könnte“, nämlich in Form des „Geistertanzes“. Das war im Winter 1890, und endete im Massaker am Wounded-Knee-Fluß. Legendär ist Thoreaus Essay „On the Duty of Civil Disobedience“, welches große Wirkung erzielte, und zum Beispiel „einen maßgeblichen Einfluss auf viele nordstaatliche Gesetzgeber in Washington“ hatte. Manche Zitate von Thoreau sind brandaktuell und zeitlos: „Mach dein Leben zu einem Gegengewicht, um die Maschine aufzuhalten.“ Oder zu der großen Masse an Menschen, die nichts tun: „Es sind Menschen, für die die Frage der Freiheit hinter der des Freihandels zurücktritt.“
Mahatma Gandhi hat Thoreaus Ungehorsamsschrift aufgegriffen und um Elemente aus der Bhagavad-Gita erweitert, bei denen es um das „Festhalten an der Wahrheit“ und „Ehrfurcht vor dem Leben“ geht. Sowohl in Südafrika als dann auch später in Indien hat er regelrechte Trainingszentren eingerichtet, in denen den Landsleuten gewaltfreier ziviler Ungehorsam beigebracht worden ist. Es ging ihm nicht darum, seine Gegner zu verletzen oder zu demütigen. Gewaltlosigkeit bedeute „niemals feige Unterwerfung unter den Willen des Ungerechten“. Gandhi forderte von allen Beteiligten viel, denn sie „mussten Willens sein, für ihren Rechtsbruch der britischen Gesetze die Konsequenzen zu tragen“. Eindrucksvoll finde ich auch folgende Szene in Indien, aus der hervorgeht, was für ein Mut für die gewaltfreien Aktionen erforderlich ist:
„Gruppe für Gruppe der Ungehorsamen marschierte diszipliniert und ohne jeglichen Widerstand zu leisten […] und mit erhobenen Köpfen und ohne eine Möglichkeit, Verletzung oder Tod zu entgehen […] in die Wellen der Polizisten hinein, die sie methodisch und mechanisch niederschlugen.“
Beim Kampf gegen die Apartheid in Südafrika war der durch Mahatma Gandhis Philosophie inspirierte Albert „Chief“ Luthuli die treibende Kraft. Da er bereits 1967 starb, ist sein Mitkämpfer Nelson Mandela wesentlich bekannter geworden. Dabei war wichtig, „dass das System als solches, die Apartheid, nicht jedoch die einzelnen Mitglieder der Herrschenden bekämpft würden“. Und auch bei Martin Luther King, der Gandhis „taktisches Vorgehen des gewaltfreien Widerstands auf die USA übertragen wollte“, war Gewaltlosigkeit essentiell, „schließlich gehe es um ‚Versöhnung mit den Weißen und nicht um umgekehrten Rassismus‘“.
Lebendig geschrieben ist das Kapitel über die Friedensbewegung, von der Bruhn selbst Teil war, damals Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre in Kalifornien. Im Kapitel über NGOs geht Bruhn auf die neuere Geschichte ein. Gerade auch die Anti-Globalisierungs-Demos, die Weltsozialforen, Occupy und Blockupy. Ob Greenpeace durch die Entwicklung eines FCKW-freien Kühlschranks in einem ehemaligen DDR-Kühlschrankkombinat wirklich und alleine „die Ozonschicht und damit das Leben auf der Erde gerettet“ hatte, wage ich aber zu bezweifeln.
Bei der Demo anlässlich der Eröffnung des neuen Gebäudes der EZB in Frankfurt am Main am 18. März 2015 hält sich Bruhn nicht mehr an die Wahrheit. So meint er, dass sie die erste große Blockupy-Protestdemonstration gewesen sei. Dabei gab es bereits große Blockupy-Demonstrationen in den Jahren 2012 und 2013. Bruhn schreibt zum Morgen des 18. März: „Alles lief friedlich ab“. Am Römerberg begann nachmittags die Blockupy-Großdemonstration, „um das gesamte umzäunte EZB-Gelände zu blockieren. Dabei kam es […] zu gewalttätigen Ausschreitungen.“ Beides ist falsch. Da ich als unmittelbarer Nachbar der EZB nur fünfzig Meter nebenan wohne und an diesem Tag bereits um 7 Uhr morgens auf den Beinen war, habe ich einiges mitbekommen. Um diese frühe Morgenstunde waren bereits die meisten Ausschreitungen, wie abgebrannte Autos oder eingeschmissene Fensterscheiben von Banken und Straßenbahnhaltestellen, passiert. Auch am Vormittag gab es gelegentliche gewalttätige Ausschreitungen, dabei wurden Flaschen und andere Gegenstände auf die Polizei geworfen. Dagegen war die eigentliche Demo, die am Nachmittag am Römerberg begann, und bis zur Alten Oper ging (und nicht zur EZB!) friedlich, sie wurde aber von der Polizei umzingelt und abgeriegelt. Warum sich Bruhn hier nicht an die Fakten hält, ist mir schleierhaft. Denn letztendlich folgert er aus diesem Tag: „Das Problem, dass gewaltbereite Autonome immer wieder gewaltfreie Demonstrationen und Protestaktionen von zivilen Ungehorsam Ausübenden überschatten, konnte bisher nicht gelöst werden.“
Eine Abweichung von der Tradition des zivilen Ungehorsams in der Geschichte gab es bei Bertrand Russell, der einräumte, dass nur ein bewaffneter Widerstand gegenüber Hitler und den Nazis etwas bewirken konnte. Bruhn geht auch auf Abweichungen des zivilen Ungehorsams ein, bei denen entweder „Gewalt gegen Sachen“ oder aber auch Gewalt gegen Menschen eingesetzt wurde. John Brown befürwortete „Gewalt gegen Sachen“, konnte damit aber seinen Zeitgenossen Thoreau nicht überzeugen. Auch „King distanzierte sich von Anfang an von den militanten schwarzen Führern.“ Die beiden Brüder Daniel und Philip Berrigan, die bei der US-amerikanischen Friedensbewegung eine große Rolle gespielt haben, lehnten Gewalt gegen Menschen völlig ab, befürworteten aber eine „symbolhafte Gewalt“ gegen Sachen. Das Hauptanliegen, das Bruhn mit diesem Buch verfolgt, ist, gegen Raubtierkapitalismus und Klimawandel aktiv zu werden.
Der geschichtliche Abriss mit vielen Beispielen erfolgreichen zivilen Ungehorsams diene ihm letztendlich dazu, „zu zeigen, dass dann, wenn diese Formen [zivilen Ungehorsams] damals erfolgreich waren, sie es auch heute wieder sein könnten“. Eine darauf aufbauende Strategie entwickelt Bruhn im abschließenden neunten Kapitel. Dabei greift er auf Naomi Kleins „Entweder Klima oder Kapitalismus“ (siehe auch meine Buchbesprechung zu Naomi Klein, „Die Entscheidung. Kapitalismus vs. Klima“ in der Graswurzelrevolution Nr. 404) zurück, das er als ein Leitmotiv verstanden haben möchte. Der Begriff (finanzmarktgetriebener) Raubtierkapitalismus wird in diesem Buch inflationär verwendet. Der Ausdruck stammt übrigens von Altkanzler Helmut Schmidt, wie Bruhn an einer Stelle anmerkt.
Bruhn geht auf vieles ein, was schon hinlänglich bekannt ist. Dass es der Politik und der Wirtschaft um den Erhalt von Strukturen der konventionellen Energieversorgung geht. Dass die fossilen Energien immer noch immense Profite abwerfen. Dass die Lehre vom ständigen unbegrenzten Wachstum eine (der totalitärsten) Ideologie(n) ist. Dass das 2-Grad-Ziel „längst zu einem Ersatz für wirklich politisches Handeln geworden“ ist. Dass die Politik sich „als Reparaturwerkstatt des internationalen Finanzkapitalismus“ erwiesen hat, indem sie 2008/2009 die Banken rettete. Dass wir uns als einzelne Individuen auch selbst ändern müssen.
Wichtiger ist Bruhns Zusammenstellung einiger „denkbare[r] Instrumente eines weltweiten zivilen Ungehorsams“:
1.) Desinvestmentkampagnen, um fossile Energien wertlos zu machen.
2.) Bürgerinitiativen, Volksbefragungen und Volksentscheide, zum Beispiel eine „demokratisierte, dezentrale, in Bürgerhand sich befindende Stromversorgung“.
3.) Steuerboykott.
4.) Wahlboykott.
5.) Konsumverweigerung, Produktstreik und Produktumstellung.
6.) Der langandauernde Generalstreik.
Einige dieser Instrumente werden durchaus schon erfolgreich eingesetzt. Aber einen langandauernden Generalstreik hat es „bisher in seiner Totalität“ noch nicht gegeben. Bruhn sieht solche Maßnahmen, wie zum Beispiel „Gesetze, die die neoliberale Wachstumswirtschaft beschützen, zu brechen“, dadurch legitimiert, dass Umweltzerstörungen und der Klimawandel unser Leben bedrohen. Wir sollten uns dabei „auf die Menschenrechtsgarantien des Grundgesetzes […] berufen“.
Das spannend geschriebene Buch, das jeden Einzelnen dazu aufruft, aktiv zu werden, und immer wieder gegen Herrschaft agitiert, endet mit einem deftigen Seitenhieb auf Donald Trump: „Diese US-Politik ist ein Verbrechen an der Zukunft der Menschheit. Wieder müssen wir wie zu Präsident Reagans Zeit gegen eine ‚geistig behinderte‘ US-Administration mit Methoden des zivilen Ungehorsams ankämpfen.“
Peter Oehler