P. V. Rajagopal: „Reise in ein anderes Indien. Gewaltfrei für Landreformen und soziale Gerechtigkeit“. Übersetzt von Karl-Julius Reubke. Draupadi Verlag, Heidelberg 2019, 198 Seiten, 19,80 Euro, ISBN 978-3-945191-33-0
Wenn in diesem Jahr die indische Landrechtbewegung Ekta Parishad ihren zehntausend Kilometer langen und zwölf Monate dauernden Fußmarsch von Delhi nach Genf zum Sitz der UNO beginnt, dann werden die Menschen in Europa wahrscheinlich wegen dieser außergewöhnlichen Protestform aufhorchen. Der Landraub großer Konzerne hat in den letzten Jahrzehnten dramatische Ausmaße angenommen und zu einer Massenverelendung unter den etwa 200 Millionen Adivasis (UreinwohnerInnen) und Dalits („Unberührbare“) in Indien geführt. Seit über 25 Jahren wehren sich zehntausende Landlose mit aufsehenerregenden Fußmärschen gegen diese Ungerechtigkeiten und knüpfen damit an eine gewaltfreie Massenmobilisierung an, die Gandhi mit seinem Salzmarsch im Jahre 1930 bereits praktiziert hat. In den Ausgaben 374, 391, 392 und 393 berichteten und diskutierten wir in der Graswurzelrevolution hierüber. P.V. Rajagopal, der Mitbegründer dieser Bewegung, hat zwölf Monate vor dem Marsch der Hunderttausend von Gwalior nach Delhi im Jahr 2012 eine 80.000 km lange Mobilisierungstour durch ganz Indien durchgeführt, über die er in dem vorliegenden Buch berichtet.
Die Bewegung Ekta Parishad weist einige Besonderheiten auf. Sie ist gandhianisch geprägt, basisdemokratisch, ohne festes Programm, starre Organisationsstruktur und Mitgliederlisten. Die Zusammenarbeit ist auf gegenseitigem Vertrauen begründet. Rajagopal vermeide Rivalitäten und persönlichen Ehrgeiz, betont der Übersetzer und langjährige Wegbegleiter Rajagopals Karl-Julius Reubke im Vorwort des Buches. Auf der langen Reise kommt es zu vielen Konfrontationen mit Not und Ungerechtigkeit, aber auch positive, vorbildliche Selbsthilfeeinrichtungen werden besucht. Bei dem „fahrenden Zirkus“ von Dorf zu Dorf werden die Versammlungen oft durch ein Kulturprogramm aufgelockert, die dringendsten Probleme besprochen und Lösungen gesucht. Um die organisatorischen Aufgaben für den Marsch der Hunderttausend im Jahr 2012 bewältigen zu können, bildete Ekta Parishad 12.000 AktivistInnen in speziellen Trainingsprogrammen aus.
Das Buch „Reise in ein anderes Indien“ verdeutlicht, dass Rajagopal ein exzellenter Kenner der Materie ist. Detailliert beschreibt er, wie Staat und Konzerne Hand in Hand bei der Entrechtung der ärmeren Menschen zusammenarbeiten und ihnen aufgrund fehlender Besitzurkunden das gemeinschaftlich bewirtschaftete Land rauben. Auf seiner Reise wird immer wieder deutlich, dass die rigide Kastengesellschaft ein wichtiges Unterdrückungsinstrument ist. Die bestehenden Waldgesetze und Wohlfahrtsprogramme nützen nichts, wenn den Benachteiligten die für die Wahrnehmung ihrer Rechte zwingend notwendigen Kastenzertifikate und Identitätsnachweise von den korrupten und ineffizienten Behörden verweigert werden. Es ist haarsträubend zu lesen, wie trickreich sie Adivasirechte, also die Rechte indigener Bevölkerungen, sabotieren.
Rajagopal begegnet auf seiner langen Reise vielen unterschiedlichen Personen, deren Überlebenskampf, Alltagssituation oder politische Arbeit er einfühlsam und voller Zuneigung in allen möglichen Facetten beschreibt. Hierdurch entsteht eine große persönliche Nähe zu den Menschen und ein Verständnis für ihre Sorgen und Probleme. Es ist erstaunlich, dass bei diesen Begegnungen trotz der vielen nahezu erdrückenden Probleme fast immer ein optimistischer Grundton und unerschütterliche Hoffnung mitschwingt, weil hier an der Basis konstruktiv und mit langem Atem an Alternativen zum neoliberalen Entwicklungsweg gearbeitet wird.
Dem Lösungsversuch, Adivasis und anderen benachteiligten Gruppen eigene kleinere Bundesstaaten zuzugestehen, kann Rajagopal nicht viel abgewinnen. Die neu geschaffenen Bundesstaaten Chhattisgarh, Jharkhand und Uttarakhand zeigen, dass es nicht auf die Größe eines Staates ankommt, sondern auf den politischen Willen zur Umverteilung der Ressourcen und die reale Unterstützung der Armen und Unterdrückten. Auch sich sozialistisch nennende Regierungen und solche unter Dalit-Führerschaft haben in den Bundesländern versagt, weil die neue Regierung nicht gewillt war, eine Entwicklungsdynamik von unten auf durchzusetzen. Bei den Linken in Indien spielte die Agrar- und Landverteilungsfrage keine große Rolle, obwohl fast 70 Prozent der Menschen in ländlichen Gebieten leben.
In Indien werden im Namen einer angeblich notwendigen „Entwicklung“ große Industrieanlagen gebaut und Bodenschätze gefördert. Es ist diese Art der Entwicklung, welche die Lebensgrundlagen der Bevölkerung zerstört. Rajagopal betont, dass der so entstandene Reichtum sich für die privilegierten 5% auszahlt und Elend und Armut für über 50% der Menschen bewirkt. Er schlägt deshalb vor, besser von „Armutsentwicklung“ zu sprechen, da sie zur Zerstörung der selbstversorgenden Dorfwirtschaft, zu großflächigen Vertreibungen und zum Anschwellen der Slums in den Großstädten führt. Er schätzt, dass etwa 600 Millionen Menschen Opfer dieses menschenfeindlichen Entwicklungsweges in Indien geworden sind. Im Fall der Adivasis spricht er von einem stufenweisen Genozid und prangert die Ignoranz der indischen Eliten gegenüber diesem Unrecht an.
PolitikerInnen und RegierungsbeamtInnen haben ein spezielles Interesse an gewalttätig aufgeladenen Spannungen, um gewaltfreie AktivistInnen als TerroristInnen auszugrenzen und militärisch bekämpfen zu können. Auf diese Weise müssen sie sich für ihre eigenen Schandtaten nicht einmal rechtfertigen. In dem Buch wird allerdings deutlich, dass die gandhianische Landlosenbewegung nicht in die aufgestellte Gewaltfalle tappt. Beispielsweise von einem Arbeitscamp der Adivasis zur Wiederherstellung eines kleinen Dammes, bei denen sich ein Dorf erheblich mit großen Felsbrocken abmühte. Als die in diesem Gebiet militärisch operierenden maoistischen Naxaliten anboten, mit Dynamit bei der Sprengung zu helfen, wurde dies nach einer kurzen Diskussion abgelehnt, weil es zu einer Verwischung der Grenze zwischen Gewaltfreiheit und Gewalt führen würde. Das sind hohe ethische Handlungsmaximen in einem Land, wo PolitikerInnen vor Wahlen den Menschen alles versprechen und danach damit prahlen, dass sie so viele Dumme gefunden haben, die ihnen geglaubt haben.
Das Buch ist eine lebendig geschriebene Einführung in die Praxis der gewaltfreien Landrechtbewegung Indiens und enthält auf zehn Seiten interessante Farbfotos und ein Glossar. Mit der mehrjährigen Kampagne „Jai Jagat 2020“ versucht Ekta Parishad aktuell soziale und ökologische Basisbewegungen weltweit über alle Grenzen hinweg zu verbinden. Wenn die Landlosen nach ihrem zwölfmonatigen Marsch von Indien nach Europa im nächsten Jahr in Genf ankommen, können wir in Europa mit Hilfe dieses Buches genau erfahren, worum es hierbei geht, uns bei den geplanten Großveranstaltungen in der Schweiz einbringen und mit demonstrieren.
Horst Blume
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