Transnationales

„Ich hab’s dir ja gesagt“

Die Favelas in Rio de Janeiro leiden unter der Faschisierung

| Mareen Butter

Beitragbrasilien
Complexo do Alemão, Favelakomplex im Norden Rio de Janeiros. Foto: Mareen Butter

Nachdem im Oktober 2018 eine Mehrheit der Brasilianer*innen für Jair Bolsonaro gestimmt hatte, wurde der bekennende Faschist (1) am 1. Januar 2019 als Staatspräsident des größten lateinamerikanischen Staates vereidigt. Unter dem Titel „Brasilien nähert sich dem Faschismus – Beobachtungen einer deutschen Studentin in Rio de Janeiro“ analysierte Mareen Butter am 19. Oktober 2018 auf ihrem Blog globustrotter.com die Stimmung des „Vorfaschismus“ nach der Wahl Bolsonaros. (2) Im folgenden Artikel beschreibt sie den Alltag in den nach der stacheligen Kletterpflanze Favela benannten Armenvierteln. (GWR-Red.)

Es war brütend heiß an jenem Novembertag im letzten Jahr, als ich gemeinsam mit einem Bekannten und Fotografen an der Schnellstraße Avenida Brasil im Norden Rio de Janeiros aus dem Uber stieg. Wir wären lieber im Auto mit der kühlen Klimaanlage sitzen geblieben und hätten uns vom Fahrer bis zur Haustür meines Interviewpartners fahren lassen, doch Uber und Taxis fahren kaum noch in die Armenviertel (Favelas) rein. Erst recht nicht in den Favelakomplex Maré, der für tödliche Polizeiinterventionen und Konflikte zwischen kriminellen Organisationen Rios bekannt ist.

Wir hatten kurz zuvor erfahren, dass die Militärpolizei in der Nacht wieder in Maré gewesen war und ein paar Leichen hinterlassen hatte. Teilweise Menschen, die mit Drogenhandel und Kriminalität nichts zu tun hatten. Ein Lehrer war beispielsweise unter denen, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Mein Kollege und ich liefen vorbei an einer Tankstelle, die überfüllt war von bewaffneten Polizisten in Soldatenuniformen; ein Fernsehteam stand vor einem Laster voll mit Drogen und Waffen. Auch wenn ich ihre Gesichter nicht gut erkennen konnte, hatte ich das Gefühl, die interviewten Polizist*innen waren ziemlich stolz auf ihren Fund und ihre Arbeit. Ein wenig später lief es mir trotz der Hitze kalt den Rücken runter, als eine etwa Ende zwanzigjährige Frau sich mit aufgerissenen Augen auf die Straße warf, laut weinte und schrie: „sie haben ihn umgebracht!“. Die Menschen um sie herum wirkten teils hilflos, teils unbekümmert. Dass Bewohner*innen von Favelas regelmäßig erschossen werden, ist kaum noch eine Nachricht wert. In den großen Medien sind sie Zahlen, keine Menschen. Und dabei haben sie so viel zu erzählen.

Hier fehlt alles, es fehlt Licht, es fehlt Wasser, es fehlen Lehrer und Ärzte. Nur die Polizei fehlt nicht“, „99% sind Bewohner, Arbeiter, aber sie glauben, dass es alle Verbrecher sind“, „Die Bullen blieben stundenlang im Haus, vergewaltigten drei Mädchen und schlugen die Jungen“, „das Militär kam hier in die Bar herein und stahl meinem Sohn die Xbox, aß unsere Essenswaren, nahmen Getränke mit, es war ein Schaden von mehr als viertausend (Reais, circa 920 Euro). Wir arbeiten hart, um das bisschen zu haben und sie tun uns das an“.

Das sind nur einige Zitate von anonymen Aussagen, die in fünfzehn Favelas in Rio de Janeiro im vergangenen Jahr von öffentlichen Behörden aufgenommen wurden. (3) Doch die Stimmen der Favelabewohner*innen werden meist nur von alternativen Medien gehört und abgedruckt. Im Onlinemedium „The Intercept Brasil“ schildert Bruno Sousa seine Erfahrungen mit Racial Profiling. Regelmäßig wird er in und um seine Favela von Polizist*innen angehalten, ausgefragt und untersucht: „Der Militärpolizist, der mit seiner Waffe auf mich zeigte, war derselbe, der mich in derselben Woche gestoppt hatte. Er kam und sagte mir, ich solle mich an die Wand lehnen, meine Beine und meinen Rucksack öffnen. Er fragte mich vierzig Mal, wohin ich gehen wollte, ob ich jemals im Knast gewesen sei und jedes Mal, wenn ich sagte, ich sei Student, lachte er. Viele Menschen liefen über die Straße und es wurde sonst niemand angehalten”. Seine Wohnung wird auf den Kopf gestellt; häufig kann er diese nicht verlassen, weil es Schüsse in der Umgebung gibt. Für eine Busfahrt braucht er zwei Stunden, statt zwanzig Minuten, weil die Polizei ihn festhält. (4)

Solche Schilderungen kommen mir nicht unrealistisch vor. Ein Freund hatte mir einmal erzählt, wie es abläuft, wenn er zum Beispiel über die Smartphoneapp „Fogo Cruzado“ („Kreuzfeuer“) erfährt, dass es wieder Schüsse gibt in seinem Viertel. „Man wartet dann am Eingang der Favela, bis man eine etwas größere Gruppe ist von Anwohnern. Dann kann man einigermaßen sicher nach Hause kommen, denn das ist ein Zeichen für die Bullen, dass wir keine Kriminellen sind.“

Erst im Februar 2019 sorgte die Nachricht für Aufsehen, dass dreizehn junge Männer von der Militärpolizei in der Favela Fallet, im touristischen Viertel Santa Teresa, erschossen wurden. Laut Polizei sollte kriminellen Organisationen das Handwerk gelegt werden. The Intercept Brasil berichtete, dass zehn Personen im Haus einer Unbeteiligten ermordet wurden, nachdem sie sich ergeben hatten. (5)

Der Polizeieinsatz war derjenige mit den meisten Toten seit zwölf Jahren. Wilson Witzel hatte Anfang Januar den Kriminellen der Favelas einen „Krieg“ versprochen. Dass der Gouverneur des Bundesstaates Rio de Janeiro sich allerdings nicht allzu gut mit seinem eigenen Arbeitsfeld auskennt, hatte er schon zuvor klar gemacht: Als er in einem Interview gefragt wurde, ob er denn schon mal in Rocinha, der größten Favela Lateinamerikas, gewesen sei, antwortete er: „Ich bin an Rocinha vorbeigegangen, bin aber nie hochgelaufen. Aber man muss nicht hinaufgehen, um zu wissen, dass es dort wirklich schlimm ist.“ (6) Seine Ignoranz spiegelt sehr gut die Vorurteile wider, die viele Brasilianer*innen haben. Vor allem der größte brasilianische Medienkonzern Globo zeichnet in Fernsehen, Zeitung, online und im Radio ein Bild der Favela von Drogenbanden, Kriminalität und Armut. Es wird vor allem über Bewohner*innen gesprochen, nicht mit ihnen.

Anders macht das die Nachrichtenseite RioOnWatch, für die ich Reportagen und Porträts von Bewohner*innen der Favelas schrieb (7). Ich sprach mit Andrezza Fransisco Paulo, die durch finanzielle Hilfe ihrer Mitschüler*innen und nach jahrelanger intensiver Arbeit ihr Studium schaffte; mit Laerte Breno, der in Maré eine gratis Nachhilfeschule gründete, um mehr Nachbar*innen und Freund*innen in der Uni zu verhelfen; mit Lita Ribeiro, die trotz Neid von Freund*innen und Hasskommentaren auf Facebook ihren Traum verwirklichte, Soziale Arbeit zu studieren; mit João Victor Teodoro, der in seiner Favela Menschen half, aus dem Drogengeschäft auszusteigen, internationale Zusammenarbeit studiert und von den Vereinten Nationen nach Bonn eingeladen wurde. All diese Geschichten verdeutlichen mir, wie viel Kampfgeist in Rios Favelas steckt. Neben sozialen Problemen vor Ort haben es die Bewohner*innen vor allem auch mit Eingriffen von außen zu tun. Allein von 2017 auf 2018 stieg die Rate der Favelabewohner*innen, die von der Polizei getötet wurden, auf 38%, ohne dass die offiziellen Ziele der vermehrten Polizeiinterventionen erreicht wurden: Im gleichen Zeitraum wurden 27% weniger Waffen in Favelas beschlagnahmt (8).

Gewalt erfahren die Anwohner*innen auch durch die drei großen kriminellen Organisationen in Rios Favelas, die sich gegenseitig bekämpfen und die nur deshalb fortbestehen, weil sie infrastrukturelle und soziale Aufgaben übernehmen, die eigentlich Aufgabe des Staates sind. Und gerade deshalb beeindruckte es mich unglaublich zu sehen, wie Menschen, die von extremen sozialen Ungleichheiten betroffen sind und unter Gewalt, Rassismus und Patriarchat leiden, nicht aufgeben. Gleichzeitig möchte ich Andrezza Fransisco Paulo zitieren, die im Gespräch mit mir darauf hinwies, dass sie nicht an Meritokratie glaube. „Dieses Wort ist extrem ungerecht und grausam. Sie sagen, wenn ich es geschafft habe, können es alle schaffen, doch sie vergessen, dass ich auch unglaublich viel Glück hatte.“ Genauso wenig ist es ausschließlich harter Arbeit verdankt, dass ich als Weiße Europäerin für ein deutsches Publikum über die harten Lebensbedingungen in einer brasilianischen Favela schreibe. Ich bin zufälligerweise im globalen Norden geboren und daher privilegiert. Ich kann frei entscheiden, ob ich heute oder morgen meinen Freund in seiner Favela besuche und über ihn schreibe; derweil muss er es nach Hause schaffen, am besten, ohne von der Polizei angegriffen zu werden und ohne Angst, durch eine sogenannte „bala perdida“ („verlorene Kugel“) aus Versehen erschossen zu werden.

Gerne würde ich diesen Beitrag mit einem Hoffnungsschimmer abschließen. Doch ich nehme es gleich vorweg: Das wird schwierig. Ich habe genug Menschen und Organisationen kennengelernt, die sich für mehr Gleichberechtigung und für mehr Rechte für Benachteiligte einsetzen. Regelmäßig finden allerlei Demos statt, Tausende gehen gegen die neue Regierung auf die Straße. Karneval in Brasilien war noch nie so politisch: allerlei Kostüme, Umzüge und Mottos machten sich über Bolsonaro lustig.

Gleichzeitig tut die rechtsextreme Regierung, die sich auf dem besten Weg in den Faschismus befindet, alles, um linke Kräfte zu schwächen. Soziale Bewegungen werden kriminalisiert und als Terrorgruppen eingestuft; Polizisten dürfen straffrei im Einsatz töten; linke Politiker*innen werden eingesperrt, ermordet oder müssen aus Angst das Land verlassen; Rechte, Gehälter und Renten der Arbeitnehmer*innen werden gekürzt… Die Liste ist endlos.

Eu avisei“ (in etwa, „ich hab’s dir ja gesagt“), hieß einer der Karneval-Blocos in Rio de Janeiro. Ausdruck des Widerstands, noch dazu mit Humor. Doch viel hilft der weise Spruch jetzt nicht mehr, auch nicht denen, die es tatsächlich vorhergesagt hatten. Wer mit am meisten leiden wird, sind die, die schon immer sozial benachteiligt waren: Menschen aus Favelas.

Mareen Butter

Mareen Butter schreibt u.a. für die taz, amerika21, ND und RioOnWatch. Ihre Schwerpunktthemen sind Brasiliens Kultur und Politik, soziale Ungleichheiten in Deutschland, Lateinamerika und der Welt. Durch regelmäßige Aufenthalte in Rio de Janeiro und São Paulo ist es ihr oft möglich, live und vor Ort die Geschehnisse mitzuerleben und zu berichten. Im Rahmen ihres Masters der Lateinamerikastudien gründete sie 2017 das Lateinamerikamagazin Mosaico Latino.

Anmerkungen

1) Siehe: Der klassische Faschist. Jair Bolsonaro hat die Wahl gewonnen, Artikel von Nicolai Hagedorn, in: GWR 434, Dezember 2018, https://www.graswurzel.net/gwr/2018/11/der-klassische-faschist/

2) Siehe: https://globustrotter.com/2018/10/19/brasilien-nahert-sich-dem-faschismus-beobachtungen-einer-deutschen-studentin-in-rio-de-janeiro/

3) http://sistemas.rj.def.br/publico/sarova.ashx/Portal/sarova/imagem-dpge/public/arquivos/Relatorio_Circuito_Favelas_Final.pdf

4) https://theintercept.com/2019/02/10/diario-negro-morador-favela-pm/?comments=1#comments

5) https://theintercept.com/2019/02/08/rio-massacre-bope-chacina-13-pessoas/

6) https://gazetaweb.globo.com/portal/noticia/2018/11/witzela-gente-nao-precisa-subir-a-rocinha-para-saber-que-la-e-ruim_64027.php

7) www.rioonwatch.org/?writer=mareen-butter

8) https://www1.folha.uol.com.br/cotidiano/2018/08/intervencao-federal-no-rj-faz-6-meses-entenda-o-que-aconteceu-ate-agora.shtml

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.