mord und totschlag

Gnade des Gedächtnisverlustes

Zum Prozess gegen Niels H., der PatientInnen getötet hat

| Johann Bauer

Beitraggnade
Illustration: Roy Brick

Es gibt für die Deutung von Mord gesellschaftlich akzeptable Muster: Die Pathologie der Täter, die moralisch verurteilt oder zum Monster aufgeblasen werden. Wenn über gesellschaftliche Strukturen diskutiert wird, dann oft nicht konkret, sondern vielleicht um berechtigte Anliegen einer allgemeineren Gesellschaftskritik zu befördern. Kann man aus dem Prozess gegen den Krankenpfleger Niels Högel etwas lernen? Der Strafprozess gegen den „Todespfleger“, dem der Mord an mehr als 100 PatientInnen zur Last gelegt wird, zielt auf einen Schuldspruch. Deshalb muss er aber nicht nur auf den Angeklagten zielen.

„‚Das habe ich getan‘, sagt mein Gedächtnis. Das kann ich nicht getan haben, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich gibt das Gedächtnis nach.“ (Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 1886. Viertes Hauptstück. Sprüche und Zwischenspiele)

Mein Artikel „Gnade des Nichtwissens“ in der Graswurzelrevolution Nr. 434 vom Dezember 2018 endet mit einer Anklage der „Klassenjustiz“, die eine „Beschädigung“ des Klinik-Standorts Oldenburg mehr fürchtete als eine unaufgeklärte Mord-Serie. Es hat sich hier aber offensichtlich viel getan, die Staatsanwaltschaft agiert heute ganz anders und der Vorsitzende Richter Sebastian Bührmann führt die Verhandlung gegen den angeklagten Krankenpfleger Niels Högel gelegentlich fast im Stil einer Wahrheitskommission. So appellierte er mehrmals an den Angeklagten, der ja bereits zu lebenslänglicher Haft verurteilt ist, „die ganze Wahrheit“ zu sagen, sich seiner Verantwortung zu stellen und an die Angehörigen zu denken, die auf eine Antwort warten, wie das möglich war.

So könnten der Prozess und die öffentliche Diskussion tatsächlich zur Selbst-Aufklärung der Gesellschaft über den Schrecken in den Strukturen werden, und über das System der Kranken-Verwaltung. Wenn da nicht das große Schweigen wäre. Viele Fragen sind offen, und Bührmann stellt sie mit direkter Klarheit, er benennt seine Zweifel an Aussagen, Darstellungen, Abläufen. Da ist zum Beispiel Högels Aussage, dass er im Jahr 2002 im Klinikum Oldenburg nicht getötet hat, wohl aber vorher dort und danach in Delmenhorst bis 2005. Kann das sein und wie ist es zu erklären? Gab es im Klinikum Oldenburg interne Konferenzen zum Krankenpfleger Högel? Eine Anweisung der Stationsleitung, auf die Kalium-Werte zu achten? Eine „Kalium-Konferenz“ außerhalb der Station, bei der die hohen Verbrauchswerte Thema waren?

Das soll im Medizinischen Ausbildungs-Zentrum MAZ stattgefunden haben. Es gab mehr als 20 TeilnehmerInnen. Aber: Die Erinnerung, das Gedächtnis … Geschehnisse, die mehr als 15 Jahre zurück liegen, verblassen: Wann genau etwas stattgefunden hat, wer genau dabei war, die einzelnen Namen, das alles muss sogar zweifelhaft werden. Manchmal braucht man Gedächtnisstützen. Wenn aber seit spätestens 2005 immer wieder darüber gesprochen und geschrieben wurde, man vielleicht von Freunden und Kollegen angesprochen, schließlich von der Polizei und der Klinikleitung befragt wurde, es um ein konfliktreiches Geschehen geht, wird die Erinnerung nicht so verblassen, dass man sich nur noch an die allgemeinen Arbeitsvorgänge erinnert. So stellen sich aber nicht wenige Zeugen dar.

Gedächtnisstützen oder angeleitetes Vergessen? Fürsorgepflicht oder Schweigepflicht?

Der Oldenburger Chef des Klinikums hat allen früheren KollegInnen von Högel einen Rechtsbeistand angeboten; einige ZeugInnen nahmen diesen als „Aufpasser“ wahr (HAZ 31.01.19); der Richter fand das Stellen eines Rechtsbeistands durch Arbeitgeber „höchst ungewöhnlich“ und befragte den Klinikchef Dirk Tenzer dazu, der das eine „Frage der Fürsorge“ nannte. Eine Zeugin, die nicht mehr im Klinikum arbeitet, erfuhr von einer Kollegin, „der Anwalt würde einem auch mitteilen, was man sagen darf, oder wie man sich ausdrücken soll“ (NWZ 31.01.2019).

Tenzer kam erst 2013 nach Oldenburg. Als ihm klar wurde, welcher Verdacht gegen das Klinikum existierte, begann er 2014 mit hausinternen Ermittlungen und Gutachten, er forderte die MitarbeiterInnen auf, ganz offen alles mitzuteilen, was sie wussten und sicherte ihnen Verschwiegenheit zu. Dass er dieses Versprechen schließlich nicht halten konnte, bringt nun viele ZeugInnen in das Dilemma, dass sie sich heute nicht erinnern wollen, ihnen aber vorgehalten werden kann, woran sie sich 2014 noch gut erinnerten. Es wurde also 2014 die Erinnerung nochmals aufgefrischt (und sicherlich viel über die zurückliegenden Geschehnisse gesprochen, schließlich war Högel mehrfach angeklagt, die Zeitungen berichteten und nun wurden die alten Fragen wieder aufgeworfen) – und danach kam die große Amnesie. So entsteht ein Muster der Zeugenaussagen: Der Richter versichert, dass es nur um die Aufklärung der Geschehnisse gehe, er habe Achtung vor den schwierigen Arbeits- und Entscheidungssituationen der Pflegekräfte, niemand wolle diesen etwas Böses oder sie vor Gericht sehen, es seien Ermittlungsverfahren auf Betreiben des Gerichts eingestellt worden, nur um die Wahrheit gehe es, man möge an die Angehörigen der Todesopfer denken … Und nun erzählen Sie bitte, woran sie sich erinnern. Die Erinnerungen sind meist schwach, wenn es an die entscheidenden Fragen geht: Gab es Verdachtsmomente gegen Högel? Wie wurde darauf reagiert? Högel wird ansonsten als der kompetente, zuverlässige Kollege erlebt, der für gute Stimmung sorgte. Aber Verdachtsmomente? Nein!

Der Richter hat schon Zeugen angeboten, ihre nächsten Antworten sich selbst geben zu können, der Vorwurf von Absprachen steht im Raum. Dann konfrontiert der Richter die ZeugInnen mit ihren Aussagen etwa bei der Polizei oder er verliest Passagen aus den Tenzer-Protokollen, manchmal existieren auch Mail- und SMS-Nachrichten, die ein völlig anderes Bild ergeben. Der Richter muss geradezu fragen, wie die ZeugInnen sich ihre früheren Erinnerungen erklärten und ob der Dr. Tenzer sich das aus den Fingern gesaugt hätte. Kann es sein, dass Ihre Erinnerungen 2014 andere waren, weil Dr. Tenzer Ihnen Vertraulichkeit zugesichert hat?“ „Er hat gesagt, was ich hier aussage, verlässt nicht diesen Raum“. Die Erklärungen der stark abweichenden Darstellungen 2014 und jetzt im Prozess fallen dürftig aus, man erinnere sich nicht, könne sich gar nicht erklären … Der Richter ermahnt dann nochmals, die Wahrheit zu sagen und kündigt an: Meineid wird bestraft mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr. Er ermöglicht noch Korrekturen und Präzisierungen der Aussagen, dann wird vereidigt. Dabei erinnern sich die ZeugInnen an Högel gut:

Der Profi

Högel war als „reanimationsgeil“ (NWZ vom 31.1.2019) bekannt; er war dabei „brillant“. Alle Zeugen verfallen in Lob, wenn von Högels Fähigkeiten die Rede ist, man fühlte sich sicher, wenn er anwesend war, dabei sympathisch, unkompliziert, laut lustig, präsent. Stress-Situationen habe er gut ausgehalten. Er war der Beste, arbeitete rauschhaft, jeder Handgriff saß. Wenn er da war, waren auch die Ärzte froh und erleichtert: „Wenn der da war, wusste ich, es läuft!“.

Da war er auf „Station 211“ genau richtig, und deshalb war er dorthin gegangen: Die Zahl der Betten in der Herzchirurgie war auf 16 erhöht worden, auch allerschwerste Fälle wurden aufgenommen, man wollte sich einen Ruf erarbeiten. PatientInnen mit „schlechter Prognose“ gab es also viele, da müssen Todesfälle nicht überraschen. Hier arbeitete eine Elite, auch andere PflegerInnen kamen „von außerhalb“ deshalb hierhin, selbstbewusst. Frank Lauxtermann erinnert sich: „‚Unsere Station war ein Prestigeobjekt‘, sagt der ehemalige Pfleger. ‚Wir hatten keine Personalnot, wir hatten keinen Pflegenotstand.‘ Was sie hatten: einen guten Ruf.“ berichtet Per Hinrichs. (1)

Högel war eine „Führungskraft“: Er war im Zentrum, gab anderen Anweisungen, „einer musste ja das Sagen haben“, und das war durch Präsenz, Kompetenz, Persönlichkeit – Högel. Er leitete auch neue KollegInnen an. Er brachte seinen Kameraden aus dem Fußballverein, der ebenfalls Krankenpfleger geworden war, auf Station 211 unter. Er hatte einen Ruf als „Lebemann und Frauenheld“, das wurde wörtlich so im Prozess gesagt. Er war auch auf der Rauchertreppe der Alleinunterhalter. Er war also fast unangreifbar.

Es waren eher Außenseiter, die die allgemeine Begeisterung nicht teilten: Frank Lauxtermann, der jetzt umfassend aussagt, fand ihn kalt und nur technisch orientiert, an PatientInnen eher desinteressiert. Mit Högel verband ihn wenig, weil der sich mal über seine Gehbehinderung lustig gemacht hatte: Humpelnd lief er in den Aufenthaltsraum und feixte in die Runde: ‚Guck mal, wer bin ich!‘ Lauxtermann war nicht dabei, ein Freund erzählte ihm die Episode.“ (2). Lauxtermann spricht nun im Prozess auch an, dass es ein „Klima“ gab, das begünstigend wirkte, und er nennt einen anderen Fall: „So soll der Pfleger Ralf B. im Jahre 2000 einen Patienten an den Hoden gefesselt haben. Als derselbe Mann zehn Jahre später eine Patientin unsittlich berührt, fliegt er schließlich.“ (3) Darüber wird öffentlich nicht viel berichtet. Ich war am 21. und 22. Februar in der Weser-Ems-Halle und wurde erst im Prozess darauf aufmerksam, weil der Richter danach einen Zeugen fragte. Das „Abbinden“ der Hoden soll wohl als eine „Fixierung“ des Patienten praktiziert worden sein, es tat weh, wenn der Patient sich bewegte, so habe ich es verstanden (mir fehlt manchmal die Vorstellungskraft).

Eine Strichliste aus dem Jahr 2002 zeigt, dass Högel bei auffällig vielen Reanimationen anwesend war, bei 18 im erfassten Zeitraum, der „zweitschnellste“ kam auf immerhin neun oder zehn auch nicht unverdächtige Reanimationen, es gab aber auch PflegerInnen, die nur bei einer Reanimation Dienst hatten. Ist so etwas nicht auffällig? Natürlich wurde nur wegen der Auffälligkeit die Strichliste begonnen. Hoher Verbrauch von Kalium – war das nicht aufgefallen? ZeugInnen erwähnen sogar, dass er „Sensen-Högel“ genannt wurde. Andere sagen, das hätten sie aber erst 2006 gehört, als Högel angeklagt war.

Die handschriftliche Liste der Stationsleitung endet mit dem Vermerk, die Verdachtsmomente reichten nicht aus, die Staatsanwaltschaft einzuschalten und „Die Gefährdung der Abteilung, ja des gesamten Klinikums ist nicht zu akzeptieren aufgrund von Verdachtsmomenten und vielen Zufällen“, und schließlich habe man Högel ja nun in eine andere Abteilung versetzt. So beweist diese Liste aber, dass 2002 bereits die Einschaltung der Staatsanwaltschaft diskutiert worden war und es eine besondere Beobachtung Högels gab! Im Prozess wurde auch (dank Tenzers Protokollen) bekannt, dass der pflegerische Leiter der Station, der wahrscheinlich auch die Liste geführt hatte, zunächst darauf gedrängt hatte, die Staatsanwaltschaft einzuschalten, das dann aber auf jeden Fall vermieden werden sollte, weil das Klinikum den Hygiene-Skandal 2001 noch nicht verkraftet hatte. Dass die Liste geführt wurde, soll auf den damaligen Chefarzt zurückgehen, der schließlich auch Högels Entfernung 2002 betrieb. 2016 erreichte die Liste die Staatsanwaltsschaft Oldenburg.

Der psychiatrische Gutachter Karyofilis ist leider so schwer erkrankt, dass er nicht vor Gericht aussagen kann und der Richter nur aus seinen Notizen zitiert. Er wurde als Gutachter ersetzt durch den aus dem NSU-Prozess bekannten Psychiater Henning Saß.Karyofilis‘ Gutachten beruht auf 2015 geführten Gesprächen. Er sieht eine Erklärung der Taten darin, dass Högel „zum Elite-Kreis der Pfleger gehören“ (HAZ 9.3.19) wollte, der Kampf um Anerkennung die wichtigste Triebkraft war. Högel bestätigte im Prozess jetzt am 8. März 2019 seine Aussagen gegenüber Karyofilis und erklärte, er sei gegen Ende seiner Mordserie ein immer höheres Risiko eingegangen, denn er „wollte endlich aufhören und erwischt werden“ (HAZ 9.3.19). In der „Ärzte-Zeitung“ vom 27. Februar 2015 hatte Karyofilis seine Erfahrungen erläutert: „Aber auf der Intensivstation gab es keinen persönlichen Bezug zu den Patienten, sie hatten für ihn keine Individualität. Auch Angehörige hat er erst in der Verhandlung kennengelernt. Wie wir alle, erinnert er sich zudem lieber an das Positive als an das Negative.“

Was kann man über Ursachen sagen?

Vor allem die Gelegenheit. Herr H. hat sich ja nicht vorgenommen, jemanden zu töten. Er wollte vielmehr zeigen, wie gut er retten kann. Dass dabei Patienten sterben, hat er billigend in Kauf genommen. Er hatte auf der Intensivstation die Gelegenheit, die Macht, die Kenntnisse, er litt zudem unter Ängsten, Depressionen und innerer Leere.“ (ebenda). Das „zudem“ zweifle ich etwas an. Die Fragen von Gutachter, Nebenkläger-VertreterInnen und anderen Prozess-Beteiligten zielen öfters darauf ab, ob es in Högels Biographie und seinem Verhalten Besonderheiten gab, die einen Erklärungsansatz bieten: Alkohol, Tabletten, Unausgeglichenheit, Depressionen, Höhenangst, ein traumatischer Auto-Unfall, den Högel selbst erwähnt hatte … Aber nein, sagt da der Zeuge, er hatte doch sofort einen Ersatzwagen und fuhr auch weiter Rettungsdienst, mit Blaulicht, da konnte er weder Autobahnen noch Brücken meiden. Fast aufgedrängt wirkten mir gelegentlich diese Versuche, goldene Brücken, damit die Gesellschaft eine individualpsychologische Erklärung sichert und nicht nach Macht und Geltung fragt, denn diese dürfen ja nicht pathologisiert und kriminalisiert werden. Die Antworten haben bisher nichts Stichhaltiges zu Tage gefördert, er war zu keiner Zeit etwa dienstunfähig; fast alle Fragen dieser Richtung werden von den ZeugInnen verneint.

Whistleblower oder Denunziant?

Wie in der GWR 434 dargestellt, findet im Oldenburger Prozess leider immer wieder seine Bestätigung, dass in bürokratischen Organisationen Zwänge herrschen, die Abweichler schnell wegen „unkollegialem Verhalten“ maßregeln und innere Korrekturen erschweren. Im Fall des Falles steht dann „Aussage gegen Aussage“ und „Whistleblower“ werden schnell zu „Denunzianten“ degradiert, sozial isoliert und ausgeschlossen. Reinen Tisch“ will Frank Lauxtermann machen, er sagt umfassend und ohne Rechtsbeistand aus. Lauxtermann wurde zur „Unperson“. Nach seiner polizeilichen Aussage im Mai 2015 sei der Kontakt zu den ehemaligen Kollegen aus der Herzchirurgie abgerissen, sagt Lauxtermann. Die Freundschaft mit seinem Trauzeugen, ebenfalls Pfleger dort, sei zerbrochen. Fast alle Mitarbeiter des Klinikums hätten ihn bei Facebook gesperrt.“ (NWZ 23.01.2019)

Denn enge Freunde, gerade sein Trauzeuge, erinnern sich eben nicht, und wenn sie mit Aussagen Lauxtermanns konfrontiert werden, so sagen sie, dieser habe „sich verrannt“, „kennt nur noch ein Thema“, hatte persönliche Probleme, zuerst körperlich, dann auch psychisch. Lauxtermann nennt präzise Orte, wer wann wo mit wem worüber gesprochen haben soll, etwa bei einem gemeinsamen Grillen, und er hat nun zwei frühere Freunde wegen Falschaussage angezeigt, die behaupten, das habe nicht stattgefunden. Aber Lauxtermann hat nur bis März 2001 in der Herzchirurgie gearbeitet, vieles hat er nur gehört, weil es ihm sein Freund und Trauzeuge H. erzählt hatte. Viele Aussagen zwischen „Franky“ und „Sir“ – wie sie sich damals in E-Mails und SMS anredeten – klingen so, dass zu früheren Zeiten Ewald H. Frank Lauxtermann sogar angestachelt hat, gegen das Klinikum auszusagen; Lauxtermann erwähnt, dass Ewald und ein anderer Kollege ihn zu einer anonymen Anzeige gegen das Klinikum aufgefordert hatten als Högel in Delmenhorst entdeckt worden war (auf ihn würde ja kein Verdacht fallen, weil er nicht mehr dort beschäftigt war). Das hatte Lauxtermann zunächst abgelehnt.

Der Zeuge Ewald H. war eng mit Lauxtermann befreundet, aber seine Erinnerung lässt ihn jetzt im Stich, der Richter nennt seine Aussagen offen „steril“, sie sind vorsichtig und zurückhaltend. Dabei hatte er noch 2014 Tenzer zu Protokoll gegeben, dass es regelmäßig Notfallsituationen gab, wenn Högel anwesend war, der Kaliumverbrauch ständig Thema, er sei von der Pflegedirektorin gebeten worden, sich ruhig zu verhalten und an den Ruf der Klinik zu denken (NWZ, 22.2.2019). Zu diesen Aussagen erklärte der Zeuge jetzt, er könne sich nicht erinnern, habe das so bestimmt nicht gesagt und er wisse nicht, wie Tenzer so etwas in das Protokoll schreiben konnte. Noch nach Lauxtermanns Aussagen vor der Polizei hatte er diesen bestärkt: „Es werden einige mächtig nervös“, „es wird alles herauskommen“, „die Wahrheit kommt ans Licht“, „Was für ein Sumpf“ …

Selbst wenn man bereit ist, bei einer Freundschaft Situationen zuzugestehen, in denen man eine bestimmte Entscheidung nicht teilt, aber dem Freund dennoch alles Gute für seine Entscheidung wünschen kann und ihm – wie hier – „Mut und Charakter“ zuspricht, vielleicht nur vorsichtig anmerkt „Aber achte auf Deine Gesundheit“ oder besser „Verrenne Dich nicht“, vielleicht weil man weiß, dass der Freund reizbar oder schnell enttäuscht ist und ihn nicht verlieren will … – bei allem Verständnis für schwierige soziale Situationen sieht das doch nach einer traurigen Entscheidung aus. Als Lauxtermann dann las, was sein Freund bei der Polizei ausgesagt hatte und dass er sich nicht erinnerte, kam es zum Bruch.

Die Betriebsrätin

Högel kam 2002 aufgelöst und ängstlich ins Betriebsratsbüro des Klinikums Oldenburg, man wollte ihn loswerden. Natürlich musste die Betriebsrätin nachfragen, was ihm denn vorgeworfen wurde. Und seine Rechte als „Arbeitnehmer“ vertreten, daran lässt das Gericht keinen Zweifel. Die Betriebsrätin erinnerte sich gut an viele Details und Namen, sie hatte ja auch gerade erst dort angefangen und verfolgte hellwach ihre neuen Aufgaben.

Leider sind ihre direkt auf Högel bezogenen Erinnerungen dafür blass, aber es gibt Betriebsratsprotokolle. Die Klinik-Verwaltung vermied zunächst genaue Informationen, verwendete offensichtlich eher allgemeine Sätze, „das Vertrauen ärztlicherseits“ sei nicht mehr gegeben. Das reicht im Zweifelsfall für eine Kündigung, denn wenn das Vertrauen zerstört ist, wird es schwierig, zusammenzuarbeiten, ganz besonders in einer Klinik. Dringend wird aber versucht, den Betriebsrat davon zu überzeugen, er möge auf Högel einwirken, mit dem versprochenen Zeugnis das Haus zu verlassen. Der Geschäftsführer wies nun auch darauf hin, dass mehrmals Notsituationen entstanden seien, bei denen immer Högel zugegen war: „Zum Schutz von Herrn Högel selbst und auch zum Schutz der Patienten“, schließlich auch „um einen möglichen Imageschaden abzuwenden“ müsse Högel gehen, verzeichnen die Aufzeichnungen des Betriebsrats.

Auf den Einwand der Betriebsräte, die Notfallsituationen könnten doch Zufall sein, gab der Geschäftsführer zu Protokoll er halte das für „nahezu ausgeschlossen“. So hielt der Betriebsrat es für geboten, Högel, der übrigens ablehnte, in einem weniger stressigen Bereich mit weniger verantwortungsvollen Aufgaben zu arbeiten, in diesem Sinne zu beraten: Das Vertrauen sei unwiederbringlich dahin. Der Richter fragt auch, ob die Betriebsrätin sich an andere Situationen erinnern kann, dass – wie im Fall Högel – einem Beschäftigten von einem Tag auf den anderen verboten wird zu arbeiten, aber volle Bezüge bis zum Jahresende gewährt werden, ein gutes Zeugnis in Aussicht gestellt, aber er müsse sich schnell entscheiden und sich dann weg bewerben, sonst werde er entlassen … Nein, nie. In dieser Situation hat Högel sich auch mit seinem Pfleger-Freund und der Familie beraten; die fragten sich auch, was ihm denn vorgeworfen werde. Dabei muss einmal von Högel der Satz gefallen sein, es ginge um so etwas wie beim Feuerwehrmann, der Brände legt. Sein Vater und der Freund meinten, er solle kämpfen, Mutter und Schwester waren eher für das Nachgeben.

2005 bekam die Betriebsrätin nochmals mit dem Fall Högel zu tun: Ein Betriebsrat aus Delmenhorst rief an und erkundigte sich, ob mit Högel in Oldenburg etwas nicht gestimmt habe. Hier ist die entscheidende Frage, was genau der Delmenhorster Betriebsrat ansprach – und wann! Bevor Högel überführt wurde? Sie kann sich nicht erinnern. Der Richter baut goldene Brücken und führt die allgemeine Lebenserfahrung an: Unter Betriebsräten redet man doch offen, der Delmenhorster wird doch ein bestimmtes Thema, einen bestimmten Verdacht angesprochen haben … Die Betriebsrätin hat immer noch regelmäßigen Kontakt zu dem Kollegen, aber erinnern kann sie sich nicht. Folgt der Eid.

Rauchertreppe zur Hölle

In den Zeugenerinnerungen gibt es einige Schlüsselszenen, die umstritten sind, denn sie könnten belegen, dass es konkrete Verdachtsmomente gegen Högel gab, dass er nicht Kochsalz zum Reinigen eines Venenkatheters in seiner mitgeführten Spritze hatte, sondern Kaliumchlorid. Das eine kann Leben retten, das andere auch beenden. So soll eines Tages ein Oberarzt in Högels Kittel gegriffen, die Spritze herausgezogen haben, um damit seine Brille zu reinigen: „Meine Brille ist schmutzig, da ist Kochsalz ja das beste Reinigungsmittel“, die Lösung auf der Brille verschmierte diese aber so, dass der Arzt sie sogar in einem anderen Raum gründlich reinigen musste. Also: Das war kein Kochsalz, das war Kalium! Das war der Beweis! So erzählt es der Zeuge, der die Geschichte aber nur von einem Kollegen erzählt bekommen hat. Dieser erinnert sich nicht.

Ein Zeuge sagt gar, die Brille sei dann sauber gewesen. Andere haben davon gehört, können aber nicht … Wann und wo soll das gewesen sein? Glücklich wer nicht rauchte, und vom bloßen Hörensagen will man ja niemanden belasten. So stieg die Spannung, was der Arzt wohl sagen werde.

Der damalige Oberarzt, der jetzt in den Niederlanden beschäftigt ist, kam mit Rechtsbeistand. Auf die Frage, ob er sich an die Szene auf der „Rauchertreppe“ erinnerte, die so viele Zeugen berichtet hatten, von der noch mehr gehört hatten, begannen seine Erklärungen weitschweifig: Er sei kurzsichtig und müsse mehrmals am Tag seine Brille reinigen … aber an die Szene auf der Rauchertreppe, nein … Der Richter: Ob es denn oft vorkomme, dass er einem Pfleger die Spritze aus dem Kittel ziehe, um damit seine Brille zu reinigen … Es dauert lange und ist mühselig, aus den Aussagen das Zugeständnis herauszuhören, man habe Högel beobachtet. Angesichts der Vereidigung bat der Rechtsbeistand um Unterbrechung der Sitzung, offensichtlich wollte er seinen Mandanten belehren, dass dieser einige Leugnungen etwas abschwächen sollte, so dass dieser nach der Verhandlungspause auch erklärte: „Es kann sein. Ich weiß es nicht genau.“

Erinnerungslücken sind bei Oldenburger Zeugen viel ausgeprägter als bei den Delmenhorster KollegInnen Högels. Auch in Delmenhorst gab es enorme Widerstände, einen Kollegen zu verdächtigen. Es gab typische bürokratische Handlungsmuster: Als man sich über den hohen Verbrauch des Herzmedikaments Gilurytmal wunderte (das Högel benutzte), wurde das Medikament vom „Sondermedikament“ zum „Standardmedikament“ umdeklariert, damit die Nachbestellungen vereinfacht wurden! Aber einzelne KollegInnen gaben sich nicht zufrieden. „‚Stell’ dich nicht so an‘, habe der Stationsleiter gesagt, berichtet S. vor Gericht, ‚die Menschen werden nun mal älter und sterben. Wenn du das nicht mehr kannst, dann musst du eben aufhören.‘ S. erzählt einer Kollegin von dem Vorfall. Die sagt: ‚Birgit, weißt du eigentlich, was du hier gerade machst? Das ist Rufmord! Du hast keine Beweise!‘“ (NWZ 1.2.2019). Es siegte aber hier Zivilcourage und Verantwortungsbewusstsein über die „Corporate Identity“, zuerst in einzelnen.

Chefsache

Beim erwähnten Oberarzt kam noch ein anderes Motiv zur Geltung: Zuerst sei man ja Wissenschaftler, wenn also gehäufte Fälle von Komplikationen, Reanimation beispielsweise auftreten, so sucht man die Ursache, aber nicht auf der Ebene, ob es einen Verursacher gebe, sondern abstrakt-wissenschaftlich. Dann sei das an den Chefarzt gemeldet worden „und damit wurde es zur Chefsache“, er habe sich dann gar nicht mehr damit beschäftigt, denn wenn in Deutschland etwas Chefsache sei … „deswegen hat man in Deutschland Hierarchie“ (NWZ 23.02.2019).

Die Entlastung durch Hierarchie ist allerdings, auch wenn sie hier zu einer zweifelhaften Selbst-Entlastung angeführt wird, ein tatsächlich wirksamer Mechanismus bürokratischer Organisationen, unverantwortlich zu agieren. Diese Chefsache hat dann immerhin dazu geführt, dass Hebel in Bewegung gesetzt wurden, den beliebten Kollegen Högel zunächst aus der Kardiologie-Station in die Anästhesie zu versetzen und schließlich loszuwerden.

Wo so ein derart starkes Machtgefälle herrscht wie in einem Krankenhaus, kann man die Machtlosen letztlich nicht vollkommen schützen. Grundsätzlich gehe ich aber davon aus, dass alle in einem Krankenhaus tätigen Menschen an dem Wohlergehen der Patienten interessiert sind. (…) Denn die Arbeit besonders auf den Intensivstationen ist enorm anstrengend. Es muss deshalb ausreichend Gelegenheiten geben, offen über Schwächen und Probleme sprechen zu können. Und: Whistleblowing darf nicht als Verrat gelten. Wenn jemand das Gefühl hat, etwas läuft schief, dann muss es eine Kultur geben, die es würdigt, wenn jemand einen Verdacht äußert. Herr H. wäre heute froh, wenn seine Taten eher heraus gekommen wären.“ (Karyofilis in der Ärzte-Zeitung, 27.2.2015)

Der Prozess zeigt, wie weit wir davon entfernt sind!

Ein früherer Freund und Kollege Högels, sie spielten Fußball im gleichen Verein, er wurde von Högel ans Klinikum Oldenburg geholt und ging mit ihm dann nach Delmenhorst, ahnte wohl tatsächlich nichts und sagte im Prozess, er könne nie wieder als Krankenpfleger arbeiten. Hier ist also ein Vertrauen verloren gegangen, das die meisten ZeugInnen immer wieder betonen: „Auf der Intensivstation muss man sich blind vertrauen können.“ „Diese Vertrauensbasis erlange ich nie wieder“, sagt Stephan K. (NWZ 23.02.2019)

Johann Bauer

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.