von hütten und palästen

Öffentlich bauen statt Private fördern!

Die Wohnungsfrage 2019

| Sebastian Gerhardt

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Foto: Construction Sites Berlin via flickr.com (CC BY 2.0)

Mieterorganisationen und Initiativen haben die Wohnungsfrage in den letzten Jahren auf die politische Tagesordnung gesetzt.

Die Regierungsparteien mussten reagieren. Und sie reagierten wie üblich. Mit rhetorischen Zugeständnissen – Seehofer: „Die Wohnungsfrage ist die soziale Frage des 21. Jahrhunderts!“ – und realer Klientelpolitik: Das sogenannte „Baukindergeld“ ist tatsächlich nur in 12,3 Prozent der Fälle für einen Neubau, aber in 87,7 Prozent für den Erwerb von Bestandsimmobilien genutzt worden. Doch der Protest geht weiter. Am 6. April 2019 demonstrierten bundesweit etwa 55.000 Menschen gegen „Mietenwahnsinn“, davon etwa 40.000 in Berlin. In der Hauptstadt begann an diesem Tag die Unterschriftensammlung für die erste Stufe eines Volksentscheids, in dem unter dem Slogan“ „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ der Senat von Berlin „zur Erarbeitung eines Gesetzes zur Überführung von Immobilien sowie Grund und Boden in Gemeineigentum zum Zwecke der Vergesellschaftung nach Art. 15 Grundgesetz aufgefordert“ wird. Der Vorschlag zielt auf große Wohnungsunternehmen mit mehr als 3.000 Wohnungen und „mit Gewinnerzielungsabsicht“. Öffentliche oder genossenschaftliche Unternehmen sind ausdrücklich ausgeschlossen. Die Wohnungsbestände der profitorientierten Unternehmen sollen zur Verhinderung künftiger Privatisierungen in eine Anstalt öffentlichen Rechts eingebracht werden. Was am Ende in einem Gesetz des Berliner Senats stehen würde, ist nicht klar. Dennoch bestehen keine Zweifel, dass die Unterschriften für die erste Stufe rasch zusammenkommen.

Mietenwahnsinn-Demo in Köln, April 2019 – Foto: Herbert Sauerwein
Privatsache

Dabei ist die Wohnungsfrage normalerweise eine ganz private Sache – und erfreut sich genau deshalb höchster Wertschätzung. Das Bundesverfassungsgericht stellte 1993 in einer Grundsatzentscheidung fest: „Die Wohnung ist für jedermann Mittelpunkt seiner privaten Existenz. Der Einzelne ist auf ihren Gebrauch zur Befriedigung elementarer Lebensbedürfnisse sowie zur Freiheitssicherung und Entfaltung seiner Persönlichkeit angewiesen.“ Und in Anerkennung der Realitäten – heute wohnt etwa die Hälfte der Bevölkerung der Bundesrepublik im selbstgenutzten Wohneigentum, die andere Hälfte zur Miete – kamen die Verfassungsrichter zu dem Schluss: „Das Besitzrecht des Mieters erfüllt unter diesen Umständen Funktionen, wie sie typischerweise dem Sacheigentum zukommen.“ Die Eigentumsgarantie des Artikels 14 Grundgesetz komme daher nicht nur dem Vermieter, sondern in gewisser Weise auch dem Mieter zugute: „Die Befugnisse von Mieter und Vermieter zuzuordnen und abzugrenzen, ist Aufgabe des Mietrechts.“ Diese höchstrichterliche Position fasste langfristige Entwicklungen des deutschen Wohnungsmietrechts zusammen, wie sie insbesondere in den Bestimmungen zum Kündigungsschutz und im Vorherrschen unbefristeter Mietverträge deutlich werden. Die Ausgestaltung des Mietrechts macht aber auch deutlich, dass in der Beschreibung des Mietverhältnisses als eines „eigentumsähnlichen“ Rechts „ähnlich“ nicht „gleich“ bedeutet. Und erstmal muss man ja einen Mietvertrag haben.

Es fehlen über eine Million Wohnungen

Die Zunahme der Neubauzahlen bleibt weit hinter dem festgestellten Bedarf zurück und trägt Züge eines kurzfristigen Booms mit deutlichen Preiserhöhungen ohne nachhaltigen Ausbau der Kapazitäten in der Bauwirtschaft. Die Angebotsmieten – das heißt, die Mieten, die beim Abschluss eines neuen Vertrages fällig werden – sind seit 2010 nicht nur in Großstädten und Ballungsräumen massiv gestiegen, weit über die Zunahme der Baukosten hinaus. Auf angespannten Wohnungsmärkten können sich die Vermieter*innen ihre neuen Mieter*innen aussuchen – und Neumieter*innen sind in der Regel froh, wenn sie ausgesucht werden. Die sogenannte „Mietpreisbremse“ hat daran nichts geändert. Jeden Tag müssen Menschen neue Wohnungen für neue Lebenssituationen suchen, aus verschiedensten Gründen umziehen und diese hohen Angebotsmieten zahlen. Die Bestandsmieten liegen deutlich darunter, aber auch hier ist der Aufwärtstrend ungebrochen.

Laut amtlicher Statistik gehören 65 Prozent aller Mietwohnungen Privatvermietern. Privatwirtschaftliche Unternehmen halten 13 Prozent des Mietwohnungsbestandes, kommunale Wohnungsunternehmen noch elf Prozent, Wohnungsgenossenschaften kommen auf neun Prozent. Die restlichen zwei Prozent des Mietwohnungsmarktes entfallen auf Bund, Länder und „Organisationen ohne Erwerbszweck“. Der Anteil der Privatvermieter*innen ist in ländlichen Regionen und kleinen Städten sowie in den alten Bundesländern deutlich höher als im Osten und in den Metropolen, wo privatwirtschaftliche und öffentliche Unternehmen stärker vertreten sind.

Ungleich verteilte Vermögen

Die Immobilienlobby betont zwar immer wieder, dass 80,6 Prozent der Wohnungen im Besitz von Einzeleigentümern sind – aber das ist bewusst und grob irreführend. Wie das Vermögen insgesamt, ist das Immobilienvermögen sehr ungleich verteilt. Bei den meisten Haushalten besteht es nur aus dem Hauptwohnsitz. Nur etwa 20 Prozent aller Haushalte hat andere Immobilien wie Mietwohnungen oder Grundstücke. Die amtliche Statistik spricht hier von „privaten Kleinanbietern“, was nett und persönlich klingt. Doch sind diese Haushalte nicht nur durchschnittlich deutlich reicher als die meisten Bewohnerinnen und Bewohner des Landes; das Wort „klein“ suggeriert hier auch für verschiedene Anbieter sehr Differenziertes: Für einige bedeutet es Verluste, für viele einen Vermögenswert, aber ohne nennenswerte Erträge daraus erzielen zu können. Nur eine relevante Minderheit – weniger als zwei Prozent aller Haushalte – schafft es, ordentliche Einnahmen aus den Mietobjekten zu generieren: Auf diese Gruppe von 750.000 Haushalten entfallen mehr als 2/3 aller privaten Mieteinnahmen.

Das Eigentum an Wohnimmobilien mit den dazugehörigen Praktiken – von der Bauplanung bis zur Instandhaltung, von der Kreditaufnahme bis zur Kredittilgung, vom Abschluss eines Mietvertrages über die Mietzahlung der Mieter*innen bis zur Betriebskostenabrechnung der Vermieter*innen – strukturiert den Alltag in allen Teilen der Gesellschaft. Politisch gesehen bilden das selbstgenutzte Wohneigentum und die private Vermietung eine reale, wenn auch zuweilen prekäre Basis der Propaganda für „Freiheit durch Eigentum“, für privatwirtschaftliche Lösungen der Wohnungsfrage. Doch romantische Illusionen über eine Lösung der Wohnungsfrage durch engagierte Kleineigentümer*innen sind angesichts der Höhe der notwendigen Investitionen im Wohnungsbau, der Größe der Probleme nicht nur in Großstädten und Ballungsräumen und angesichts der realen Kräfteverteilung auf dem Immobilienmarkt offensichtlich unangebracht. Vielmehr gilt auch hier die Warnung des Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt: „Jeder Versuch eines Einzelnen, für sich zu lösen, was alle angeht, muß scheitern.“

Große Probleme brauchen große Lösungen

Einen Teil einer Antwort hat der Jurist Peter Weber mit dem Vorschlag einer öffentlich-rechtlichen Mietpreisbegrenzung ausformuliert: Dazu gehört ein Bündel von Maßnahmen, von einer Erfassung aller Wohnungen und Mietverträge über Mieterhöhungsverbote bis Erschwerung der Eigenbedarfskündigung. Doch einen solchen Großkonflikt mit allen Vermieter*innen riskiert man nicht so leicht. Sozialdemokratische Sprüche über einen „Mietpreisdeckel“ meinen tatsächlich nur eine leicht verschärfte „Mietpreisbremse“, mit bekannter, beschränkter Wirksamkeit.

Der Slogan „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ klingt auch nach einem großen Wurf. Aber die schematische Übertragung positiver Erfahrungen aus der Rekommunalisierung öffentlicher Dienstleister (Wasser, Energie usw.) auf den Wohnungssektor wird an dem ganz anderen Umfang der Aufgabe und der festen Verankerung des privaten Grundeigentums in der Struktur dieser Gesellschaft scheitern. Eine Enteignung ohne Entschädigung sieht das Grundgesetz nicht vor. Eine Entschädigung in der Höhe des Verkehrswerts würde die Investoren nur mit frischen Mitteln für neue Spekulationen ausstatten. Die vorliegenden phantasievollen Rechnungen der Enteignungsinitiative zur „Kostenschätzung“ versuchen sich an der Quadratur des Kreises: das Eigentum soll geachtet werden, aber es soll nicht viel kosten. Von daher droht in der politischen Auseinandersetzung weiter eine Sackgasse: Trotz sich zuspitzender Probleme auf den Wohnungsmärkten sind in der Debatte keine realistischen Alternativen erkennbar. Die Situation erscheint ebenso schlimm wie unveränderbar. Tatsächlich bereitet sich die gewerbliche Wohnungswirtschaft schon auf die nächste Phase vor, das Verhandeln um einen gesichtswahrenden Kompromiss. Sie schlägt den Ankauf von befristeten Belegungsbindungen im Bestand vor: Eine profitable Wiederaufnahme des alten sozialen Wohnungsbaus, nur ohne den umständlichen Umweg der Errichtung neuer Wohnungen.

Der Wohnungsmangel ist real

In der Antwort auf den Wohnungsmangel werden die gesellschaftlichen Lebensbedingungen für die kommenden Jahre aktiv gestaltet – so oder so: Mit einer Zementierung der gesellschaftlichen Spaltung oder einem Ausbau des Sozialstaats. Die heutige Siedlungsstruktur ist weder unter sozialen noch ökologischen Gesichtspunkten nachhaltig und zukunftsoffen. Eine demokratische Gesellschaft braucht eine soziale Infrastruktur, deren Teil die Wohnungsversorgung ist. Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik hat deshalb im MEMORANDUM 2018 das Programm eines neuen kommunalen Wohnungsbaus vorgeschlagen – und im diesjährigen MEMORANDUM das Konzept weiter ausgebaut.

Worum geht es?

Eine soziale Lösung der Wohnungsfrage muss die Eigentumsfrage ernst nehmen: Öffentlich bauen statt Private fördern! Es dürfen nicht wieder private Eigentümerinnen und Eigentümer beschenkt werden, wobei die Belegungsbindungen und Mietgrenzen lediglich einen befristeten Kollateralnutzen darstellen. Ein neuer kommunaler Wohnungsbau bedarf einer Objektförderung, also des Einsatzes staatlicher Gelder für die Errichtung neuer, guter und bezahlbarer Wohnungen. Denn nur durch ein vergrößertes Angebot kann der Druck der Eigentümerinnen und Eigentümer auf die Mieterinnen und Mieter vermindert werden. Deshalb sind öffentliche Gelder in den öffentlichen Wohnungsunternehmen zum Neubau guter Wohnungen einzusetzen, die dauerhaft in öffentlichem Eigentum verbleiben und damit einer politischen, demokratischen Kontrolle zugänglich sind. Die kommunale Selbstverwaltung sollte durch Formen der Mietermitbestimmung ergänzt werden.

Der Aufbau eines öffentlichen Wohnungsbestands richtet sich gegen den neoliberalen Abbau des Sozialstaats zu einer Armenbetreuung wie gegen die Ablösung staatlicher Verantwortung durch private Initiativen oder Wohltätigkeit. Es geht nicht bloß um eine Versorgung „einkommensschwacher Haushalte“, die von der Politik als Problemgruppen definiert und besonders betreut werden. Die Subjektförderung (Kosten der Unterkunft, Wohngeld) ist nötig. Sie allein kann aber das Wohnungsproblem nicht lösen. Im Gegenteil: es muss das Ziel sein, als Schritt zur Bekämpfung der Armut die Isolation der Armen zu verhindern und die Wohnbedingungen breiter Bevölkerungsschichten zu verbessern.

Die Kosten im Wohnungsbau (ohne Grundstücke) liegen in der Bundesrepublik heute – mit regionalen Unterschieden – in der Regel jenseits der 2.000 Euro je Quadratmeter. Billig sind gute Wohnungen nie. Doch lassen sich im öffentlichen Wohnungsbau die zu veranschlagenden Mieten drastisch senken: Die öffentliche Hand muss als guter Schuldner keine hohen Zinsen zahlen und muss auch keine hohe Rendite erzielen. Zudem kann öffentlicher Wohnungsbau durch den Aufbau entsprechender Kapazitäten im kostengünstigen seriellen Wohnungsbau die Baukosten deutlich senken. Mieten im Neubau unter sieben Euro pro Quadratmeter sind machbar – statt elf Euro oder mehr pro Quadratmeter im frei finanzierten, renditeorientierten Wohnungsbau. Voraussetzung ist ein langfristig angelegtes Programm – sonst werden die Baukapazitäten nicht ausgebaut werden.

Investitionssteuerung kann nicht im luftleeren Raum existieren, sie muss materiell unterfüttert sein. Es geht nicht um die mehr oder weniger guten Absichten von Investoren. Die in den vergangenen Jahren im Umfeld der Grünen und der LINKEN diskutierte „neue Gemeinnützigkeit“ hat hier ihre Grenzen, denn eine bloße Steuerentlastung reicht nicht aus. Nicht die Rechtsform der Gemeinnützigkeit, sondern nur eine massive öffentliche Förderung würde es gemeinnützigen Unternehmen ermöglichen, Neubauwohnungen zu sozial akzeptablen Bedingungen zu errichten und zu vermieten. Der Dreh- und Angelpunkt ist auch hier der direkte Einsatz öffentlicher Mittel. Um die bestehende Ungleichheit in der kommunalen Finanzausstattung nicht zu verstärken, muss die Finanzierung auf der Ebene des Bundes und der Länder sichergestellt werden.

Als erster Schritt ist ein Sofortprogramm zur Errichtung von 100.000 neuen Wohnungen pro Jahr im öffentlichen Eigentum nötig und machbar: Das nötige Investitionsvolumen von 18 Milliarden Euro kann zu 40 Prozent – etwa sieben Milliarden Euro – von der öffentlichen Hand direkt aufgebracht werden. Die verbleibenden 60 Prozent sollten kreditfinanziert gedeckt werden, also von öffentlichen Investitionsbanken akquiriert und bereitgestellt werden.

Eine solche Veränderung wird nur durch eine demokratische Veränderung der Kräfteverhältnisse, nicht durch Lobbypolitik oder medienwirksame Symbolpolitik umgesetzt werden. Dazu braucht es mehr als Protest: Dazu braucht es Organisierung, in der sich das Selbstverständnis der beteiligten sozialen Akteure ändern kann und ändern muss. Leider waren auch einige Aktivist*innen und manche Linke etwas erschrocken über die Aussicht auf langfristige staatliche Interventionen im Umfang von vielen Milliarden Euro jährlich, die nur mit großen öffentlichen Wohnungsunternehmen nachhaltige Veränderungen auf dem Wohnungsmarkt herbeiführen können.

Großorganisationen sind bürokratisch. Sie demokratisch zu kontrollieren ist schwierig, erfordert Ressourcen und Aufklärung. Nur lautet die Alternative, den Markt entscheiden zu lassen. Das ist die größere Gefahr.

Sebastian Gerhardt

Sebastian Gerhardt (*1968) lebt als freier Autor und Bildungsreferent in Berlin. Ab Herbst 1989 war er in der „Initiative für eine Vereinigte Linke“ engagiert. Er arbeitet ehrenamtlich in der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik. Sein Geld verdient er mit Ausstellungsführungen in der Topographie des Terrors und im Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst.

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.