Die Tage der Ungarischen Kommune

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„Proletarier! Vorwärts! Ihr seid die Erlöser der Welt!“ Plakat von Lajos Szántó (1919) aus der Sammlung der Széchényi-Nationalbibliothek.

Am 13. November 1918 schloss die ungarische Regierung Waffenstillstand mit den Siegermächten. Von 3,8 Millionen Soldaten waren 600.000 getötet worden, 81.000 desertiert, 750.000 schwer verletzt und ebenso viele in Gefangenschaft geraten. Das ohnehin niedrige Einkommen der Arbeiter wurde weiter gesenkt, die Gewinne des Großkapitals hingegen stiegen um 38 Prozent. In dem Agrarland mit den gewaltigen Latifundien des Adels waren um die Jahrhundertwende zahlreiche industrielle Großbetriebe entstanden. In Budapest lebten 28% aller Fabrikarbeiter. Unter den Abgeordneten im Scheinparlament gab es keinen einzigen Vertreter der Arbeiterschaft und nur zwei Bauern. Für die Bildung der Bürger*innen tat der Staat nichts, jeder Dritte konnte weder lesen noch schreiben. Wegen der schlechten medizinischen Versorgung starb die Hälfte der Kinder vor dem fünften Lebensjahr. Auf 18,2 Millionen Menschen kamen nur 5.800 Ärzte. Wie überall in Europa waren die Menschen „kriegsmüde“, revoltierten, verlangten Frieden, aber auch Bodenreformen und Rätemacht.

Im November 1918 forderten Hunderttausende die Ernennung des Grafen Károlyi zum Regierungschef. Der Budapester Soldatenrat ließ Bahnhöfe, Telefonzentrale, Banken, Brücken und die Postämter besetzen. Offiziere wurden entwaffnet und die politischen Gefangenen befreit. Militärs rissen sich ihre Rangabzeichen ab, steckten als Zeichen des Sieges weiße Astern an die Uniformen und in die Gewehrläufe. Die Machteliten in Wien und Budapest setzten auf Károlyi, da er als Pazifist und Entente-freundlich galt. Seine Regierung aus Linksliberalen und Sozialdemokraten ließ die Volksrepublik Ungarn ausrufen und erklärte die 400-jährige Herrschaft der Habsburger für beendet. Da Reformen ausblieben, teilten Bauern Latifundien auf, bewaffneten sich die Arbeiter und übernahmen die Betriebe. Immer mehr Menschen wandten sich von der Sozialdemokratie ab, da sie an der Seite der Herrschenden agierte.

Der ungarische Journalist Béla Kun hatte sich in russischer Kriegsgefangenschaft den Bolschewiki angeschlossen. Lenin forderte ihn in der revolutionären Situation zur Rückkehr in die Heimat auf. Er gründete die Kommunistische Partei, die schnell Einfluss in den Arbeiter-, Betriebs- und Soldatenräten, sowie in den Gewerkschaften gewann. Die Regierenden verlangten die gewaltsame Auflösung der Partei.

Am 20. März 1919 wurde ein Ultimatum der Pariser Friedenskonferenz überreicht, das den Abzug der ungarischen Truppen aus Ostungarn innerhalb von 36 Stunden verlangte. Die Linksbürgerlichen wollten es nicht akzeptieren. Die Herrschenden setzten ihre letzte Hoffnung ihr Territorium zu erhalten nun auf die Sozialdemokraten, die Internationale und ein Bündnis mit Sowjetrussland. Béla Kun hatte eine Plattform für eine kommunistische Einheitspartei entworfen. Die Sozialdemokratische Partei stimmte einer Vereinigung zu, da sie für die politisch bankrotte Partei die einzige Möglichkeit war, an der Macht zu bleiben. Der Linksruck, hofften sie, werde schon abklingen. Im Programm stand die Errichtung einer Räterepublik, Gleichberechtigung der Nationalitäten, Volksbewaffnung und Aufbau einer Roten Armee, Nationalisierung von Industrie und Großgrundbesitz, die Arbeiterkontrolle über Produktion und Verteilung, sowie die Trennung von Staat und Kirche. Nicht alle Sozialdemokrat*innen und Gewerkschafter waren mit dem Schritt einverstanden und traten nicht bei. Viele Anarchist*innen und Syndikalist*innen traten ein oder unterstützen die Revolution von außen.

Die Regierung hat abgedankt. Diejenigen, die bisher mit dem Willen des Volkes und der Unterstützung des Proletariats regierten, haben eingesehen, dass die Verhältnisse eine neue politische Richtung erfordern. Die Produktion kann nur gesichert werden, wenn das Proletariat die Macht in die Hände nimmt.

Neben dem drohenden Produktionschaos ist die Außenpolitik auch in der Krise. Auf der Pariser Friedenskonferenz wurde im Geheimen beschlossen, fast ganz Ungarn zu besetzen. Die Ententemission gab zu verstehen, dass in Zukunft die Demarkationslinie die politische Grenze bildet. Ferner solle Ungarn Aufmarsch- und Operationsgebiet im Kampf gegen die sowjetrussischen Truppen an der rumänischen Grenze werden. Die uns geraubten Gebiete sollen der Sold für jene tschechischen und rumänischen Truppen sein, mit deren Hilfe man sowjetrussische Truppen schlagen will.

Ich, der provisorische Präsident der Ungarischen Volksrepublik, wende mich gegen diesen Beschluss der Pariser Friedenskonferenz und fordere die Proletarier aller Länder auf, Gerechtigkeit walten zu lassen und Hilfe zu leisten. Ich danke ab und übergebe die Macht dem Proletariat der Völker Ungarns. Mihály Károlyi.“

Der Schriftsteller und bildende Künstler Lajos Kassák war damals 32 Jahre alt. Der absolute Kriegsgegner hatte schon nach dem Attentat von Sarajewo vor dem drohenden Blutvergießen gewarnt:

Es ist unsere Aufgabe, unsere Pflicht, unseren Protest gegen die gefährlichen Anordnungen der Kriegspartei zu erheben, damit sich die Kriegstreiber nicht noch brüsten können, das ganze Land sei auf ihrer Seite … Es ist unsere Aufgabe und unsere Pflicht, im Namen des werktätigen ungarischen Volkes gegen jedes Blutvergießen zu protestieren.“

Seine Zeitschrift „A Tett“ [Die Tat] war 1916 wegen Antimilitarismus verboten worden. Sie vertrat politisch und künstlerisch die gleichen Ziele wie Franz Pfemfert mit der „Aktion“ in Deutschland. In seiner Autobiografie berichtet Kassák über die Tage der Kommune: (1)

Bedenken Sie doch, wie sehr die Kommunisten den Sozialdemokraten den Fehler vorwarfen, die ihnen vom Bürgertum auf einem Tablett dargebotenen Ministerposten angenommen zu haben. Und was ist jetzt geschehen? Auch jetzt wurde ein Pakt geschlossen, noch kleinlicher und grundloser Pakt, als zwischen Sozialdemokraten und Károlyisten. Béla Kun und seine Leute haben ohne nachzudenken die bankrotte Regierung übernommen. Sie haben sie nicht erobert, sondern haben sie geschenkt bekommen, weil niemand außer ihnen derzeit bereit wäre, die ‚Macht‘ zu übernehmen. Ich sehe es so: In dem Augenblick, in dem die kommunistischen Leiter mit den Sozialdemokraten einen Pakt schlossen, haben sie ihr eigenes Programm weggeworfen und damit scheinen sie praktisch das Grab für diese Revolution auszuheben. Die kommunistische Partei ist noch nicht in der Lage alleine zu regieren und das bedeutet gleichzeitig, dass die Sozialdemokraten die Stärkeren sind. Wie wird die neue Regierung gebildet? Mit den Sozialdemokraten gemischt, und dieses halbherzige Gebilde verdrießt und verunsichert mich unendlich. Die Kommunisten waren unüberlegt gierig. Sie hätten warten müssen, bis aus den Reihen der Sozialdemokraten eine neue Regierung entsteht und sie von der Arbeiterschaft gegen den Willen der Regierung aus dem Gefängnis befreit werden. Ich denke, diese Revolution ist ein billiges Vergnügen, und der Pakt zwischen den Führern, besteht umsonst, der Bruderkampf innerhalb der Arbeiterschaft ist damit nicht beendet.“

Niemand teilte meine Meinung. Die sehr nüchterne, realistische Betrachtung in dieser Stunde wurde als Skeptizismus bewertet. Vielleicht auch als Feigheit. Für sie ist jetzt nicht die Zeit dunklen Grübelns, sondern ausgiebigen Feierns.

Bedenken Sie doch, mit dieser Vereinigung hat sich die Kommunistische Partei selbst aufgelöst, und wenn das so ist, haben wir keinen Grund die Revolution zu feiern. Lenin sagte: „Wir sind nicht bereit die Regierung zu übernehmen, wenn sie denen an der Macht zu heikel wird. Die Arbeiterschaft muss die Macht erobern.“ Sehen Sie doch ein, dass es bei uns nicht so war.“

Die Vergesellschaftung wurde durchgeführt, den ehemaligen Besitzern überließ man die Leitung der Staatsbetriebe, jedoch wurden sie von Betriebsräten kontrolliert. Die Kommune musste die Löhne zahlen, sie hatte kaum Einnahmen und das massenhaft gedruckte Papiergeld war wertlos. Eier, Hühner, Milch und Butter waren nur durch Tauschhandel zu bekommen, da die Bauern keine Banknoten akzeptierten. Massen von Flüchtlingen und konterrevolutionäre Bewegungen verschärften die Probleme der Räte. Millionen von Tagelöhnern und Kleinbauern waren enttäuscht, der Großgrundbesitz wurde verstaatlicht, meist unter Leitung des alten Grundherrn und sie erhielten kein eigenes Land. Auch die Bauernunruhen im Juni bewogen die Räte nicht zu einer Kurskorrektur. Sie hätten von Lenin lernen können, dass es unmöglich ist, in einem Agrarstaate gegen den Willen des Bauernvolkes Revolution zu machen.

Maifeierlichkeiten 1919 in Budapest. Bildquelle: Archiv von fortepan.hu
Am 1. Mai 1919 glaubten Arbeiter, die Welt aus den Angeln heben zu können

Ich gehe mit den Demonstranten auf den tobenden Straßen. Ich stoße keine Jubelschreie aus und ich singe nicht wie die Anderen. Die Begeisterung wird durch Neugier gebremst, ich möchte mit dem Verstand ergründen, was in Wirklichkeit mit mir und meinen Genossen geschieht. Ich höre um mich herum: ‚Die Revolution ist ausgebrochen! Es lebe die Revolution!‘ Was soll das ‚die Revolution ist ausgebrochen?‘ Dieser Ausruf wirkt auf mich so wie in meinen Jugendjahren das begeisterte Gegröle der Bauernjungen, mit dem sie den Wanderzirkus, der in ihre Stadt kam, voller Inbrunst begrüßten. Sind nicht wir selbst die Revolution? Wenn wir sie sind, was hat sich in uns und um uns verändert? Wenn wir sie nicht sind, warum schreien wir ohne Unterlass, sie solle leben? (…)

Inzwischen werden die Feierlichkeiten zum 1. Mai mit lauter Betriebsamkeit vorbereitet. Alle verfügbaren Textilstücke und Papiersäcke werden gesammelt und in den Fabriken rot gefärbt, um die ernste, ermüdete Stadt in schrillen Festtagsgewand erscheinen zu lassen. (…)

Es ist die Feier der Freiheit der Arbeit und der menschlichen Solidarität. Unter welcher Regierung auch immer die Massen leben, für feierlichen Klimbim, Aufmärsche, Gesänge und Festtagsredner, die ihnen eine bessere Zukunft versprechen, waren sie immer zu haben. Und auch an diesem Morgen war es so, als ob die Stadt neugeboren wäre. (…)

Mag sein, dass dieser Tag doch eine Wende bedeutet. Vorgestern schien es noch so, als ob dieses System unaufhaltsam zusammenbricht, und jetzt lodern die Hoffnungsfeuer wieder auf. Doch es kann sein, dass das alles nur Augenwischerei ist. Wegen des Gesangs kann man den Kanonendonner des Feindes nicht hören, und die vielen roten Tücher verdecken die Farben der Bitternis und des Elends.

Morgen früh stehen wir auf und stellen uns wieder in das Hamsterrad. Die Arbeiter arbeiten dann, die Heeresgruppen werden von Neuem und Neuem auf Kampf getrimmt, die Frauen stehen für fehlende Lebensmittel vor den Geschäften Schlange (…)

Die Frauen heizen die Stimmung vor den Geschäften an und die Männer verlassen, ohne Gewissensbisse, scharenweise die Front.

Die Zeitungen schreiben umsonst jeden Tag:

‚Die Revolution ist in Gefahr!‘

‚Jeder Proletarier soll zu den Waffen greifen!‘

Ihre Ohren sind taub geworden und die Augen sehen im Nebel nichts. Trotz und Verzweiflung machen sich breit.“

Am 4. Mai 1919 wurde die Generalmobilmachung deklariert. Die französischen, tschechischen, rumänischen und serbischen Truppen hielten den Waffenstillstand nicht ein. Frankreich und Großbritannien planten eine Militärintervention gegen Sowjetrussland und wollten durch die Besetzung Ungarns nicht nur die Revolution schlagen, sondern auch das Land zur Aufmarschbasis gegen Sowjetrussland aufbauen. Die Rote Armee rückte bereits in die rumänischen Gebiete Bessarabien und die Bukowina vor. Die Front war 200 Kilometer von Budapest entfernt. Die Entente verlangte weiterhin den Abzug aus Ostungarn und versprach den bürgerlichen Regierungen in Bukarest, Prag und Belgrad Siebenbürgen, Oberungarn und die Vojvodina als Kriegsbeute. 107.000 Soldaten zogen gegen die Räterepublik. In Szeged bildete die Entente eine konterrevolutionäre Marionettenregierung.

(…) gleichzeitig erstarkt und organisiert sich die rechte Gegenrevolution. Die Provinz ist unruhig, unter der Führung der ehemaligen Notare, Richter, Lehrer und Priester stellt sich bereits ein Teil der Bevölkerung der Dörfer und Städte gegen die Regierungsanordnungen, sie werden nicht Soldaten und vertrieben die Roten, die sie einziehen wollen. Und wenn wir auch in Budapest nach vielen friedlichen Tagen und Wochen von der ersten offiziellen Hinrichtung hörten, so kommen jetzt aus der Provinz Nachrichten von Aufständen und deren Niederschlagungen. (…) die aktiven Kreise des Bürgertums betreiben Mundpropaganda, dass die Proletarische Diktatur in Terrorherrschaft umgeschlagen sei.

Alle wissen, dass Sonderkommandos in der aufständischen Provinz unterwegs sind, und der Name von Tibor Szamuely erscheint in den Vorstellungen des Bürgertums als Symbol von vergossenem Blut. Wir wissen nicht wie viel von den Nachrichten wahr ist, doch die öffentliche Meinung kippt noch mehr, und die Agitatoren der Gegenrevolution gewinnen immer mehr Raum unter dem Volk. Sie haben leichtes Spiel. (…)

Ich müsste von vielem sprechen, das ich für schlecht und verfehlt halte, dessen Resultate ich vorhergesehen habe ohne Politiker zu sein, vorhergesehen habe, wogegen ich aber nicht in der entsprechenden Form protestiert habe und heute kann ich das nicht mehr tun. Damals musste ich im Interesse der Vorbereitung der Revolution schweigen, weil ich selbst der Meinung war, dass in kritischen Momenten aktives Handeln nötig ist und keine missbilligende Kritik. (…) kopflose Schluderei auf allen Gebieten, die Bemühungen der rechtschaffen Arbeitenden reichen nicht aus, um dem leeren demagogischen Geschwafel, dem Opportunismus der ehemaligen Führer der Sozialdemokraten und dem unreifen diplomatischen Spiel der Kommunisten etwas entgegenzusetzen. Alles Gute geschieht zufällig und unerwartet, und es scheint bereits so, dass es nur eine Frage der Zeit ist, das uns der Boden unter den Füssen weg bricht. (…)

Die Arbeiterschaft ist müde, und die Mitglieder der Gruppe der Intellektuellen, die sich unmittelbar vor dem Ausruf der Diktatur an die Seite Kuns stellten, verfingen sich in ihren eigenen Widersprüchen. Sie waren Philosophen, Dichter, Ästheten, und die praktische Bewegung war für sie wie ein Sturm der Wohltätigkeit, doch sie hielten der stürmischen Luft nicht stand, den ständigen Rangeleien, Angriffen und Streitereien und erschöpft fielen sie in den lauwarmen, bodenlosen Sumpf ihrer Hirngespinste zurück. Draußen tobten die Gefahren, und sie zogen sich, bei der kleinsten Gelegenheit, die sich bot, in irgendein Zimmer im Haus der Räte zurück und aus ihrem bitteren Mund strömt der unendliche Schwall prinzipieller Diskussionen. (…) Zitate von Hegel, Marx, Kierkegaard, Fichte, Weber, Jean Paul, Hölderlin und Novalis flogen durch die Luft und diese herausragenden Geister verpesteten mit ihren Spitzfindigkeiten und Verdrehungen die Luft, und wie Nebelschwaden legten sie sich schwer auf die menschliche Psyche.(…)“

Die tschechoslowakische Armee war im Mai 1919 von der Ungarischen Roten Armee unter Kontrolle gebracht waren. Kun verfocht keine nationalen Interessen, doch verschaffte der Sieg der Roten Armee ihm innenpolitisches Prestige. Als Verteidiger der staatlichen Integrität konnte er auch die reaktionären Kräfte in der Armee auf seiner Seite halten, bis die Räteregierung der Rückzugsforderung Clemenceaus nachkam. Im Gegenzug wurden der Abzug der rumänischen Truppen aus Ostungarn versprochen und Friedensverhandlungen angeboten. Der Rätekongress befürwortete Verhandlungen mit den Imperialisten und zog die Rote Armee ab. Wortbrüchig beließen die Ententemächte ihre Truppen in Ostungarn und verschärften zudem die Wirtschaftssanktionen. Anschließende militärische Versuche die Besatzer aus Ostungarn zu vertreiben, endeten in einem Desaster.

Kuns Kommunistenregierung ist zu entfernen, der Bolschewismus zu beseitigen“, forderte nun die Entente und sagte dafür die Aufhebung des Embargos zu. Am 1. August standen die rumänischen Truppen 30 Kilometer vor Budapest. Lenin forderte die Räte auf, solange wie nur möglich durchzuhalten, wohl wissend, dass sie ihm die Armeen Entente vom Hals hielten. Kun trat dessen ungeachtet zurück, um Bürgerkrieg zu verhindern und möglichst viele Revolutionäre den Weg ins Exil zu sichern.

In seiner letzten Rede lamentierte er: „Das Proletariat ließ nicht seine Führer, sondern sich selbst im Stich. Ich erwog, ich überlegte lange, was ich tun sollte. Kalt und ruhig muss ich feststellen: Die Diktatur des Proletariats ist gestürzt. Die Rätemacht hätte ein anderes Ende nehmen können, wenn wir über selbstbewusste und revolutionäre Proletariermassen verfügt hätten.“

Einige ländliche Regimenter in Ostungarn kämpften bis zuletzt, aber nicht um die Rätediktatur zu retten, sondern aus Chauvinismus. Kassák hatte sich in seiner Zeitschrift MA [Heute], die auch von den Räten als das Kulturorgan der Kommune betrachtet wurde, für die Freiheit der Kunst ausgesprochen. MA wurde verboten und der Herausgeber in die „Verbannung“ geschickt, wo ihn die Nachricht erreichte, dass die Räte abgedankt hatten und rechte Sozialdemokraten regierten. Soldaten von Horthys Nationalen Armee inhaftierten Kassák. Über die Haft schreibt er:

Meinen Genossen sah ich an, wie gern sie es gehabt hätten, wenn die Wachen sie zu einer Partie Karten eingeladen und die Männer an der Macht sie mit ein paar Worten des Tadels wieder an die Werkbänke, Malerpinsel, Maurerkelle oder ganz allgemein an die meist schlecht bezahlte Arbeit und in ihre schlecht beleuchteten, elenden Wohnungen zurück gelassen hätten. Ja, sie vertrauen darauf, dass das irgendwie auch geschieht. Und wenn sie aber sehen, dass die Situation sich anders entwickelt, bricht die Verzweiflung aus, und vielleicht werden einige von ihnen zu Verrätern, die ihre Genossen anschwärzen, damit sie selbst leichter aus der Bredouille herauskommen. Einen Augenblick dachte ich, ich müsste mit ihnen reden, sie vorbereiten, damit sie nicht mit unerwarteten Überraschungen konfrontiert werden. Doch das konnte ich nicht tun. Warum sollte ich mich auf historische Tatsachen berufen, wenn ich doch soviel Menschenkenntnis habe, dass ich mir darüber im Klaren bin, dass der Mensch nicht das Tier ist, das aus den Fehlern anderer lernt.“

Eine verhängnisvolle Wendung stand kurz bevor. Wir wussten aber nichts Genaues. Zweifellos werden nicht alle Fabrikarbeiter sich auf die Seite der Regierung stellen, im militärischen Oberkommando laufen Umstrukturierungen, die Gegenregierung in Szeged nennt keiner mehr Marionettenregierung, aber wir vermuten, dass die letzten, entscheidenden Sätze in den außenpolitischen Verhandlungen gesprochen werden. Aus den Kulissen der Diplomatie dringen nur wenige und unsichere Nachrichten zu uns. (…)“

Kuns Nachfolger, der rechte Sozialdemokrat Peidl setzte sämtliche Verordnungen der Räteregierung außer Kraft. Entgegen der Vereinbarungen wurde seine Regierung drei Tage nach dem Einmarsch der Besatzer in Budapest abgesetzt, denn Paris, London und Washington sahen im Oberkommando des Admirals und Großgrundbesitzers Horthys den künftigen Herrscher. Von Selbstbestimmungsrecht und Demokratie war nun nicht die Rede. Im November zog Horthy an der Spitze seiner 24.000 Mann starken „Nationalarmee“ in das „Sündenbabel“ der Räterepublik ein. Die „schuldige und sündige Stadt“ habe die „ihre tausendjährige Geschichte verleugnet, … die nationale Krone und die nationalen Farben in den Staub gezerrt und sich in rote Lumpen gehüllt“. Die Kommune sei nicht ungarisch, sondern jüdisch gewesen. Von einem „jüdischen Dolchstoß in den Rücken des ungarischen Volkes“.

Maifeierlichkeiten 1919 in Budapest. Bildquelle: Archiv von fortepan.hu
Die Reaktion war unerbittlich

Alle Organisationen des Proletariats wurden zerschlagen, Arbeiter, die ihre Waffen schon niedergelegt hatten, ermordet. Zehntausende flohen vor Inhaftierung, Liquidierung, Hungersnot und Elend ins Ausland. Die Franzosen deportierten gegen internationales Recht ehemalige rote Milizionäre nach Marokko und Algerien. Andere wurden vom Militärtribunal zu Zwangsarbeit verurteilt oder nach Guayana verbracht. Die französisch-rumänischen Truppen haben in Budapest den Tod von mehreren Zehntausend Arbeitern zu verantworten. In den Konzentrationslagern drängten sich dreißigtausend Gefangene, die Anzahl der Gehängten und Erschossenen wurde auf neuntausend Menschen geschätzt. Die Kommunistische Partei und die Anarchistenunion wurden zu illegalen Bewegungen erklärt. In der neu konstituierten Nationalversammlung saßen nur Militärs, Priester, Grundbesitzer und Industrielle.

Kassák war gezwungen nach Wien zu fliehen. Dort begann er die Arbeit an seiner Autobiografie. 1926 kehrte er nach Ungarn zurück. Béla Kun ging über Wien nach Russland und fiel dort 1938 einer „Säuberung“ zum Opfer. Stalin ließ die ungarische Kommune nicht als „proletarische Revolution“ gelten. Auf dem XX. Parteitag der KPdSU wurde Kun rehabilitiert. Die historische Einschätzung der Ungarischen Räterepublik war von Anfang an kontrovers, doch in den 1920er Jahren würdigten selbst „rechte“ Kritiker die Leistungen der Kommune für die Volksbildung und ihr kulturelles Schaffen. In Ungarn wird heutzutage nur an die „rote Schreckensherrschaft“ erinnert, den Faschisten Horthy jedoch verherrlichen die Herrschenden als einen Nationalhelden.

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