Die schwarze Fahne wird geschwenkt, stundenlang. Enthusiasmus und Erschöpfung, Leidenschaft und Lustlosigkeit wechseln sich ab. Aber es ist keine anarchistische Demonstration, um die es hier geht. Es ist nur Kunst.
Für die Wiener Festwochen 2019 lässt die Performance-Künstlerin Ula Sickle über mehrere Stunden die Besucher*innen eine große schwarze Fahne hin und her bewegen. Im Begleittext zu der Performance, abgedruckt im Programmheft der Festwochen und auf der Homepage der kanadisch-polnischen Künstlerin wird die Fahne in Zusammenhang mit dem „Schwarzen Protest“ für Frauenrechte in Polen gebracht, bei dem 2016 auch schwarze Fahnen gehisst und geschwenkt wurden. (1) Weiter heißt es in dem Text: „Die schwarze Fahne jedoch lässt sich nicht mit einem bestimmten Kampf in Verbindung bringen und widersetzt sich einer einfachen Interpretation.“ (2)
Mit dem einen bestimmten Kampf hat die Autorin (Andrea Heinz) wohl recht, darauf lässt sich die schwarze Fahne nicht festlegen. Aber eine Bewegung ist doch ziemlich sicher mit diesem Zeichen zu assoziieren, nämlich der Anarchismus. Schon während der Pariser Kommune 1871 soll sie gehisst worden sein, die schwarze Fahne, die Truppen Nestor Machnovs galoppierten mit ihr durch die Ukraine und sie gehört zu den Revolten von 1968 wie die Mao-Bibel und die Che-Poster.
Eine Einführung in Geschichte und Theorie des Anarchismus, die lange Zeit populär war und heute nur noch antiquarisch erhältlich ist, trug deshalb den Titel „Unter der schwarzen Fahne“ (geschrieben von Justus F. Wittkopp). Von all dem wissen die Künstlerin und die Autorin des Begleittextes offenbar nichts. Das ist erstaunlich, weil doch die Kunst derjenige gesellschaftliche Bereich ist, in dem es professionell neben der Form auch um die Bedeutung von Zeichen geht. Und es ist vielsagend, weil offenbar selbst da die Geschichte des Anarchismus heute nicht mehr präsent ist. Ein Kampf um die Zeichen scheint verloren.
Was Dinge und Ereignisse bedeuten, ist nicht ein für alle Mal festgelegt. Wir müssen aber nicht Semiotiker*innen sein, die sich hauptamtlich mit Zeichen befassen, um zu verstehen, dass es von (politischer) Bedeutung ist, welche (kulturelle) Bedeutung die Zeichen haben. Dass im Kunstfeld die schwarze Fahne nicht dem Anarchismus zugerechnet wird, kann als skurrile Geschichtsvergessenheit einzelner oder eines ganzen Milieus abgetan werden. Es deutet aber auch darauf hin, dass die Bedeutung des Zeichens „schwarze Fahne“ im kollektiven Gedächtnis nicht mehr sehr verankert ist. Und das sollte uns interessieren, weil wir zwar nicht Semiotik-Freaks sind, aber doch Leute, die ein Interesse am kollektiven Gedächtnis haben.
Wenn eine schwarz beflaggte Demo nur noch für einen Trauermarsch und nicht mehr für ein Statement für eine freie und gerechte Gesellschaft gehalten wird, haben wir ein politisches Kommunikationsproblem. Denn was könnte und was sollte die schwarze Fahne bedeuten, was hat sie bedeutet? Sie ist die Verneinung aller Nationalfarben und damit aller Nationalfahnen. Im Gegensatz zur weißen Fahne steht sie statt für Kapitulation für den Kampf. Es gibt die schwarze Fahne bekanntlich auch sowohl geteilt – im Schwarz-Rot des Anarchosyndikalismus – als auch gepaart, nämlich mit anderen Fahnen der Befreiung, wie der Historiker Benedict Anderson es in Bezug auf antikoloniale Kämpfe beschrieben hat („Under Three Flags. Anarchism and the anti-colonial Imagination”, London/ New York: Verso 2005). Ihre Bedeutung lässt sich also nur aus der Beziehung erkennen, die ihr in Abgrenzung zu und im Verbund mit anderen Fahnen zukommt.(3)
Die Bedeutung steckt nicht wesenhaft in der Fahne selbst. Sie ergibt sich erst in der Beziehung der Zeichen – Fahne, Farbe – zu anderen Zeichen. Aus der Relation. Die Relationalität der Bedeutungen hervorzuheben ist einer der Einsätze poststrukturalistischer Theorie in den politischen Diskurs. Das ist nicht nur eine akademische Intervention, sondern, wie gesagt, auch politisch relevant. So hat etwa der Philosoph Andrew M. Koch die Nützlichkeit poststrukturalistischer Theorie für den Anarchismus betont. Er schreibt: „Der Kampf um Befreiung besteht aus politischem Widerstand gegenüber einem Prozess des semantischen und metaphorischen Reduktionismus, der den Interessen nach Kontrolle und Macht dient“. (4)
Was semantisch und metaphorisch gültig ist und vermittelt wird, ist politisch nicht nebensächlich. Darauf hinzuweisen ist ein Verdienst poststrukturalistischer Theorie. Sie zeigt auf, wie Wissensproduktion und kulturelle Repräsentation in Macht- und Herrschaftsverhältnisse involviert sind. Dass die Bedeutung von Zeichen relevant und zugleich veränderbar ist, dass sie ein Instrument von Herrschaft ist und eines von Befreiung sein kann, das ist eine grundlegende Einsicht des Postanarchismus. Eine Konsequenz daraus kann der Versuch sein, sich der ganzen Zuordnung und Bedeutungsgebung ganz zu entziehen. Saul Newman etwa nennt genau das postanarchistisch: die anarchistische Kritik an der Repräsentation – das eine steht für das andere, die einen vertreten die anderen – soweit treiben, dass sie auf „eine Ablehnung, sichtbar und damit für eine bestimmte Identität repräsentierbar zu sein“ (5) hinausläuft. Eine andere Konsequenz wäre – und die würde ich als nicht weniger postanarchistisch beschreiben –, sich in das Kampfgetümmel um die Zeichen zu stürzen und um die Verankerung jedes sichtbaren Hinweises auf anarchistische Geschichte und Politik zu bemühen.
Die schwarze Fahne ist selbstverständlich nur ein Beispiel. Es gibt viele andere. Wenn unter „alternative Medien“ heute nurmehr die Organe des ultrarechten Ressentiments subsumiert werden und nicht mehr die Geschichte feministischer, sozialistischer und libertärer Aufbrüche nach 1968 aufscheint oder wenn der 1. Mai nur noch als ordinärer Feiertag und nicht mehr als anarchistisch inspirierter Tag des Kampfes für die Entrechteten und Marginalisierten gelesen wird, steht Ähnliches auf dem Spiel: Der Kampf um die Bedeutung der Zeichen ist auch ein Kampf um die Zukunft emanzipatorischer, gesellschaftlicher Veränderungen! Denn die Interpretation von Zeichen motiviert auch das Handeln der Menschen.
Oskar Lubin
Anmerkungen:
1)Vgl. www.ulasickle.com/performances/relay/41/
2) Vgl. Ula Sickle, Relay, https://www.festwochen.at/programm/produktionen/detail/relay/
3) Jason Wehling hat die Geschichte der schwarzen Fahne im Anarchismus nachgezeichnet, vgl. Jason Wehling: „Anarchism and the History of the Black Flag“ (1995), www.infoshop.org/anarchism-and-the-history-of-the-black-flag/
4) Andrew M. Koch: „Post- Structuralism and the Epistemological Basis of Anarchism”. In: Duane Rousselle und Süreyyya Evren (Hg.): Post-Anarchism. A Reader. London/ New York: Pluto Press/ Fernwood 2011, S. 23-40, hier S.39. [Übers. O.L.]
5) Saul Newman: Postanarchism. Cambridge/ Malden, MA: Polity Press 2016, S. 33 [Übers. O.L.]