Zunächst einmal begrüße ich, daß Saral Sarkar vom Anti-MAI-Komitee im Kongreßreader auf die in der GWR eingeforderte Diskussion um die Verteidigung des Nationalstaats im Rahmen der Anti-MAI-Kampagne eingegangen ist. Meine Antwort ist solidarisch-kritisch gemeint, damit sie hier nicht falsch verstanden wird: als Beitrag zur Klärung innerhalb dieser Kampagne und nicht etwa als Statement gegen sie.
Mehrere Leute aus der Berliner Anti-MAI-Koordinierungsgruppe bedauerten mir gegenüber, daß auf dem Bonner MAI-Kongreß nicht kritischer zum Nationalstaat Stellung bezogen wurde. Nach diesem Eindruck erscheint Sarals Beitrag im Kongreßreader eher als Versuch eines Abschlusses dieser Diskussion und nicht als deren Beginn, zumal die Unterzeichnung des Abkommens verschoben wurde und nun für inhaltliche Diskussion etwas mehr Zeit als geahnt gewonnen wurde.
Es ist immer einfach, einer grundsätzlichen Analyse und Positionsbestimmung vorzuwerfen, sie sei „pauschal“, „Ausdruck eines anarchistischen Dogmas“ und „sonst nichts“. Tony Clark’s Einleitungsreferat auf dem Kongreß hörte sich demgegenüber anscheinend geradezu differenziert an, er sprach von „guten“ und „schlechten“ Verwirklichungen des Konzepts „nationaler Souveränität“. Doch ernsthaft hat die ideologische Befürwortung des demokratischen Nationalstaats noch in keiner Begründung je bestritten, daß es nicht auch eine schlimme Version des Nationalstaates geben könne, daß der Nationalstaat nicht auch zur Diktatur degenerieren könne. Der Nationalstaat wurde immer schon damit gerechtfertigt, daß es „auch“ gute Nationalstaaten geben könne, daß das eben „vom politischen Charakter der Regierung“ abhinge, es somit um eine demokratische Regierung gehe. Diese Argumentationsfigur ist die Legitimationsideologie für sozialdemokratische Politik par excellance – und die anarchistische Analyse hat das natürlich immer auch berücksichtigt. Sie hat nicht platt Staat und Regierung ineinsgesetzt, sondern theoretisch und historisch aufzeigen können, daß auch „gute“ Regierungen den reaktionären und repressiven Charakter des Nationalstaats gerade nicht verändern. Dazu braucht gar nicht bis zu Ebert, Noske und Scheidemann und ihrer Unterdrückung der Revolution von 1918/19 zurückgegangen werden, es reicht der Hinweis auf die sozialliberale Koalition von 1969-1982, um genügend Anschauungsmaterial aufbieten zu können: der Abbau der sozialen Sicherungssysteme, Kürzung des Bafög usw. hat damals begonnen, war originäre SPD- Politik. Der Polizeistaat der SPD war repressiver als es derjenige der CDU in den fünfziger und sechziger Jahren war. Und auch heute setzt etwa New Labour in Britannien nahtlos die soziale Ausgrenzungsstrategie des Neoliberalismus fort. Die Funktion sozialdemokratischer Regierungsformen, ob sie sich nun links, links-grün oder wie auch immer nennen, in demokratisch verfaßten Staaten war niemals die Durchsetzung einer wirklich emanzipatorischen Politik, einer tatsächlichen Alternative, sondern sie mußte bei zunehmendem Unmut und latenter Widerstandsbereitschaft in der Bevölkerung nur den öffentlichen Anschein erwecken, es gäbe eine solche Alternative innerhalb des Systems. Demnächst und angesichts der ungelösten Massenarbeitslosigkeit könnte dieser Anschein auch die Schröder-SPD an die Macht bringen. Doch am Charakter des Nationalstaats ändert diese veränderte Regierungsform überhaupt nichts!
Saral argumentiert an zwei Stellen seiner Replik sehr widersprüchlich. Einerseits lehnt er meine Beispiele Nordkorea und Iran als Gegenargumente dafür, daß protektionistische Politik im nationalstaatlichen Rahmen antiemanzipatorisch ist, ab, weil es nur um demokratisch verfaßte Staaten gehe, die zumindest potentiell offen für BürgerInnenbeteiligung seien. Andererseits führt er aber selbst zwei undemokratisch verfaßte Staaten, den „frühen Sowjetstaat“ und China unter Mao an, wenn er gegen meine Behauptung argumentiert, kein Nationalstaat habe je den breiteren Interessen der BürgerInnen gedient. Ist es wirklich Sarals Ernst, den frühen Sowjetstaat mit seiner Unterdrückung der Machno-Bewegung und des Kronstädter Aufstands als emanzipatorisch anzuführen? Oder das China Maos, mit der Hungerkatastrophe beim Großen Sprung, dem Terror der „Kulturrevolution“, der Bevölkerungspolitik der Zwangssterilisierungen, den Gefängnislagern des Laogai? Kapitalisten- und Feudalherrn-Enteignung ist eben per se keineswegs emanzipatorisch, wenn sie nicht wirklich den Menschen zugute kommt und die Betriebe und Ländereien nicht unmittelbar selbstverwaltet werden. Im übrigen gehört die NEP-Politik Lenins (Einführung freier Märkte unter Aufsicht der Sowjetherrschaft) auch zum „frühen Sowjetstaat“: nicht die Abschaffung des Kapitalismus, sondern die Eroberung und der Ausbau staatlicher Herrschaft war das Ziel kommunistischer Parteipolitik. Deswegen ist der Übergang von Staatssozialismus zum Kapitalismus im heutigen China auch kein Widerspruch: Hauptsache, die Partei bleibt an der Macht! Als Ökosozialist und radikaler Industrialismuskritiker weiß Saral Sarkar doch, daß gerade in Maos China aus der Knochenarbeit von Menschenmassen nur die ursprüngliche Akkumulation, der Überschuß für Industrialisierung und Militarisierung ausgepreßt werden sollte. Dieses Konzept der „autozentrierten Entwicklung“ mit nahezu vollständiger Abschottung vom Weltmarkt haben hierzulande linke Theoretiker wie Senghaas und Menzel jahrelang verfochten, bis hin zum Desaster – heute sind sie die reaktionärsten Befürworter von Freihandel und Weltmarktintegration. Als ob da kein Zusammenhang bestünde!
Ein Wort noch zu einem der zwei von Saral angeführten indischen Bundesstaaten: in Westbengalen war die Grundlage für die Reformpolitik der KommunistInnen (CPI/M) die gewaltsame Niederschlagung von Bauernaufständen, der sogenannten „Naxalitenaufstände“. Nur deshalb war eine KP-geführte Länderregierung für das System das kleinere Übel. Eingeführt hat die CPI/M zum Beispiel gesetzliche Obergrenzen für Landbesitz: daraufhin haben die Großgrundbesitzer ihre Ländereien nach Parzellen bis hin zur Obergrenze an die einzelnen Individuen der in Indien ja sehr zahlreichen eigenen Großfamilie vermacht – mit dem Ergebnis, daß die Großgrundbesitzer faktisch nicht enteignet wurden. Nur wenig und auch nur wenig gutes Land wurde an Landlose und Pächter verteilt. Heute sind die Landlords in Westbengalen mehrheitlich Mitglieder der Kommunistischen Partei/MarxistInnen! So kann’s kommen, wenn man/frau soziale Politik im nationalstaatlichen Rahmen machen will, was ja erklärtes Ziel der CPI/M war und ist.
Auch daß sich hierzulande Rechtsextreme zum Anti-MAI-Kongreß anmeldeten und sogar vereinzelt auf dem Kongreß blicken ließen, sollte nicht so einfach als zu vernachlässigendes Problem beiseitegeschoben werden. Mit einer strategisch weniger festgelegten Ausrichtung auf die Verteidigung des Nationalstaats, mit einer stärkeren Ausrichtung auf die Verteidigung von Subsistenz und kommunale, regionale und transnationale Autonomierechte könnte auch den Rechtsextremen schneller das Wasser abgegraben werden.
Ein weiterer Widerspruch: einerseits sagt Saral, heute müsse die Souveränität des Nationalstaats verteidigt werden, „dann und nur dann“ bleibe überhaupt die Möglichkeit offen, das auch von ihm geteilte langfristige Ziel des sozialistischen Internationalismus zu verwirklichen. Kurz zuvor sagt er aber schon einschränkend, daß es „heute und in der absehbaren Zukunft“ keinen anderen Garanten für demokratische Rechte als die Nationalstaaten geben könne. Ich meine, hier wird das Ziel schon von vorneherein sehr weit in die Zukunft verlegt. Ist das nicht ein Rückfall in die überwunden geglaubten Tiefen marxistischer Dialektik? Die gewaltfrei-anarchistische Theorie der Ziel-Mittel-Relation besagt dagegen, daß der heute, konkret beschrittene Kurs natürlich auch die zukünftigen Ziele prägt. Zu oft schon wurden wir AnarchistInnen von den marxistischen Spitzfindigkeiten, den Staat wolle man/frau als Ziel schon abschaffen, aber einstweilen werde er erstmal gebraucht, hereingelegt. Und die historische Erfahrung etwa der Sowjetunion zeigt auch empirisch, daß nicht der Gebrauch marxistischer Geschichtssophismen, sondern das radikal-anarchistische Beharren auf einer Bewertung der konkreten, gegenwärtigen Politik richtig ist.
Trotz dieser Differenzen gibt es einen grundlegenden Punkt, an welchem eine Annäherung an Saral Sarkars Begründung gut möglich ist: und zwar, wenn er sagt, der Sozialstaat im Norden sei „auch“ eine Errungenschaft und daß die Herrschenden diesen Kompromiß eingehen mußten. Genau das ist der springende Punkt: sie wurden von den alten sozialen Bewegungen dazu gezwungen; die sozialen Absicherungen waren eine Reaktion der Herrschenden auf diese Bedrohung ihrer Herrschaft. Deswegen brauchten die alten sozialen Bewegungen den Sozialstaat allerdings nicht von sich aus zu fordern, weder kurzfristig noch langfristig. Sie forderten in ihren besten Momenten nichts weniger als den ganzen Sozialismus (vgl. zu diesen Mechanismen geronnener Kräfteverhältnisse zwischen Staat und gesellschaftlicher Bewegung auch: „Anarchismus und Sozialstaat“ in GWR 219). Was ich damit meine, ist: es ist nicht unsere Aufgabe als MAI-GegnerInnen, auch noch das Geschäft der PolitikerInnen mitzuübernehmen. Und „Staatsmänner alten Stils“ haben wir wirklich nicht mehr nötig. Entweder die Anti-MAI-Bewegung wird so stark, daß sie die Politik schon aus Gründen der Bedrohung und der Selbsterhaltung zu Reformen treiben kann, oder sie wird keine Gegenmacht, dann können von der Politik auch gefahrlos alle Appelle und Vorschläge abgelehnt werden. Unter dieser Voraussetzung habe ich nichts gegen Bündnisstrategien mit bürgerlich-humanistischen Gruppen.