In welchem Zustand befindet sich die anarchistische Bewegung hierzulande aktuell?
Die anarcho-syndikalistische Freie Arbeiter*innen Union (FAU) Berlin schließt zwei Haustarifverträge ab. Die „GaiDao – Zeitschrift der Anarchistischen Föderation“ feiert ihre 100. Ausgabe. Großes Besucherinteresse: Das anarchistische Buch- und Kulturzentrum Black Pigeon eröffnet in der Dortmunder Nordstadt. FAU-Arbeitskämpfe sorgen für Aufruhr in der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek (Thulb) der Uni Jena. Die anarchistische Buchmesse in Mannheim mit jährlich vielen hundert Besucher*innen findet in der fünften Auflage statt. Die anarchistische Waldbesetzung im Hambacher Forst tritt eine Massenbewegung um den Erhalt des Waldes los. …
Die oben genannten Schlagzeilen zeigen: Seit einigen Jahren gibt es wieder vermehrt positive Entwicklungen im organisierten Anarchismus. Die anarcho-syndikalistische Freie Arbeiter*innen Union (FAU) verzeichnet ein kontinuierliches Mitgliederwachstum. Sie hat ihr Gewerkschaftsprofil geschärft und schafft es mittlerweile, kleine Arbeitskämpfe zu führen und teilweise auch zu gewinnen. Die Föderation deutschsprachiger Anarchist*innen (FdA) hat die verstreut existierenden anarchistischen Kleingruppen zusammengeführt und einen überregionalen Raum des Austausches und der Koordination geschaffen. Das hat unter anderem dazu geführt, dass anarchistische Gruppenprojekte nun deutlich langlebiger existieren sowie auf geringem Niveau kontinuierlich arbeiten. Es sind bundesweit in den letzten Jahren neue anarchistische Orte entstanden, welche meist den Anspruch haben offene Räume für das Viertel, in dem sie zu Hause sind, zu sein. Und auch in themenspezifischen Bewegungen, wie beispielsweise die Ökologie- und Klimabewegung, sind anarchistische Inhalte wieder stärker präsent oder sind, wie im Hambacher Forst, die bedeutendste und treibende Kraft im Kampf gegen den Braunkohleabbau von RWE.
Dennoch darf dieser positive Aufschwung der anarchistischen Bewegung nicht darüber hinweg täuschen, dass sie hier immer noch eine Kleinstbewegung darstellt – ohne wirksamen gesellschaftlichen Einfluss und ohne die aktuell vorhandenen Möglichkeiten nutzen zu können. Derzeit zeigt sich innerhalb bestimmter Teile der Bevölkerung wieder wachsendes Interesse am Anarchismus und seine Antworten auf derzeit wichtige gesellschaftliche Fragen. Dies wirkt sich allerdings nicht so aus, dass anarchistische Organisationen deutlich wachsen. Die anarchistische Bewegung schafft es also nicht, diese positiven Voraussetzungen in organisatorische Stärke umzusetzen.
Gegenwärtig treten die gesellschaftlichen Widersprüche im Kapitalismus wieder sichtbarer auf. Die politischen Parteien bieten hierfür vor allem repressive Antworten. Diese Umstände haben zur Folge, dass es seit den letzten Jahren soziale Bewegungen gibt, die flächendeckend viele Menschen auf die Straße bringen: Fridays for Future, der Widerstand im Hambacher Forst und generell Kämpfe gegen Braunkohle, Demonstrationen gegen die Polizeigesetze, für eine Seebrücke nach Europa, gegen den Rechtsruck, der feministische Streik am 8. März, gegen Gentrifizierung und Verdrängung sind nur einige Beispiele. Dennoch schafft es die anarchistische Bewegung nur unzureichend ein wahrnehmbarer Teil in den meisten dieser Kämpfe zu sein.
Das liegt nicht allein an der zahlenmäßigen Schwäche, sondern eben auch an zahlreichen Unzulänglichkeiten in der Bewegung selbst. Einerseits ist es hier nach wie vor ein weit verbreitetes Phänomen, dass große Teil der Menschen, die sich als Anarchist*innen bezeichnen, sich nicht dauerhaft organisieren wollen, oder formelle Organisierung generell ablehnen. Viele anarchistische Gruppen und Zusammenhänge haben keine längerfristige Strategie ausgearbeitet und agieren zu wenig strategisch durchdacht.
Damit zusammen hängen einerseits eine inhaltliche und praktische Beliebigkeit sowie Profillosigkeit nach außen. Andererseits wird Spontanität ein hoher Stellenwert zugeschrieben, zu Lasten von längerfristiger Planbarkeit und Kontinuität. Weitere Mängel stellen Unzuverlässigkeit und mangelnde Konfliktfähigkeit dar, sowie öffentliche Unsichtbarkeit und schlechte Außenwirkung. Zuletzt lassen sich tendenziell innerhalb der anarchistischen Bewegung kritisieren: Eine Haltung zur Gesellschaft, die von Isolierung und nicht von einem Kampf innerhalb der Gesellschaft geprägt ist; sowie eine Haltung zur Revolution, welcher eher einer generellen Aufgabe gleichkommt, als die Zuversicht in die Kraft der anarchistischen Ideen und der Machbarkeit der sozialen Revolution.
Als Reaktion auf diese Mängel innerhalb der hiesigen anarchistischen Bewegung hat sich Anfang 2019 mit der Inititative „die plattform“ eine neue anarchistische Organisation gegründet. Sie möchte die oben genannten Unzulänglichkeiten hinter sich lassen. Gleichzeitig gründet sie sich auf den Grundlagen von Plattformismus und Especifismo – in Deutschland quasi noch nie in einem größeren Rahmen umgesetzte anarchistische Strömungen. Die Initiative „die plattform“ will eine spezifische Organisation mit lokalen Mitgliedsgruppen aufbauen. Sie ist föderalistisch aufgebaut. Das heißt, die Entscheidungen werden von der Basis, also den lokalen Mitgliedsgruppen, getroffen. Die in ihr organisierten Anarchist*innen teilen die grundsätzliche anarchistisch-kommunistische und anarcha-feministische Ausrichtung der Organisation. Sie teilen eine gemeinsame inhaltlich-ideologische Richtung. Sie sind sich über kurz-, mittel- und langfristige Ziele der Organisation einig. Um diese Ziele zu erreichen, verfolgen sie kollektiv als (lokale) Gruppen eine einheitliche, mit allen anderen Gruppen der Organisation vereinbarte Strategie. Alle Mitglieder verpflichten sich zur kollektiven Verantwortung. Dies bedeutet: Sie übernehmen Verantwortung für das Gelingen aller Aufgaben der Organisation und jedes einzelnen Mitglieds. Und sie stehen hinter allen Tätigkeiten und Beschlüssen der Gesamtorganisation.
Im Zentrum der praktischen Arbeit stehen soziale Kämpfe. Abseits von anarchistischen Szeneorten, Subkultur und Szenepolitik will sich die plattform in sozialen Bewegungen engagieren. Dies können beispielsweise Mieten- und Stadtteilkämpfe sein, Klima- und Ökologieproteste oder die Beteiligung in den feministischen Streikbewegungen. Grundlage der Beteiligung soll immer die aktuelle Analyse der gesellschaftlichen Situation sowie vorangegangener sozialer Kämpfe darstellen. Ziel ist es, vor Ort an vorhandenen sozialen Problemen und Konflikten anzusetzen. Zusammen mit anderen Menschen der lohnabhängigen Klasse sollen eine kämpferische Basis aufgebaut und konkrete Verbesserungen für die beteiligten Menschen erreicht werden: Die Erweiterung des Gestaltungspielraums im Alltag; Anwendung ökonomischen Drucks; der Aufbau solidarischer Gemeinschaften.
Anarchistische Agitation steht in diesen Kämpfen nicht im Vordergrund. Stattdessen wollen die Mitglieder der plattform schon vorhandene „anarchistische Momente“ innerhalb sozialer Bewegungen fördern. Diese „anarchistischen Momente“ sind beispielsweise basisdemokratische Organisationsstrukturen, gelebte Solidarität, kollektive Selbstverantwortung, Skepsis gegenüber politischen Parteien oder andere herrschaftskritische Ansätze. Gleichzeitig sollen diese „anarchistischen Momente“ gegen die Einflussnahme von politischen Parteien und andere autoritären Gruppierungen verteidigt werden.
Auch wenn einzelne Aspekte von Plattformismus und Especifismo (1) von Anarchist*innen in der Praxis schon umgesetzt werden, ist die Gesamtheit dieser anarchistischen Organisationskonzepte in Deutschland noch weitgehend unbekannt. Um diese Konzepte (und die Initiative die plattform) bekannter zu machen, bot die plattform einen Einführungsvortrag an. Viele anarchistische Organisationen oder soziale Zentren im deutschsprachigen Raum meldeten sich. So kamen von April 2019 bis Ende August insgesamt 25 Veranstaltungen zustande, weitere Veranstaltungen sind im Herbst/Winter 2019 geplant.
Das Organisationskonzept der plattform zieht innerhalb der anarchistischen Bewegung und darüber hinaus weite Kreise. Dies verdeutlichen die große Anzahl an Veranstaltungsanfragen, die vielen Besucher*innen der Vorträge und die oft langen, intensiven Diskussionen im Anschluss. Dabei ist klar, dass die Reaktionen sehr unterschiedlich sind: Es gibt viel Zuspruch, aber auch viel solidarische Kritik. Die allermeisten Veranstaltungsbesucher*innen stimmen mit der Kritik an der anarchistischen Bewegung überein, auch wenn sie vielleicht nicht die Schlüsse teilen, welche die plattform daraus zieht. Festzustellen ist, dass es auch innerhalb der anarchistischen Bewegung Diskussionen zu (effektiverer) Organisierung gibt. Und dass einzelne Genoss*innen, die sich bisher nicht organisiert haben oder von bisherigen Erfahrungen innerhalb der anarchistischen Bewegung frustriert waren, nun wieder Hoffnung schöpfen. Dies ist für die Mitglieder der plattform eine wirklich großartige Erfahrung, das so mitzuerleben und Teil eines gewissen Aufbruchs zu sein.
Unter dieplattform.org gibt es weitere Informationen zu Veranstaltungen der plattform sowie die Möglichkeit Kontakt aufzunehmen.
Mark Winter (die plattform)
- Especifismo ist ein Konzept, das aus 50 Jahren anarchistischer Erfahrungen in Südamerika kommt. Die erste Organisation, die es unterstützt hat, war die Federación Anarquista Uruguaya (FAU), die 1956 von Anarchist*innen gegründet wurde, die die Idee einer spezifisch anarchistischen Organisation umsetzen wollten. Nach der Diktatur in Uruguay begann die FAU Mitte der 1980er Jahre Kontakte mit anderen südamerikanischen anarchistischen Revolutionär*innen herzustellen und diese zu beeinflussen. Die Arbeit der FAU unterstützte die Gründung der Federação Anarquista Gaúcha (FAG), der Federação Anarquista Cabocla (FACA) und der Federação Anarquista do Rio de Janeiro (FARJ) in den jeweiligen Regionen Brasiliens sowie die argentinische Organisation Auca (Rebell). Die Schlüsselkonzepte von Especifismo können in drei Punkten zusammengefasst werden: 1) Die Notwendigkeit einer spezifisch anarchistischen Organisation, die auf einer Einheit von Ideen und Praxis aufgebaut ist. 2) Die Verwendung der spezifisch anarchistischen Organisation, um Theorien und strategische politische und organisatorische Arbeit zu entwickeln. 3.) Aktive Involvierung in und die Bildung von autonomen und breiten sozialen Bewegungen, was als Prozess der „sozialen Einfügung“ bezeichnet wird. Siehe: https://www.anarchismus.at/texte-anarchismus/organisier-dich-anarchistisch/6085-adam-weaver-especifismo-die-anarchistische-praxis
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.