Ein irritierter Kritiker bescheinigte auf der ausgerechnet vom bundesdeutschen Ministerium für Finanzen verantworteten Homepage „So klingt Europa“, der griechischen Sängerin Savrina Yannatou einen von „frecher Intelligenz und punkigen Einstellung geprägten Stil“ (1). Jenseits von Syrtaki und Theodorakis fällt es offenbar selbst BerufskritikerInnen in den Medien nicht leicht, die Musik Yannatous zu beschreiben.
Denn eigenwillig und außerhalb des Mainstreams erkundet sie zusammen mit dem akustischen Musikensemble „Primavera en Salonico“ nicht nur die facettenreiche Musik Griechenlands, sondern singt ebenfalls die Lieder der Nachbarn auf dem Balkan, in der Mittelmeerregion und im Nahen Osten. Ihr Schwerpunkt sind die sephardischen Lieder der JüdInnen, die nach ihrer Vertreibung aus Spanien im Jahre 1492 in Thessaloniki unter der Herrschaft der Osmanen eine neue Heimat gefunden hatten, bis 46.000 von ihnen 1943 von deutschen Faschisten nach Auschwitz deportiert und fast alle umgebracht wurden.
Jüdische Vergangenheit
Mit der Ermordung der spanisch sprechenden JüdInnen Thessalonikis geriet in Griechenland nicht nur ihre Kultur in Vergessenheit, sondern auch der rege Austausch mit den Nachbarvölkern kam zugunsten nationalistischer Selbstbespiegelung zum Erliegen. Spätestens nachdem im Jahr 1912 griechische Truppen in Thessaloniki einmarschiert sind und die jahrhundertelange osmanische Herrschaft über die Stadt beendet war, gerieten hier die Minderheiten und die JüdInnen staatlicherseits unter Druck. Von daher ist es ein deutliches politisches Statement, wenn Yannatou auch die Lieder der slavo-makedonischen, bulgarischen, albanischen und türkischen NachbarInnen singt, denen heute in Griechenland oft mit Mißtrauen und Feindseligkeit begegnet wird.
Das mehrheitlich nationalistisch orientierte und religiös-orthodox geprägte Griechenland weigerte sich jahrzehntelang, der jüdischen Opfer des Holocausts zu gedenken. Denn hierdurch würde die eigene Untätigkeit, die Kollaboration von Teilen der Bevölkerung mit den Nazis und ihre Vorteilsnahme bei der Aneignung des zurückgelassenen jüdischen Besitzes verstärkt zum Thema gemacht (2). Erst als 1992 weltweit der 500. Jahrestag der Vertreibung der JüdInnen aus Spanien gedacht wurde, machten sich in Griechenland kleinere intellektuelle Gruppen auf die Suche nach den historischen und kulturellen Wurzeln der ehemaligen Judenstadt Saloniki (3).
Als Yannatou eine Sammlung sephardischer Lieder für eine CD einspielen wollte, hatte sie zunächst mit Schwierigkeiten zu kämpfen. „Um Gottes willen, damit gehen wir pleite“, tönte es aus Griechenlands bekanntester Plattenfirma Lyra abwehrend (4). Erst 1994 konnte die CD erscheinen und schrittweise wurde die sephardische Vergangenheit Salonikis stärker wahrgenommen. Ein Höhepunkt der Rezeption wurde die Veröffentlichung weiterer sephardischer Lieder im Jahr 2012 bei dem renommierten deutschen Jazzlabel ECM. In den nun einsetzenden Lobeshymnen wurde in den Medien ein romantisierendes und verklärendes Bild vom multikulturellen Thessaloniki vor 1943 gezeichnet, das so nicht der Realität entsprach.
Keine Harmonie
Das „harmonische Miteinander“ (5) der Volksgruppen und Religionen wurde nach dieser gerne erzählten Legende erst in jüngerer Zeit mit dem Einmarsch der Wehrmacht zerstört, vorher mischten sich angeblich „einem Paradies gleich“ (6) Religionen und Kulturen. Lebte die übergroße Mehrheit der jüdischen Bevölkerung bis etwa 1850 in ärmlichen Verhältnissen, partizipierte sie danach für einige Jahrzehnte von der sich verbessernden wirtschaftlichen Lage, was das Aufkommen von Antisemitismus begünstigte und zu Streitereien zwischen jüdischen und griechischen Händlern führte. Die antisemitischen Gewalttaten nahmen so stark zu, dass 1908 ein jüdisches Widerstandszentrum gegen „griechische Angriffslust“ (7) gegründet wurde. Bemerkenswert ist, dass die heftigen Gewalttaten in Thessaloniki von den ca. 15.000 GriechInnen ausgingen und sich gegen die Mehrheit der 80.000 JüdInnen (8) richteten. Als 1912 die griechische Armee in Thessaloniki einmarschierte, kam es zur Plünderung von 700 jüdischen Geschäften und Häusern, zu Vergewaltigungen und Morden (9). Die im Zuge des großen Bevölkerungsaustausches hinzugezogenen 117.000 GriechInnen aus Kleinasien machten die JüdInnen 1922 zur Minderheit und ihre Lage wurde noch prekärer.
Im Gegensatz zur patriotisch orientierten kulturellen Haupttendenz entwickelte Yannatou eine andere, offene politisch-künstlerische Praxis. Zu Beginn ihrer musikalischen Laufbahn sang sie alte Musik aus Renaissance und Barock, um sich dann in Zusammenarbeit mit dem Wuppertaler Kontrabassisten Peter Kowald radikal experimenteller Musik und dem Freejazz zuzuwenden. Ihre Neugier auf das Unbekannte, ihre Experimentierlust und Offenheit für lebendige Formenvielfalt stellten einen kulturellen Gegenpol zur vorherrschenden Fokussierung auf griechische Volksmusiken dar.
„Dirty Sounds“
Das vielen volkstümlichen Liedern innewohnende Pathos wird von Yannatou durch dissonante Wortschnipsel und ausgefallene Lautmalereien dekonstruiert. In einigen Fällen bleiben die Grundstrukturen der ursprünglichen Lieder erhalten, ein anderes Mal nehmen sie durch avantgardistische Improvisationen eine neue musikalische Gestalt an. Diese kreativ veränderten Passagen verlangen von den ZuhörerInnen eine Offenheit für neue Impulse und Toleranz. Ihre Musik gilt in Griechenland manchen als „schwierig“. Sie verzichtet bei ihren Auftritten auf aufwändige Showelemente, sodass sich die ZuschauerInnen ganz auf ihren disziplinierten Auftritt und ihre wandlungsfähige Stimme konzentrieren können.
In einem Interview erklärte Yannatou, dass sie bewusst „dirty sounds“ bei ihrem Gesang einsetzt: „Manchmal mache ich meine Stimme absichtlich ‚schmutzig‘, mit vielen Sounds dazwischen. Ich liebe freie Musik und all diese Situationen – nicht nur als Resultat, sondern den ganzen Prozess: die vielen Farben, die man erzeugen kann; es hat alles mit Timbres [Klangfarben, H. B.] der Sounds zu tun, und natürlich mit Emotionen.“ (10)
Ihre Musik klingt bei ihrem Rückgriff auf die Sphäre der Alten Musik einerseits archaisch, andererseits gelingt ihr manchmal in einer einzigen Komposition die Verbindung zur Free Musik. Zusammengehalten wird dieses disparate musikalische Material durch die Arrangements von Kostas Vomvolos und die avancierten Spielpraktiken des sechsköpfigen Ensembles „Primavera en Salonico“ mit dem Yannatou zusammenarbeitet. In die abwechslungsreiche akustische Instrumentierung fließen hauptsächlich orientalische Einflüsse ein, was man an einem Teil der gespielten Instrumente erkennen kann: Nay (Rohrflöte), Oud (Laute), Violine, Kanun (Kastenzitter), Kontrabass, Schlagwerk, Akkordeon.
Sephardisch wird als Alltagssprache auch in Thessaloniki nur noch selten gesprochen, da fast alle JüdInnen ermordet wurden. Es ist das Verdienst von Yannatou, dass sie diese durch die Shoa fast ausgelöschte Sprache aus ihrem Nischendasein herausgeholt hat und in die großen Konzertsäle dieser Welt bringt. Als Interpretin sephardischer Lieder aus Saloniki taugt sie allerdings nicht für identitäre Zuschreibungen, weil sie selbst in Athen lebt und keine Jüdin ist. Da sich die orientalischen und balkanischen Musiken in der Vergangenheit gegenseitig beeinflusst haben, werden bei ihr die einzelnen Strophen eines Liedes schon mal in drei verschiedenen Sprachen gesungen und damit künstlich geschaffene Grenzen aufgehoben. Die Musik der ebenfalls von einem Völkermord betroffenen und meist diasporitisch lebenden ArmenierInnen hat einen Ehrenplatz im Repertoire Yannatous.
Kommeno
Ein weiteres Projekt mit dem Freejazz-Schlagzeuger Günter Baby Sommer aus Dresden und verschiedenen griechischen Musikern erinnert am Beispiel von Kommeno an die 200 Dörfer, die während des Zweiten Weltkrieges durch die Wehrmacht als „Vergeltungsmaßnahme“ gegen Partisanenaktivitäten vernichtet wurden. Alle dort vorgefundenen Menschen wurden von der Wehrmacht ermordet. Als Sommer im Jahr 2008 in Kommeno bei einem Konzert auftrat, sprach der dortige Bürgermeister Sommer an, der bis dahin von der Ermordung von 317 DorfbewohnerInnen am 16. August 1943 nichts wusste. In der Folgezeit setzte er sich intensiv inhaltlich und musikalisch mit den erschütternden Vorkommnissen auseinander und komponierte zusammen mit mehreren griechischen Musikern ein berührendes Werk, das die damaligen Geschehnisse musikalisch verarbeitet. Der Klagegesang einer Überlebenden des Massakers wurde in die Musik integriert. Da es keiner weiteren Worte für das Unaussprechliche bedurfte, sang Yannatou ihre Melodielinien ohne Text, stimmliche Klangmodulationen kamen hinzu.
„Gastarbeiter“
Nachdem diese Komposition 2012 zusammen mit einem informativen 150seitigen Booklet (11) erschienen ist, wurde es in dem griechischen Dorf und in der BRD mehrmals aufgeführt und in den Medien stark beachtet. In dem Booklet wird der Blick auf den beschämenden Fortgang der bundesdeutschen Verdrängungsmechanismen geworfen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die schändliche Behandlung der griechischen „Gastarbeiter“, die ab dem Anwerbeabkommen im Jahr 1961 in der BRD gearbeitet haben. Hier kommen Betroffene zu Wort, die inzwischen seit Jahrzehnten in Deutschland wohnen:
„Wer sich beim Anwerbebüro in Saloniki gemeldet hatte, fuhr von dort aus mit einem Sonderzug nach München. Diese Züge waren meist völlig überfüllt. Oftmals waren über Tausend Menschen darin eingepfercht. Diese Reisen, die bis zum Jahr 1972 durchgeführt wurden, nannten die Deutschen ‚Transporte’. Unmöglich das zu vergessen.“ (12)
Ein 80jähriger ehemaliger BMW-Arbeiter schildert seine Ankunft in München im Jahr 1963: „Von Gleis 11 aus wurden wir in den ehemaligen Luftschutzkeller unter dem Bahnhof geführt: Ein Labyrinth der Unterwelt – ein Gewirr aus Gängen und zu Wartesälen ausgebauten Räumen. Dort wurden dann mit einem blechern klingenden Megafon die Nummern unserer Arbeitsverträge aufgerufen: ‚Arbeitsverträge Nummer 1 bis 15 in die Wartesäle drei bis sieben! Arbeitsverträge 16 bis 30 in die Wartesäle acht bis zwölf’ und so weiter. Als ich dieses Geschrei hörte, kam es mir so vor, als sei die Besatzungszeit zurückgekehrt. Auch damals riefen die Deutschen uns nur mit Nummern. Und zum Teufel, diese Stimmen waren genau die gleichen, die ich noch von damals kannte: RECHTS! LINKS! VORSICHT! NEIN! RAUS! VERBOTEN! NICHTS DA! KAPUTT! An dieses Stakkatogebell, das kaum noch etwas mit einer menschlichen Stimme zu tun hatte, erinnerte ich mich nur zu gut, und mir lief es kalt über den Rücken.“ (13)
Das Vergangene ist nicht vergangen. Es wirkt bis heute. In Zeiten, in denen selbst der ehemalige linke Komponist Mikis Theodorakis immer wieder durch nationalistische Ausfälle von sich Reden macht, ist es wohltuend, dass KünstlerInnen wie Savrina Yannatou sich diesem Ungeist auf ästhetischer und politischer Ebene widersetzen.
Horst Blume
Anmerkungen:
1) John Payne auf der Homepage: https://www.so-klingt-europa.de/laender/griechenland/kuenstler-2/savina-yannatou-primavera-en-salonico/
2) Siehe: „Thessaloniki: Die Vernichtung der Judenstadt und ihre Folgen“. Graswurzelrevolution Nr. 431, September 2018. https://www.machtvonunten.de/nationalisten-rechte-neoliberale/332-thessaloniki-die-vernichtung-der-judenstadt-und-ihre-folgen.html
3) „Polis“, Juli/August 1996, Seite 52
4) „blue rhythm“ (Beilage von „Jazzthing“), Nr. 12, 2000, Seite 29
5) „Folker!“ Nr. 4, 2017, Seite 32
6) „Folker!“ Nr. 4, 2015, Seite 74
7) Fritz Bauer Institut (Hg.): „Einspruch und Abwehr“, Campus Verlag, 2010. Hier: Maria Margaroni „Der griechische Antisemitismus“, S. 255
8) Angaben für das Jahr 1896: https://fr.wikipedia.org/wiki/Histoire_de_Thessalonique
9) Siehe Anm. 7, Seite 261
10) Süddeutsche Zeitung, 21.5.2003
11) „Lieder für Kommeno“, Intakt Records, 2012, CD und Booklet
12)Ebd., Seite 65
13) Ebd., Seite 68