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Soviel Chance war nie…

Ursachen und Wirkungen des sogenannten Castor-Skandal

| Jochen Stay

Wer hätte Ende April 1998 geglaubt, daß einen Monat später sämtliche Castor-Transporte gestoppt sind, ob zu den deutschen Zwischenlagern oder zu den Wiederaufarbeitungsanlagen in Frankreich und Großbritannien? Wer hätte gedacht, daß aller Wahrscheinlichkeit nach zumindest in diesem Jahr kein hochradioaktiver Atommüll mehr rollt? Wer hätte gedacht, daß das atomare Endlager Schacht Konrad vor der Bundestagswahl nicht mehr genehmigt wird? Wer hätte gedacht, daß die Bayernwerke und Edmund Stoiber unisono auf einen AKW-Neubau im Freistaat verzichten?

Das verheimlichte Problem mit der Überschreitung von Grenzwerten bei der Außenkontamination von Transportbehältern für abgebrannte Brennelemente aus Atomkraftwerken – kurz: der „Castor-Skandal“ – gilt bereits jetzt als die schwerste Krise der deutschen Atomwirtschaft seit den Tagen von Tschernobyl. Wie kommentierte doch die nicht gerade als atomkritisch verrufene „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ – die mit dem klugen Kopf) so trefflich? „Der jetzt eingetretene Vertrauensverlust ist so groß, daß eine längerfristige Zukunft für die Kernkraft hierzulande politisch kaum noch denkbar erscheint. … Die Kernkraftgegner dürfen sich die Hände reiben.“

Machen wir! Aber wir belassen es nicht dabei. Wir haben aus den Skandalen der Vergangenheit gelernt: Die Atomwirtschaft gibt so schnell nicht auf und versucht, noch aus jeder Krise Vorteile zu ziehen. Doch wenn auch die Halbwertszeit der öffentlichen Aufregung über die Machenschaften der Branche erfahrungsgemäß nicht besonders lang ist, so sitzt das begründete Mißtrauen tief. Wer es bisher nicht wußte oder glauben wollte, weiß es jetzt: Der Castor strahlt, die Energiewirtschaft ist verantwortungslos und die Bundesregierung will von allem nicht wissen.

Das Eis war in den letzten Jahren dünner und dünner geworden. Jetzt reichte eine minimale Erschütterung und alles krachte zusammen. Wie haben sich all jene getäuscht, die dachten, wenn es der Polizei gelingt, mit massiver Gewalt einen Castor-Transport durchzusetzen, dann wäre dies eine Niederlage für die Anti-Atom-Bewegung.

Nein! Geradezu zwanghaft hatte die staatliche Seite daran festgehalten, jedes Jahr aufs neue die Kraftprobe mit dem Widerstand zu suchen. Und bei jedem Tag X verloren Atomindustrie und Regierung mehr an Reputation.

Die Atomwirtschaft verliert ihre letzten Bataillone

Was in diesen aufgeregten Tagen rund um den Castor-Skandal deutlich wurde, ist eines: Die Mehrzahl derjenigen Menschen, die aus einer bestimmten gesellschaftlichen Rolle oder aufgrund ihrer Berufswahl benötigt wurden, die bisherigen Castor-Transporte nach Gorleben und Ahaus zu ermöglichen, sie haben selbst kaum mehr daran geglaubt, was sie der Öffentlichkeit erzählt haben. Sie haben jeden Harmlosigkeits-Strohhalm, den ihnen BetreiberInnen und Bundesregierung hingehalten haben („Genaugenommen ist Castor ist nur ein anderes Wort für Vertrauen“), begierig ergriffen und selbst gar nicht gemerkt, daß sie in ihrem Inneren längst vom Gegenteil überzeugt waren, längst wußten, daß diejenigen, die sich querstellen, das Richtige tun.

Die Vehemenz, mit der Polizeifunktionäre, PolitikerInnen quer durch alle Parteien, JournalistInnen bis hin zu Springer, FAZ und Handelsblatt sich über die erhöhten Außenkontaminationen erregten, läßt sich nur so erklären: Sie projizierten ihren bisherigen inneren Konflikt auf die AKW- BetreiberInnen. Und ihre Wut, daß sie so lange mitgemacht haben, so lange nicht „Nein“ gesagt haben, diese Wut bekam die Atomindustrie jetzt geballt zu spüren, weil sie die lächerlichen Argumente dafür geliefert hat, daß intelligente Menschen Dinge rechtfertigten oder durchsetzen, von denen sie selbst nicht überzeugt waren.

Das ist alles sehr irrational, was schon daran deutlich wird, daß es in den letzten Jahren und sogar Monaten weitaus größere Skandale, Vertuschungen und Sicherheitsmängel in der Atomindustrie und auch bei Castor- Transporten gegeben hat und kaum jemand hat sich dafür interessiert. Aber so ist das eben mit dem berühmten Tropfen, der das Atommüll-Faß zum Überlaufen bringt.

Außerdem trifft es ja nicht die Falschen. Die Erfahrung mit Atomtransporten ist eindeutig: Es war schon immer so, daß es, sobald mal näher geprüft oder nur hingeschaut wurde (ob nun von Behörden, von der Presse oder von Anti-Atom-AktivistInnen), die Unregelmäßigkeiten nur so aus dem Verborgenen sprudelten. Und es war schon immer so, daß die Aufsichtsbehörden äußerst selten und meist nur auf politischen Druck überhaupt mal näher hingeschaut haben.

Berühmtes Beispiel: Im Juni 1994 erklärt Niedersachsens Umweltministerin Griefahn, sie könne kraft Amtes nichts mehr gegen den geplanten Castor-Transport Philippsburg-Gorleben unternehmen („alle Möglichkeiten ausgeschöpft“). Als es dann im Juli massive Proteste rund um Gorleben gab, fällt der Landesregierung doch tatsächlich ein, daß sie ja als Aufsichtsbehörde mal die Belade- und Meßprotokolle kontrollieren könnte. Und siehe da: Beim Einpacken der Brennelemte ist so ziemlich alles schiefgegangen, was nur schiefgehen kann. Deckel paßt nicht, Dichtungen kaputt, Rumschleifen am Deckel bis er sitzt, Restfeuchte-Meßgerät fällt aus… Niedersachsen macht die Mängel öffentlich und der Transport wird verschoben.

Doch zurück zum aktuellen Geschehen: Innerhalb der Polizei tobt der Bär. Und zwar, so bin ich überzeugt, nicht in erster Linie wegen der möglichen Gesundheitsgefährdung durch die Kontamination der Behälter, sondern weil sich die bei den bisherigen Castor-Einsätzen aufgestauten Gefühle und Gewissensnöte endlich eine Bahn brechen können. Viele BeamtInnen fühlten sich nicht erst jetzt mißbraucht, aber die aktuelle Konstellation gibt ihnen die Möglichkeit, dieses Empfinden endlich rauszulassen.

Von der Gefühlslage her hätte es eigentlich schon viel früher Massenverweigerungen bei der Polizei geben müssen. Aber der Korpsgeist und die für viele problematische Stellung von Gewissensfragen („Ist halt mein Job – wenn mein Vorgesetzter sagt, muß ich halt machen…“) haben dies verhindert. Da sind die denkbaren Gesundheitsgefahren doch öffentlich viel leichter vermittelbar und werden deshalb jetzt vorgeschoben.

Ist es nicht fast unglaublich, was wir rund um den Castor-Widerstand an Premieren und Rekorden in der Bundesrepublik erleben können? Eben nicht nur den Protest mit dem längsten Atem, die größten Sitzblockaden und Treckerdemos, nicht nur die allergrößten Aufmärsche von Staatsgewalt, sondern auch ihre beeindruckendsten Kapitulationen. Vielen ist es gar nicht aufgefallen: Im Herbst 1996 mußte ein geplanter Castor- Transport nach Gorleben ausfallen, weil die Polizei noch nicht die Überstunden vom Tag X2 im Frühjahr abgefeiert hatte. Es gab schlicht nicht genug VertreterInnen staatlicher Gewalt, um mehr als einen Castor pro Jahr durchzusetzen. Militärisch betrachtet eine Kapitulation.

Und jetzt? Massenverweigerung? Lassen wir Niedersachsens Innenminister Glogowski sprechen. Er begründet, warum der für die Zeit nach der Bundestagswahl geplante Transport von hochradioaktiven Wiederaufarbeitungsabfällen von La Hague nach Gorleben nicht stattfinden kann, obwohl diese Atommüll- Fuhren ausdrücklich nicht unter Merkels Verbot fallen: „Wir können zur Zeit keinen Polizeieinsatz für einen Gorleben-Transport organisieren. Polizeibeamte müssen zwar einer Weisung gehorchen. Wenn aber 1 000 Beamte unter dem Einfluß einer Gewerkschaft nein sagen, ist auch der Leiter unserer Polizeiabteilung machtlos.“ Die Gewerkschaft der Polizei GdP geht davon aus, daß Castor-Transporte auf lange Zeit nicht durchsetzbar sein werden. Ein entsprechender Auftrag an die Polizei sei wegen der zu erwartenden Proteste schlicht nicht durchführbar, erklärt GdP-Chef Hermann Lutz.

Ich bitte alle Menschen, die immer behaupten, unser Widerstand sei erfolglos, diese an Ernst Albrechts historisches Wort von 1979 (1) erinnernde Aussage von Hermann Lutz auf ein großes Plakat zu malen und an die Wand zu hängen: „…nicht durchsetzbar, nicht durchführbar“ Noch Fragen?

Legen wir Hand an den Hebel zur Stillegung der AKWs!

Ach so: Nicht nur die in den letzten Jahren heiß umstrittenen und umkämpften Transporte in die Zwischenlager Ahaus und Gorleben sind bis auf weiteres gestoppt, sondern erstmals auch die Atommüll-Fuhren zu den Wiederaufarbeitungsanlagen, von denen es bisher jährlich zwischen 60 und 100 gab. Je länger dieser Zustand anhält, um so mehr AKWs müssen abgeschaltet werden, da sie keinen Platz mehr für den anfallenden Müll haben.

Keine Bange, ich werde nun nicht völlig abgehoben und euphorisch. Mir ist auch klar, daß sowohl AKW- BetreiberInnen als auch Merkel alles dafür tun werden, daß die Transporte möglichst bald wieder rollen und das dann die Öffentlichkeit wieder nicht so genau hinschaut.

In den ersten Wochen und Monaten des „Castor-Skandals“ mußte die Anti-Atom-Bewegung gar nichts tun. Angestoßen durch den Widerstand der letzten Jahre in Gorleben und Ahaus, funktionierte die politische Dynamik jetzt von alleine. Und diese Dynamik geht weit über die eigentlich betroffenen WAA-Transporte hinaus:

  • Die niedersächsische Landesregierung stoppte das Genehmigungsverfahren für das Endlager Schacht Konrad. Die Bundesregierung will dieses eigentlich rechtswidrige Verhalten hinnehmen und vor der Bundestagswahl keine Weisung aussprechen.
  • Der baden-württembergische Umweltminister Hermann Schlaufer (CDU) schließt angesichts des Skandals einen Ausstieg aus der Atomenergie nicht aus, falls keine befriedigende technische Lösung für künftige Castor-Transporte gefunden wird.
  • Der geplante Transport von Plutonium von Hanau ins schottische Dounray muß bis auf weiteres ausfallen.
  • Die Bayernwerke erklären ihren Verzicht auf ein standortunabhängiges Genehmigungsverfahren für den von Siemens entwickelten Europäischen Druckwasserreaktor (EPR) und Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) erklärt, daß in Bayern nie wieder ein neues AKW gebaut werden soll.
  • Angela Merkel will den Transportestopp selbst dann durchhalten, wenn erste AKWs vom Netz genommen werden müssen.
  • Auch die Transporte mit schwachaktivem Atommüll kommen ins Gerede, nachdem ein kontaminiertes Faß aus Gorleben in Morsleben entdeckt wurde und bei der Verladung in Magdeburg ein Container aufgeschlitzt wird.

Doch irgendwann wird die Dynamik enden. Irgendwann werden die Medien das Thema ausgelutscht haben, und irgendwann erklärt die Atomindustrie, daß sie jetzt wahnsinnig tolle neue Putzlappen gekauft hat und daß – um die Kommunikation zu verbessern – auf jedem Castor die Handy-Nummer von Frau Merkel steht. Vielleicht geht es auch wie ein Frankreich, wo einfach die Zahl der Meßpunkte nach oben gesetzt wurde und die Transporte seit Mitte Juli wieder rollen. Irgendwann soll also auch hierzulande wieder transportiert werden (die Atomwirtschaft spricht von frühestens im Frühjahr ’99). Und spätestens dann schlägt erneut die Stunde des Widerstandes.

Die Zeit bis dahin gilt es zu nutzen, um den augenblicklichen Druck zu halten, um viele Menschen davon zu überzeugen, daß nur eigenes Handeln politische Veränderungen auf Dauer ermöglicht. Hoffen wir, daß nicht nur die FAZ die riesige Chance erkennt, die in der augenblicklichen Situation liegt.

Ein Beispiel: Die mehr oder weniger atomkritische niedersächsische Landesregierung versucht seit acht Jahren erfolglos, den Schrottreaktor Stade stillzulegen. Wir können es jetzt innerhalb von acht Monaten schaffen: Fährt bis zum Frühjahr kein Castor aus Stade ab, dann muß zuerst die Leistung gedrosselt werden und bald danach ist es vorbei: Erstickt am eigenen Müll, so wie wir uns das schon immer gewünscht haben.

Für die Anti-AKW-Bewegung ist jetzt alles anders. War doch bisher einer der Kritikpunkte an der Fixierung des Widerstandes auf die Zwischenlager-Standorte, daß diese Schwerpunktsetzung dem St.Florians-Prinzip sehr nahe komme. Transporte ins Ausland fanden bisher nie genügend Beachtung durch die Bewegung. Auch wurde kritisiert, daß die Zahl der verhinderten Castoren in Gorleben und Ahaus die AKW-BetreiberInnen nicht weiter stört, da es doch genug Atomfuhren nach La Hague und Sellafield gibt.

Und heute? Zum ersten Mal, seit vor zehn Jahren Anti-Atom-Gruppen auf die Castor-Transporte aufmerksam gemacht haben, sind alle hochaktiven Fuhren gestoppt. Heute können wir dazu beitragen, daß die radioaktive Verseuchung der Regionen um die WAAs nicht weiter zunimmt. Die Blockaden der Transporte aus Brokdorf standen schon seit Jahren unter dem Motto „Wir schützen die Kinder von Sellafield“.

Zusätzlich bietet sich für die Anti-Atom-Bewegung zum ersten mal seit vielen Jahren ein konkreter Handlungsansatz, der im Erfolgsfalle zur Stillegung von AKWs führen wird. Und dies in einer Situation, in der viele Menschen durch den Castor-Skandal wachgerüttelt wurden. So viel Chance war nie. Laßt uns mit aller Kraft verhindern, daß die Transporte wieder anrollen. Und wenn sie es doch tun, dann laßt uns dafür sorgen, daß sie nur noch einen WAA-Transport pro Jahr schaffen, weil nicht mehr Polizei abkömmlich ist!

(1) Albrecht erklärte damals in einem Anfall von Ehrlichkeit, angesichts von 100.000 DemonstrantInnen in Hannover, die geplante WAA Gorleben sei "politisch nicht durchsetzbar".

Literatur

Der Castor-Skandal. Die Atomwirtschaft in der Krise: Fakten, Berichte und Analysen, A4, 72 Seiten, 10 DM (plus Versandkosten), großzügige Rabatte für WiederverkäuferInnen, Bestelladresse: Tolstefanz, 29439 Jeetzel 41, Tel/Fax: 05841/4521