Der inspirierende Hochschullehrer

Ein Nachruf von Peter Grottian auf Wolf-Dieter Narr (1937-2019)

| Peter Grottian

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Professor Dr. Wolf-Dieter Narr 2012. Foto: Bernd Drücke

Ach, wir könnten jetzt einen Narr erleben, der stinksauer reagieren würde, wenn er die Nachruf-Rituale entdeckte. Er wollte doch so gehen wie Claus Koch – still und ohne jedes Brimborium.

Wer aus Gesprächen mit Wolf-Dieter kam – war irgendwie ein Stück weit ein etwas anderer Mensch. Die Studierenden der ersten Semester waren fasziniert, obwohl sie den Reichtum des Universal-Gelehrten noch nicht so ganz erfassen konnten. Zuweilen nur ahnten, an welchem Schatz sie Zugang hatten. Die höheren Semester genossen ihn als Hochschullehrer, der fast zu allen gesellschaftlichen Entwicklungen zu einer angemessenen politikwissenschaftlichen Interpretation in der Lage war. Mit atemberaubenden Verknüpfungen, Assoziationen und oft überraschenden strategischen Konsequenzen.

Die Doktoranden bewunderten seine unermüdlichen Fähigkeiten, sich in das jeweilige Thema der Doktorarbeit zu versetzen und den Himmel der forschenden Möglichkeiten so aufzureißen, dass in der Regel die inspirierenden und motivierenden Potentiale einen kräftigen Schub erhielten. Seine Habilitanden ermutigte er, die unsinnigste Qualifikationshürde auf dem Weg zum Hochschullehrer mit Bravour zu meistern. Seine Kolleginnen und Kollegen verblüffte Wolf-Dieter regelmäßig mit seinen messerscharfen Kritiken an dem Zustand der Politikwissenschaft und wie wenig diese Disziplin in der Lage war, die gesellschaftlichen Wirklichkeiten theoretisch und empirisch abzubilden. Herrschaftskritik war deshalb seine wissenschaftliche und politische Leitlinie.

Wolf-Dieter Narr war ein Hochschullehrer der ganz besonderen Art. Er lebte seine Bürger- und Menschenrechte. Immer solidarisch von gleich zu gleich, niemals arrogant oder herrisch. Dem Menschen geschlechterdemokratisch zugewendet, ernstnehmend, ermutigend, entlang der aufblühenden Fähigkeiten. Er rettete institutionell das Otto-Suhr-Institut vor dem Auseinanderbrechen, schrieb flammende Texte mit dem Kollegen Grauhan für ein wirklich politikwissenschaftliches Curriculum.

Er vergaß niemals den Adressaten seiner Forschung und Lehre: Die Menschen mit und ohne Bürger- und Menschenrechte, die außerparlamentarischen Bewegungen und Initiativen, denen er sich verpflichtet fühlte. Und seine Studentinnen und Studenten – die betreute er, wie es heute kaum noch ein Hochschullehrer macht. Mit sehr ausführlichen Sprechstunden. Da wurden die Himmel der Erkenntnisse aufgemacht. Seminararbeiten wurden detailreich kommentiert, Gutachten zu den Diplomarbeiten wurden zur wissenschaftlichen Abhandlung. Die studentischen Aktivist*innen bewunderten ihn zuletzt 2009 in Heiligendamm, als er mit dem Stock protestierend durch die Wiesen stapfte. Er organisierte Tribunale gegen Berufsverbote, er machte zusammen mit Klaus Vack den zivilen Ungehorsam zum Markenzeichen der Friedensbewegung (Mutlangen). Und er wusste schon früh über die politische Sprengkraft von Migrationsbewegungen. Er betreute anrührend Menschen im Knast, deren Menschenwürde vollends vor die Hunde zu gehen drohte. Das von ihm und Klaus Vack begründete Komitee für Grundrechte und Demokratie war der außerparlamentarische Ausdruck seiner Profession als Hochschullehrer und Bewegungsunternehmer. Er erfand Demonstrationsbeobachtungen, stand vor den Zäunen des Abschiebeknasts in Worms genauso wie vor den Polizeiketten von Wackersdorf und Brokdorf.

Das Schreiben war seine Leidenschaft. Aber auch das Reden im schwäbelnden Duktus – feurig, unerbittlich und im aufrechten Gang. Als Lehrbuch-Schreiber der Politikwissenschaft, als neben Wilhelm Hennis bester Kenner Max Webers, als furios streitenden Kollegen mit Jürgen Habermas, als von Marx und Weber inspirierter Herrschaftskritiker. Leider hat sein letztes Buch zur „Niemandsherrschaft“ zu wenig Aufmerksamkeit erhalten. Er diagnostizierte das, was man zurecht „Blackrock-Kapitalismus“ nennen könnte: 4,3 Billionen Euro Anlagekapital in den 30 DAX-Unternehmen mit 5-10 Prozent Vertretern von New York aus gesteuert, bester Kenner der Branchen, mit Aladdin besser informiert als Draghi – aber auf keiner Aktionärsversammlung sichtbar, als Schattenbank zwischen den Linien und Dauergesprächspartner einer Bundesregierung, die über die Macht von Blackrock beharrlich schweigt. Diese Gefahr für die soziale Marktwirtschaft und die Demokratie hat Narr trefflich auf den Punkt gebracht.

Unvergessen ist auch die Mitherausgeberschaft der Zeitschrift „Leviathan“, die zu seiner Zeit noch sozialwissenschaftlichen Biss hatte. Jutta Roitsch stöhnte als Leiterin der FR-Dokumentation über die mit voluminösen „Narrs“ vollgestopften Assoziationsketten, bat Freunde die Texte zu „Entnarren“, aber war von der Relevanz so angetan, dass diese in der links-liberalen Medienlandschaft erschienen.

Es gibt aber auch zwei Geschichten aus dem Leben des Wolf-Dieter Narr, die prägend waren. Da war die Verstrickung des Vaters mit dem NS-Regime, die Wolf-Dieter immer wieder zum „Nie-wieder-Widerstand“ führte, so liebevoll auch sein Verhältnis zu seinem Vater, aber insbesondere zu seiner geliebten Mutter war. Die zweite Geschichte ist bedrückend und demütig. Als Dein Reemtsma-Chef, Jan-Phillipp Reemtsma, Dich wie ein Unternehmer über Nacht vom Hof jagte, schweigend mit der typischen Unternehmergeste. Das hat keiner verstanden, da doch das Forschungsprogramm scheinbar im Konsens beschlossen war, was Du in Diskussionen mit uns ausgearbeitet hast. Leider hattest Du, lieber Freund Wolf-Dieter, nicht den Mut diese maßlose Schweinerei öffentlich zu thematisieren und zu brandmarken. Das gehört zu den wenigen Situationen, wo der freundschaftliche Streit zu eskalieren drohte. Wolf-Dieter hat diesen Rauswurf über Jahre nicht verwunden – zu reizvoll war die Vorstellung gesellschaftsrelevante Forschung betreiben zu können.

Unter der Hand, lieber Freund Wolf-Dieter, ist der Text zu einer Lobeshymne an den inspirierenden Hochschullehrer geworden. Obwohl doch Dein Freund, Peter Grottian, weiß, dass ein großes Lob und ein Dank für Dich fast unverträglich waren – da machtest Du in der Regel eine abwehrende Geste, schautest auf den Boden und machtest kund, dass Du diese Form des Lobes eigentlich nicht mochtest. Aber da halte ich es mit unserer gemeinsamen Freundin Jutta Roitsch, die in ihrer bewegenden Rede zu Deiner Emeritierung (2001) auch aus ihrer Zuneigung zu Dir keinen Hehl machte. Du warst und bist für mich der inspirierendste Hochschullehrer, den ich als Kollege und Freund bisher erleben durfte.

Peter Grottian

 

Peter Grottian ist Hochschullehrer für Politikwissenschaft an der FU Berlin.