Demokratischer Tsunami

Massenproteste in Katalonien

| Gaston Kirsche

Eine Protestkundgebung von Tsunami Democràtic in der Hauptstadt Kataloniens, Barcelona.
Protestkundgebung in Barcelona im November 2019. Foto: AST

Seit am 14. Oktober 2019 am Obersten Gerichtshof Spaniens in Madrid hohe Haftstrafen im Prozess wegen angeblichen Aufruhrs und Ungehorsam gegen die abgesetzte katalanische Regionalregierung von 2017 verkündet wurden, kommt es in der Metropole Barcelona ebenso wie in kleinen Dörfern im Hinterland bis hin zu den Grenzübergängen nach Frankreich immer wieder zu zivilem Ungehorsam gegen die Verurteilungen und für Bürgerrechte.

Meistens auch für eine Republik Katalonien, aber es gibt auch viele Protestierende, die sich einer nationalen Zuordnung entziehen und sich nicht für einen unabhängigen katalanischen Staat, sondern für eine herrschaftsfreie Gesellschaft engagieren. Oft überlagern sich auch verschiedene Gründe, zu protestieren. So wurden beim Generalstreik, zu dem am 18. Oktober katalanistische und anarchosyndikalistische Gewerkschaften aufriefen, auch betriebliche Forderungen gestellt und gegen den Abbau demokratischer Arbeitnehmer*innenrechte im Zuge der Wirtschaftskrise protestiert. Und gegen die Repression, die massive Polizeipräsenz und -gewalt.

Als sich Anfang 2019 immer mehr abzeichnete, dass der Prozess wohl mit hohen Haftstrafen enden würde, begann in Katalonien eine breite Debatte und Planung für „friedlichen zivilen Ungehorsam“ für den Fall von Verurteilungen. Unter dem Motto „Demokratischer Tsunami“ begannen unmittelbar nach der Urteilsverkündung Aktionen zivilen Ungehorsams, welche an die erfolgreiche Taktik der Hongkonger Protestbewegung angelehnt sind: Wie Wasser sickern die Teilnehmenden ein und versuchen die Polizei zu umfließen. Wie in Hongkong werden elektronische Netzwerke wie Twitter genutzt. Über den Messenger-Dienst Telegram verschickten Aktive des „Tsunami Democràtic“ am 14. Oktober unter ihren Followern falsche Flugtickets. So gelangten sie durch die Polizeisperren in den Flughafen und legten die Check-In-Schalter lahm. Der Flughafen von Barcelona wurde blockiert, auch Autobahnen, Bahnhöfe und zentrale Straßen in Barcelona, obwohl Polizeieinheiten dabei immer wieder auf die Protestierenden eindroschen und Gummigeschosse gegen sie einsetzten. In der ersten Novemberhälfte wurde wiederholt die Bahnstrecke für Hochgeschwindigkeitszüge zwischen Barcelona und den Pyrenäen blockiert, ebenso die Autobahnen in Katalonien. Besonders gestört wurde die Kapitalakkumulation mit der Unterbrechung der Lieferketten durch die mehrmalige Blockade des Grenzübergangs auf der Autobahn nach Frankreich. „Wir ergreifen die Initiative, unsere Werkzeuge sind Gewaltfreiheit und ziviler Ungehorsam“, heißt es auf www.tsunamiDemocràtic.cat. Die Website wurde von der Nationalpolizei für User*innen aus Spanien nach wenigen Tagen auf Anordnung eines Richters wegen „Terrorismus“ gesperrt und ist seit dem 30. Oktober beim US-Provider GitHub zwangsweise offline – auf Bitten des sozialdemokratischen Innenministers Spaniens, Fernando Grande-Marlaska. Auch Marlaska erklärte allen Ernstes, Tsunami Democràtic und die anderen Formen zivilen Ungehorsams seien Terrorismus. Grande-Marlaska dämonisierte den Straßenprotest als „genauso gefährlich wie der Terror von ETA“. Durch Anschläge von ETA starben über 800 Menschen: durch Autobomben, Sprengsätze und gezielte Todesschüsse. Die Proteste in Katalonien hiermit in einem Atemzug zu nennen, ist eine Stigmatisierung, und damit einhergehend ein enormer Kriminalisierungsdruck. Vor allem aber: eine offensive Rechtfertigung der massiven Polizeigewalt gegen die Protestbewegung in Katalonien.

Und eine fehlende Ernsthaftigkeit in der Auseinandersetzung mit den traumatisierenden Folgen und bitteren Konsequenzen des militarisierten nationalen Konfliktes zwischen ETA als bewaffnetem Arm der baskischen Unabhängigkeitsbewegung einerseits und Polizei, Militär und Justiz Spaniens und Frankreichs andererseits. Mit ETA-Vorwürfen gegen soziale Proteste wird nichts aufgearbeitet, kein Frieden gestiftet. Aber darum geht es auch nicht.

Kopfzerbrechen bereiten Polizei und Innenministerium dagegen die App von Tsunami Democràtic. Die ließ sich vor der Sperrung auf der Internetseite „tsunamiDemocràtic.cat“ und den Ersatzseiten herunterladen und funktioniert aber nur über einen QR-Code, der unter der Hand weitergegeben wird. Um die App zu aktivieren, ist so die Empfehlung durch Nutzende notwendig. Einmal drin, werden die Versammlungen im unmittelbaren Umkreis und nur in einer der Städte Kataloniens angezeigt. Oder, wie es im Selbstverständnis der App heißt: „Der Tsunami besteht aus vielen Tropfen”. Jede Nutzerin ein Tropfen.

Wegen des Kriminalisierungsdrucks bleiben die Betreibenden und Programmierenden von Tsunami Democràtic anonym. Die Steuernden seien nicht sichtbar, erklärte Enric Luján, Professor für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Technologie an der Universität Barcelona gegenüber der Tageszeitung „El País“. Wer die App nutzt, muss den Betreibenden der App vertrauen, ohne Fragen stellen zu können – ein Problem der Klandestinität.

Die Chatgruppe „Tsunami Democràtic“ wurde bereits mehrere Wochen vor der Urteilsverkündung vom 14. Oktober gegen die katalanische Regierung von 2017 aufgebaut. Nach den Urteilen verdreifachte sich die Mitgliederzahl innerhalb weniger Tage auf mehr als 350.000 – der Protest organisiert sich zunehmend digital. 200.000 folgen „Tsunami Democràtic“ auf Twitter, etwa 20.000 User*innen installierten die App auf ihren Mobiltelefonen. So sind kurzfristige, an die Situation vor Ort angepasste Mobilisierungen möglich, die massiven Polizeiaufgebote in Katalonien liefen deshalb teilweise in Leere. Um nicht als Nutzer*in der App identifizierbar zu sein, empfiehlt die Piratenpartei Kataloniens, die App mit einem Virtual Private Network (VPN) zu nutzen, welche die eigene IP-Adresse verschleiert.

Am Vortag der Parlamentswahlen sind in Spanien öffentliche politische Aktionen verboten – der Tag soll „dem Überdenken dienen“. Tsunami Democràtic umfloss das Verbot am 9. November mit dem Aufruf: „Lasst uns sie zum Überdenken bringen!“ In mehr als 300 Ortschaften in Katalonien trafen sich spontan organisiert Menschen zu Diskussionsrunden, zum Feiern, zu Straßenspielen, zu Konzerten und Kundgebungen.

In Barcelona wurde vor der bestreikten und besetzten Universität eine Bühne aufgebaut, 7.000 Protestierende unterschiedlichsten Alters feierten gemeinsam bis in die Nacht auf der Plaça Universitat neben dem Protest-Zeltcamp, wie auf den Fotos auf dieser Seite zu sehen. Es wurden die Hymnen der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung gesungen, El cant de la senyera, L‘estaca, La santa espina und Els segadors, mehrere Bands spielten zur Unterstützung der Proteste: Amics de les Arts, Els Catarres, Gertrudis, Doctor Prats und Ebri Knight. Neben katalanischen, nationalen Fahnen wurden auch Transparente mit anarchistischen Forderungen gezeigt, eine bunte Mischung von Teilnehmenden feierte gegen die Repression. Die ausgelassene Stimmung wurde nicht von der Polizei gestört. Diesmal nicht.

Gaston Kirsche