Mit der unverhofften Grenzöffnung im November 1989 kam Bewegung in die Berliner Ökodorfbewegung. Plötzlich gab es ein Umland, Hoffnungen und Träume richteten sich nach Osten.
Mit dem „Osten“ war von Westberlin aus keine Himmelsrichtung gemeint, denn von hier aus gesehen war das gesamte Umland, egal in welche Richtung wir fuhren, der Osten – die Noch-DDR mit nun offenen Grenzen. Alles was nicht DDR war, nannten wir Westdeutschland, und das habe ich mir bis heute nicht abgewöhnen können. Egal ob ich nach Hamburg, Köln oder Stuttgart fahre, für mich ist das immer noch Westdeutschland, und die Ex-DDR ist der Osten. Sogar innerhalb Berlins ist mir bis heute sehr bewusst, ob ich mich gerade in „meinem“ Westberlin befinde, oder in Ostberlin.
Vor 30 Jahren fuhren wir in verschiedenen Konstellationen in den Osten, auf der Suche nach Landprojekten, die es auch in der DDR vereinzelt gab. Wer sich dem autoritären Arbeitsregime nicht unterordnen wollte, konnte durchaus Nischen finden und auf dem Land ein bescheidenes Aussteigerleben mit Selbstversorgung vom eigenen Hof, Töpferei und anderen kunsthandwerklichen Betätigungen führen. Vor allem waren wir aber auf der Suche nach geeigneten Orten für unsere Ökodorf-Ideen. Verlassene Höfe und Brachflächen wirkten auf uns keineswegs trostlos, sondern boten vielversprechende Möglichkeiten für alternatives, selbstbestimmtes Leben.
Ideen oder reale Projekte?
Wir meinten es sehr ernst damit, „der besitzindividualistischen Leistungs- und Konsumgesellschaft“ etwas entgegensetzen zu wollen. Jedoch scheint es mir rückblickend, dass diese vielen Möglichkeiten auf der einen, und die vielen Ideen und Konzepte auf der anderen Seite mitunter in einem merkwürdigen Nebeneinander gefangen blieben. Da war viel Erhofftes und Erdachtes, das nun erfüllt werden sollte, aber es blieb oft abstrakt, war viel zu selten getragen von Gruppen, deren Mitglieder wirklich Lust gehabt hätten, etwas miteinander zu tun, geschweige denn, einfach mal klein anzufangen. Nicht nur meine eigenen Veröffentlichungen und die Papiere unserer Ökodorf-Vereine, sondern auch manch anderes, beispielsweise im Reader unserer „Ost-West-Begegnung Selbstorganisierte Lebensgemeinschaften“ im Juni 1990 in Kleinmachnow, scheint mir heute recht abgehoben, mehr Traum als Plan.
Ich weiß nicht in jedem Fall, was aus all dem geworden ist, habe aber beispielsweise vom Projekt Ökoinsel, von der Grovesmühle oder von der psychotherapeutischen New Age Kommune nie wieder etwas gehört. Dass Jörg Sommer sein Projekt „Selbstversorgung als Selbstbestimmung“ nicht umsetzen konnte, das weiß ich. Allerdings hat das Ökodorf Sieben Linden auch Wurzeln in dieser Initiative. Das Lebensmodell Tao Oasis wurde vom Tantraverein Antinous und seinem Gründer Andro einige Jahre nach der Wende realisiert – allerdings in Brasilien.
Wirklich in den Osten?
Ein paar junge Leute zogen nach Klein Hundorf in der Nähe von Schwerin. Ich habe schöne Erinnerungen an Besuche bei der freundlichen Landkommune, an interessante Gespräche und Abende am Feuer mit Trommelmusik. Aber selbst wollte ich nicht dort draußen leben, das war mir dann doch zu abgelegen. Heute ist Klein Hundorf eine genossenschaftlich organisierte Dorfgemeinschaft mit etwa 30 Leuten, einschließlich Kindern – das verrät mir die Internetrecherche, und ich freue mich, dass etwas geblieben ist. Das Projekt mit Solidarischer Landwirtschaft möchte wachsen und freut sich über Interessierte.
Ebenfalls realisiert wurde Land in Sicht, eine „Gemeinschaft von Verrückten und Normalen“, die Hans Luger vom KommRum, einer Kontakt- und Beratungsstelle für Menschen mit und ohne Psychiatrieerfahrung im Westberliner Bezirk Friedenau, initiiert hatte. Ursprünglich wollten sie in die nähere Umgebung von Berlin ziehen, landeten dann jedoch ein Stück weiter weg in Wendtshof bei Wallmow in der Uckermark. Wir waren gemeinsam dort, und ich habe überlegt, mich der Gruppe anzuschließen, weil ich sie sehr sympathisch fand und wir ähnliche Ideen hatten. Allerdings träumte ich von einem ganzen Ökodorf mit mindestens 100 Leuten. Mit einer überschaubaren Gruppe in ein ostdeutsches Dorf zu ziehen konnte ich mir dann doch nicht vorstellen.
Nach und nach beschlichen mich ohnehin Zweifel, ob ich wirklich in den Osten gehen sollte. Diejenigen, die nach und nach ins Umland gezogen waren, berichteten teilweise über desillusionierende Erfahrungen. Manche wurden angefeindet oder angegriffen, mitunter wurden Scheiben eingeworfen oder sogar die Häuser angezündet. Die Täter wurden meist nicht gefasst. Vielleicht fürchteten sie, die Aussteiger*innen würden die erhofften Investoren vertreiben, die „blühende Landschaften“ bringen sollten. Wir erfuhren aber auch damals schon von Naziangriffen. Freund*innen aus der Dresdner Neustadt berichteten von Angriffen auf linke Projekte, und dass sie die Polizei angerufen hätten, die aber nicht eingriff, wenn sie sah, dass Rechte gegen Linke vorgingen.
Und dann die Schulen … Ich kannte Leute, die wohnten auf dem Land und brachten ihre Kinder jeden Morgen nach Westberlin in die Schule, weil es in den Schulen der Ex-DDR so autoritär zuging. Meine Tochter geriet einmal in ihrer Westberliner Grundschule aus Versehen in den katholischen Religionsunterricht (eigentlich war sie vom Religionsunterricht freigestellt) und erzählte mir – eher belustigt als erschrocken – von einer komischen Frau, die seltsame Sachen erzählt hätte, von linken schwarzen Händen, die Böses tun, und von guten weißen rechten Händen. Ich fand dann heraus, dass die junge polnische Lehrerin im Rahmen eines Austauschprogramms für eine Weile in der Schule meiner Tochter unterrichtete.
Kunst des Scheiterns
Wenn ich dies aufschreibe, spüre ich ein leichtes Unbehagen und die Sorge, es könnte als typische Wessi-Überheblichkeit verstanden werden, auch wenn ich es keineswegs so meine. Vielleicht sammle ich einfach nur Begründungen zusammen, um nicht eingestehen zu müssen, dass viele von uns, vor allem ich selbst, es einfach nicht gebacken gekriegt haben. Dabei gab es ja eine Menge Leute, die ins Umland gezogen sind und teils bis heute dort leben, es war also durchaus möglich.
In der Wendezeit gab es – so weit ich mich erinnere – keinen Moment, in dem ich irgendeine Art der Überlegenheit gespürt hätte, weil ich Wessi war. So lange ich zurückdenken kann, war ich ja gegen „alles“ gewesen, gegen Staat und Autoritäten, und gegen den Kapitalismus sowieso (das mit dem Staat hat sich für mich ein bisschen, aber eben nur ein bisschen relativiert). Es gab da nichts, worauf ich besonders stolz gewesen wäre, im Gegenteil. Nachdem ich gelesen hatte, dass im Kommunismus marxistischer Prägung Kinder frühzeitig aus der Familie weggehen und in Kinderhäusern leben könnten, trug ich als Jugendliche das Kommunistische Manifest mit mir herum, in der gelben Ausgabe von Reclam, während bei anderen in meinem Freundeskreis oft der rote Rand der Mao-Bibel aus der Jeanstasche leuchtete. Als junge Kommunistin ging ich in die Fabrik, immerhin für eineinhalb Jahre, um den Kolleginnen zu erzählen, dass sie ausgebeutet werden. Ein paarmal wurde ich auf Delegationsreise in die DDR eingeladen, merkte aber schnell, dass das nicht der freiheitliche Sozialismus war, den ich mir erträumte. Ich schob es darauf, dass Deutsche wohl nicht sozialismusfähig seien, und träumte mir das Paradies in der Sowjetunion zurecht – bis ich auf zwei Reisen dorthin ebenfalls enttäuscht wurde. Ende der 1970er Jahre bekam ich Einreiseverbot in die DDR, ebenso wie alle anderen, mit denen ich mich in Westberlin für die Freilassung des inhaftierten Dissidenten Rudolf Bahro eingesetzt hatte. Die Stasi hatte damals einen Beobachter in unsere Soligruppe eingeschleust.
In der Nacht des Mauerfalls saß ich vor dem Fernseher und erschrak. Selbstverständlich war ich gegen die Mauer, aber als ich die euphorisierten Massen sah, bekam ich richtig Angst, dass jetzt ein nationalistischer Taumel losgehen könnte. In der Nacht vom 30. Juni zum 1. Juli 1990 saß ich mit Freund*innen aus der DDR an einem See im Berliner Umland. Wir tranken Sekt auf die verschwindende Mark (die DDR-Währung) und sprachen über unsere Sorge, dass damit der Siegeszug des Kapitalismus eingeläutet würde. Uns vereinte der Wunsch nach einer anderen Gesellschaft und nach einer anderen Ökonomie.
Aber wir waren so Wenige …
Imperiale Gesten und Selbstüberschätzung?
Unsere Ökodorf-Gruppe, die sich aus Leuten von den Veranstaltungen im Berliner Ökodorf und den Organisator*innen der „Ost-West-Begegnung Selbstorganisierte Lebensgemeinschaften“ zusammensetzte (siehe Teil 1, GWR 443), interessierte sich für das Gut Liebenberg, nördlich von Berlin in der Nähe von Oranienburg. Für das Schloss mit großen Ländereien und vielen Nebengebäuden – fast ein Dorf – wurden Betreiber gesucht.
Es war einer der Fluchtpunkte unserer Utopien. Ich weiß nicht mehr, wie viele Abende oder ganze Tage wir diskutierten, wie oft wir hinausfuhren, dort spazieren gingen und unser Ökodorf erträumten. Ich erinnere mich aber, dass es mitunter auch selbstkritische Gespräche gab, was das denn mit uns macht, plötzlich als Wessis so in den Osten zu gehen und uns ausgerechnet für so ein edles Objekt zu interessieren. Eine Mitstreiterin schien uns fast wie eine Schlossherrin durch den Park zu wandeln.
Damals benutzten wir noch keine Computer und es gab das Internet noch nicht so, wie wir es heute kennen. So sind all diese Geschichten bei mir und anderen bestenfalls auf Papier festgehalten, und in mitunter trügerischen Erinnerungen, die doch vielleicht einiges von der Stimmung damals wiedergeben, und für mich auch rückblickend noch einige Fragen aufwerfen. So erinnere ich mich an viele Ausflüge in die Prignitz, nordwestlich von Berlin, wo schon zu DDR-Zeiten einige Aussteiger*innen lebten, und wo es nun immer mehr Leute hinzog, beispielsweise nach Roddahn. Ich hatte Freund*innen im Dorf Babe. Als wir bei ihnen am Frühstückstisch saßen, sagte mein damals vierjähriger Sohn eines Morgens: „Die Küche gefällt mir, wollen wir die kaufen?“ Ich hätte im Boden versinken können. Ja, wir Wessis fuhren durch den Osten, auch um Land und Häuser zu kaufen – natürlich für einen guten Zweck – aber hat mein Sohn uns vielleicht eine imperiale Geste darin gespiegelt?
Es geht ja – damals wie heute – nicht nur darum, wer sich mit wem zusammentut, mit welchem Ziel und in wessen Interesse, sondern auch darum, wie und auf welche Art und Weise des „In-der-Welt-Seins“ dies geschieht. Welche gesellschaftlichen Privilegien spiegeln sich darin, wie ich meinen Körper benutze, wie ich mich kleide und spreche, welchen Geschmack und welche Vorlieben ich kultiviere? Was der Soziologe Pierre Bourdieu (1930-2002) als Habitus bezeichnete, spielte selbstverständlich – neben allem guten Wollen – auch in dem, wie wir nach dem Mauerfall versuchten, zu einer Wende zum Besseren beizutragen, eine nicht zu unterschätzende Rolle. Steckt vielleicht in allen Weltverbesserungsideen und -versuchen auch ein Distinktionsrisiko, dass – wer sich großen gesellschaftlichen Herausforderungen stellt – selbst (zumindest vermeintlich) mit diesen wächst und sich gegenüber anderen als etwas Besseres fühlt?
Elisabeth Voß