Ein Postanarchismus, der seine Vorsilbe verdient, stellt keine Mutmaßungen über das Wesen des Menschen an. Im Unterschied zu vielen traditionellen Anarchismen geht eine postanarchistische Position nicht davon aus, dass der Mensch von Grund auf gut ist und alles Schlechte und Böse vor allem durch die institutionelle Dressur und Gängelung namens Staat in die Welt kommt.
Wesensannahmen führen zu nichts (außer zu Spekulationen). Deshalb ist Postanarchismus auch keine Lehre des Seins, sondern eine theoretische Haltung gegenüber dem Sozialen, gegenüber der „Gesellschaft“. Die Vorsilbe „Post-“ soll zum Ausdruck bringen, dass manche Grundannahmen klassischer Anarchismen in Frage gestellt werden, ohne die Kritik an Herrschaft und die Utopie herrschaftslosen Zusammenlebens jedoch aufzugeben. Infrage gestellt wird etwa die gerade genannte Vorstellung vom guten Wesen der Menschen, aber auch die Annahme, dass nur ein stabiles, über Zeit und Raum hinweg einheitlich beschaffenes Subjekt handlungsfähig ist; und vor allem die Annahme, dass die ökonomisch Benachteiligten im Prinzip den sozialen Umsturz wollen und bloß durch Gewalt davon abgehalten werden.
Die Annahmen eins und drei werden in einem Buch munter weiter vertreten und sogar bestärkt, das so gesehen seinem Titel nicht gerecht wird: Der Politikwissenschaftler Saul Newman versucht in „Postanarchism“ (2016) einen „ontologischen Anarchismus“ (1) stark zu machen – Ontologie ist die Lehre vom Sein. Jetzt könnte man ja sagen: OK, man grenzt sich immer von denen ab, die einem am nächsten sind, was soll´s? Warum also dieses gerade in akademischen Kreisen so verbreitete Spielchen mitspielen?! Newman wendet sich gegen die Ausweglosigkeit des neoliberalen Paradigmas, begeistert sich für die horizontale Mobilisierung von Occupy-Bewegungen und Empörten, kritisiert die Gewalt der Staatsmacht und die Beschränkung von Politik auf Repräsentation. Gegen all das ist überhaupt nichts einzuwenden. Und dennoch geht es um etwas. (2)Denn Newman macht zugleich theoretische, sozio-analytische und politische Vorschläge, die nicht nur verkürzend und problematisch, sondern häufig auch strategisch fatal sind.
Das Problem ist Newmans Plädoyer für einen ontologischen Anarchismus. Der Begriff bezeichnet gar keine Methode, um herauszufinden, wie das Sein der Anarchie aussehen könnte. Er beschreibt oder behauptet vielmehr eine allgemein menschliche Wesensbestimmung: eine „Erfahrung von Freiheit und eine intensive ethische Reflexion“ (3). Sie ist laut Newman der Ausgangspunkt für postanarchistisches Denken und für radikale politische Aktion heute gleichermaßen. Die ontologisch anarchische Existenz verweist darauf, wie wichtig die „Rückeroberung eines autonomen und kontingenten politischen Lebens um seiner selbst Willen“ (4) ist.
Das autonome Leben ist das zentrale Motiv dieses Postanarchismus, seine Motivation und seine Strategie zugleich. Das hat zwei weitreichende Konsequenzen: Zum einen wird die Zielvorstellung einer sozialen Revolution aufgegeben. Die Revolution erscheint bei Newman als ein modernes Metanarrativ, als eine „große Erzählung“, die Mittel, Ziele und Akteur*innen des politischen Kampfes von vornherein festlegt und angesichts einer differenzierten Welt kaum mehr aufrechtzuerhalten ist. Ersetzt wird die Revolution durch den Aufstand (insurrection), der als „Affirmation der Autonomie und Singularität des Individuellen“ (5) und – in Anlehnung an den insurrektionalistischen Anarchisten und Gewaltprediger Alfredo Bonanno – als subversive Praxis kleiner Gruppen definiert wird.
Zum anderen hat das autonome Leben als Ausgangspunkt eine sehr individualistische Schlagseite. Zwar versucht Newman sich vom liberalen und neoliberalen Individualismus abzugrenzen. Mit seiner starken positiven Bezugnahme auf den egoistischen Anarchismus Max Stirners verbleibt er aber bewusst in einer Logik des Individuellen. Dieser Individualismus findet sich schon bei Hakim Bey, der in seiner poetischen Art proklamiert hatte, der „ontologische Anarchismus“ erkläre die Wiedergeburt von König und Anarch in einer Person: „jeder von uns der Herrscher über das eigene Fleisch, die eigenen Schöpfungen“ (6).
Herrschaft soll nicht bekämpft werden, indem Menschen sich kollektiv gegen sie organisieren. Stattdessen sollen sie jenseits von ihr ein freies Leben im Hier und Jetzt beginnen. Newman lehnt jede Form kollektiver Organisierung auf der Grundlage von Klasse ebenso ab wie auf jener von kollektiven Identitäten. Damit formuliert er zwar eine Alternative zur polarisierten Debatte um neue Klassenpolitik und Identitätspolitiken. Allerdings ist diese Art von Ausweichmanöver alles andere als überzeugend. Theoretisch nicht und praktisch auch nicht. Theoretisch übersieht – oder leugnet – er einfach, dass Menschen ihre Klasse und ihre identitären Zuschreibungen ja nicht frei wählen, sondern diese Ausbeutungs- und Diskriminierungskategorien ihnen aufgezwungen werden. Deshalb können sie auch, zumindest strategisch, zum Ausgangspunkt von emanzipatorischen Kämpfen werden. Statt kollektive Identitäten zu nutzen, schlägt Newman vor, sie zu ignorieren. Eine solche Politik, die eine „Geste der Des-Identifikation“ (7) proklamiert – eine Position, die Newman im Übrigen mit Theoretikern wie John Holloway und Jacques Rancière teilt –, tut so, als ließen sich die Strukturkategorien so einfach abschütteln. Politisch führt das in die Irre, weil Macht und Herrschaft nicht einfach verschwinden, indem ich sie leugne. Und genau das fordert Newman: In Bezug auf die Macht und das Gesetz sollten wir so handeln, „als ob diese Paradigmen nicht existierten“(8). Postanarchismus sei, einfach gesagt, „eine Form von Politik und Ethik, die auf einer Gleichgültigkeit gegenüber der Macht basiert“ (9).
Als Postanarchist kann ich vor einem solchen Postanarchismus nur warnen. Um die oben genannten drei Kriterien wieder aufzugreifen: Erstens wird mit der ontologischen Behauptung individueller Freiheit verhindert, sich analytisch und politisch um die konkreten Machtverhältnisse zu kümmern und Strategien zu entwickeln, wie ein möglichst herrschaftsfreies Leben in einer Welt voller Herrschaft aussehen und durchgesetzt werden könnte.
Zweitens versucht Newman zwar, einer modernen Subjektvorstellung mit dem Begriff der Singularitäten zu begegnen. Singularitäten sind, anders als essentialistisch gedachte Identitäten, nie abgeschlossen und immer als personelle und zeitliche Übergänge gedacht. Auch wenn man die Offenheit des Konzepts loben kann, bleibt doch fraglich, ob jede Kritik an politischer Stellvertretung gleich zu einem Plädoyer dafür führen muss, überhaupt nicht mehr sicht- und greifbar zu sein. Die Ablehnung jeglicher Form von Repräsentation bleibt also problematisch. Denn wie die nicht-repräsentative Anonymität und die Unsichtbarkeit, die Newman so feiert, überhaupt Einfluss haben sollen auf das Soziale, bleibt eine völlig ungeklärte Frage.
Ein paar „autonome Leben“, wie auch immer die konkret aussehen sollen, machen noch lange keinen gesellschaftlichen Wandel aus. Das hätte auch aus der Geschichte der alternativen Milieus und der Autonomen der 1980er und 90er Jahre gelernt werden können, auf die aber im Buch überhaupt nicht eingegangen wird. Diese Geschichte ist schließlich gerade keine Geschichte der Ausweitung antikapitalistischer Lebensweisen durch Selbstveränderung und disziplinierte Kleingruppen.
Drittens die unteren Klassen: Durch die starke Wesensannahme der „ontologischen Anarchie“ wird auch der alte anarchistische und linke Glaube an die emanzipatorische Kraft und Funktion der „einfachen Leute“ befeuert. Auch der Postanarchismus sollte, wie der Anarchismus, selbstverständlich auf der Seite der Ausgebeuteten und Schwachen, der Benachteiligten und Diskriminierten stehen. Aber er sollte auch den Gedanken zulassen, dass diese systematisch Miesbehandelten ihre soziale Stellung manchmal durchaus akzeptieren und ihre Verletzungen nicht denen anlasten, die sie zu verantworten haben, sondern weiterreichen an noch Schwächere. Auch wenn Newman ein ganzes Kapitel der „freiwilligen Knechtschaft“ widmet, lässt er sich doch durch diese Einsicht in die potenziell reaktionären und regressiven Momente der Mobilisierung „einfacher Leute“ nicht irritieren. Er erwähnt sie, aber sie haben keinen Einfluss auf das Konzept der ontologischen Anarchie.
In seiner um 1550 verfassten Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft („Discours de la servitude volontaire“)(10) hatte Étienne de la Boetie eine der, wie Newman zu Recht pointiert, Schlüsselfragen politischer Theorie und radikaler politischer Praxis aufgeworfen: Warum lassen Menschen sich beherrschen, warum gehorchen sie? Aus Gewohnheit, durch Ablenkung und wegen Abhängigkeiten, antwortet, kurz gesagt, de la Boetie. Herrschaft gibt es nur durch das Geschehenlassen und Mitmachen der Beherrschten. Dieses Problem ist auch im Anarchismus häufig aufgegriffen worden. (11)
Newman schlägt nun vor, das als emanzipatorische Botschaft zu lesen und schließt: Weil alle Macht vom Gehorsam der Beherrschten abhängt, sind Macht und Herrschaft pure Illusion („essencially an illusion“(12)). Das aber ist ein schlimmer Trugschluss. Macht konstituiert nicht nur ein Verhältnis von Herr und Knecht, sondern sie schafft auch Möglichkeiten, und zwar auf allen Ebenen des Sozialen. Immer gibt es andere, die noch unter einer oder einem stehen, immer gibt es kleine Vorteile zu gewinnen, die eine/n ein bißchen mehr Herr und ein bißchen weniger Knecht werden lassen.
In jedem Arbeitsverhältnis, in jeder Nachbarschaft, in jeder Liebesbeziehung. Genau deshalb sind Machtverhältnisse und Herrschaft so stabil. Macht ist keine Illusion, sondern schafft reale Vor- und Nachteile. Die sind alles andere als eingebildet, sie haben materielle Konsequenzen und sind deshalb auch nicht aufkündbar wie ein plumper Gehorsam á la „ich tue was du willst“. Die Vorstellung einer ontologischen Anarchie führt in die Irre: Sie geht davon aus, dass eine grundlegende Freiheit schlicht vorhanden und nur durch „eine bestimmte Form der Selbst-Disziplin“ (13) verwirklicht werden muss. Sie verhindert die Analyse konkreter Machtverhältnisse und sie verweigert sich kollektiver Organisierung. Aus allen drei Gründen sollte die Vorstellung einer ontologischen Anarchie unbedingt verworfen werden.
Oskar Lubin
Anmerkungen:
1) Saul Newman: Postanarchism. Cambridge/ Malden, MA: Politiy Press 2016, S. xii. [Übers. dieses und aller weiteren Zitate O.L.]
2) Akademisch wäre wohl auch, hier in einer Fußnote anzumerken, dass schon der Anarcho-Taoist Hakim Bey Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahren von „ontologischer Anarchie“ gesprochen hatte. Dass Newman ihn nicht erwähnt, ist einerseits natürlich nicht so tragisch, andererseits aber auch eine vertane Chance, Debatten weiterzuführen; Hakim Bey: Temporäre Autonome Zone. Berlin/ Amsterman: Edition ID Archiv 1994.
3) Newman 2016, S. 10.
4) Newman 2016, S. 37.
5) Newman 2016, S. 54.
6) Bey 1994, S. 77.
7) Newman 2016, S. 29.
8) Newman 2016, S. 91.
9) Newman 2016, S. 137.
10) Étienne de la Boetie: Von der freiwilligen Knechtschaft. Frankfurt am Main: Trotzdem Verlag 2009.
11) Vgl. etwa Gustav Landauer: Die Revolution [1907]. Münster: Unrast Verlag 2003.
12) Newman 2016, S. 103.
13) Newman2016, S. 77.