Lou Marin: Ursprung der Revolte. Albert Camus und der Anarchismus. Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 1998, 328 S., 39,80 DM
Mit seinem Buch „Ursprung der Revolte – Albert Camus und der Anarchismus“ hat Lou Marin im Verlag Graswurzelrevolution ein längst fälliges und auch notwendiges Werk für den deutschsprachigen Raum geschrieben. Gleich in der Einleitung wird auf den vergessenen Libertären Albert Camus speziell in Deutschland hingewiesen. Hier hat der Nobelpreisträger Albert Camus mit seinen Romanen einen etablierten Platz in der Literatur bekommen. Camus‘ Werke gehören im gymnasialen Rahmenplan zur Pflichtlektüre. Und nicht zuletzt hat auch der bekannte Nachrichtensprecher Ulrich Wickert vor kurzem einen Camus-Text in seinen Bestseller „Das Buch der Tugenden“ aufgenommen. Diese bürgerliche Respektierlichkeit macht skeptisch, aber auch gerade neugierig auf den anderen Camus. Ein etablierter Literat ein Anarchist?
In Frankreich weithin bekannt sind Camus‘ vielfältige Kontakte und Verbindungen zur aktiven anarchistischen Bewegung. Er schrieb für viele libertäre Zeitungen und beteiligte sich sogar an Kampagnen und Aktionen. Eine wichtige französische Studie von Teodosio Vertone über die libertären Verbindungen Camus‘ ist hier erstmalig ins Deutsche übersetzt und ergänzt die Ausführungen von Lou Marin.
Das vorliegende Buch ist nicht an biographischen Stationen in Camus‘ Leben orientiert, sondern bündelt Projekte und Thematiken, die ungefähr dem Ablauf seines Lebens folgen. Das erste Kapitel beschreibt den frühen Anarchopazifismus, die Auseinandersetzung mit Kollaboration und Todesstrafe während und nach der Résistance. Im zweiten Kapitel stehen Camus‘ philosophische Überlegungen am Beispiel seines libertären Hauptwerkes Der Mensch in der Revolte im Mittelpunkt. Sein Konzept des mittelmeerischen Denkens wird erläutert. Das dritte Kapitel berichtet über seine Mitarbeit bei anarchistischen Zeitungen am Beispiel der Züricher Kulturzeitschrift „Témoins“. Das vierte Kapitel ist dem algerischen Camus gewidmet und zeichnet die föderalistischen Vorschläge Camus‘ für ein entkolonialisiertes Algerien sowie seine Nationalismus- und Gewaltkritik am bewaffneten Unabhängigkeitskampf nach. Das fünfte Kapitel schließlich befaßt sich mit der deutschen und internationalen Rezeptionsgeschichte.
Lou Marin bewertet sein Buch über den libertären Camus als „Anti-Sartre“ und meint, daß es historisch falsch sei, Gegensätze zu übertünchen, die sich als unüberbrückbar herausgestellt haben. In der Kontroverse um das Buch Der Mensch in der Revolte gäbe es keine Versöhnung zwischen Camus und Sartre, auch nicht posthum. Dieser Bruch sei vergleichbar mit dem Streit zwischen Marx und Bakunin im 19. Jahrhundert.
Lou Marin diskutiert die Kontroversen sachlich fundiert und auf dem jeweiligen historischen Hintergrund. Es ist nicht nur informative Lektüre für Camus-Spezis, sondern bietet eine Ausgangsbasis für theoretische Reflexionen politischen Handelns heute. Das Buch ist auch geeignet, erneut Fragen zu diskutieren; z.B.: welche Impulse der Erneuerung hätte die „Linke“ heute bei der Überwindung ihrer Zerrissenheit? Beim Streit zwischen Marx und Bakunin ging es um die verschiedenen Revolutionskonzeptionen und Strategien der Revolution. Auch beim Streit zwischen Camus und Sartre wurden diese Fragen gestellt. Im Gegensatz zu Camus hatte Sartre einen militärischen Machtblock und die verstaatlichte Revolution auf seiner Seite. Es gab den Kalten Krieg und die Blockkonfrontation.
Heute, nach dem Zusammenbruch des „Ostblocks“ ist nun der Kapitalismus als Sieger im Weltmaßstab hervorgegangen, einhergehend mit staats-militärischen Konzepten und der Bildung von Nationalstaaten. Kriege, ethnische Konflikte, Völkermord, Arbeitslosigkeit und soziale Konflikte etc. stellen nach wie vor die „Soziale Revolution“ auf die Tagesordnung. Neue Perspektiven können heute auch jenseits von Dogmatismus und Orthodoxie diskutiert werden.
Albert Camus will das moralische Werturteil für die Gegenwart, denn letztendlich kommt die Revolte nicht ohne Liebe aus. „Der geschichtliche Absolutismus hat trotz seiner Triumphe nie aufgehört, mit den unbezwinglichen Forderungen der menschlichen Natur zusammenzuprallen … Das revoltierende Denken, das der (Pariser) Commune oder des revolutionären Syndikalismus hat diese Forderung dem bürgerlichen Nihilismus wie dem cäsarischen Sozialismus gegenüber immerfort verleugnet. Das autoritäre Denken … hat diese freiheitliche Tradition überflutet. Aber dieser armselige Sieg ist vorübergehend, der Kampf ist noch nicht zu Ende.“ (Der Mensch in der Revolte, zit. nach S.92)
An Camus sind heute auch kritische Fragen zu stellen. Erbringt eine Wertediskussion notwendige Perspektiven für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft? Verhindert eine Zähmung der Leidenschaften eine maßlose Geisteshaltung, den Machtstaat oder Krieg? Eine Moral und Wertediskussion wird uns heute besonders penetrant von christlich-sozialer Seite aufgezwungen: Schutz des Lebens, christlich-abendländische Werte gegen sonstwen… Und allgemein gefragt: Ist es nicht immer wieder die Domäne konservativer Politik, eine Moral und Wertediskussion einzuklagen und zu führen? Es gibt heute zuviel „positives“ Denken und zuwenig Interessenklarheit und Opposition. Letztendlich liegt in der Negation der Dinge die Kraft, die zum Weitergehen zwingt und die Neues fördert. Und der Ursprung der Revolte bei Camus, jenes „Nein!“, jenes „Genug!“, ist genau solch eine Negation. Es sind immer wieder ähnliche philosophische Kontroversen seit der griechischen Antike, die Lou Marin in seinem Buch „Ursprung der Revolte“ diskutiert. Sie sind auch heute aktuell. Die Philosophen haben die Welt nur verschieden erklärt, es kommt darauf an, sie zu verändern!
Das Buch hat praktische Gebrauchswerte: es eignet sich zum Querlesen oder zur Diskussion einzelner Kapitel, und auch das Personenregister bietet einen guten Einstieg zur Neu-Entdeckung von Albert Camus aus der jeweiligen Perspektive des Lesers und der Leserin.