Vom 5. Dezember 2019 bis ca. 20. Januar, mehr als 45 Tage, stand Frankreich unter dem Zeichen der bis dato längsten Massenstreiks in der Nachkriegsgeschichte.
Gestreikt wurde gegen das neue Rentengesetz der Regierung Macron-Philippe, welches das Renteneinstiegsalter von bisher 62 auf 64 Jahre anheben und ein neues, höchst undurchsichtiges Punktesystem einführen will. Das soll an die Stelle des geltenden Systems mit 42 berufsgruppenbedingten Sonderregelungen treten, das jedoch – und das ist der entscheidende Punkt – nach den einkommensmäßig besten 25 Berufsjahren berechnet wurde und dadurch die Rentenhöhe leicht berechenbar machte.
Erreicht wurde durch die Streiks die – vorläufige – Rücknahme der Erhöhung des Renteneinstiegsalters, die jedoch an eine Finanzierungsalternative geknüpft ist, die die gewerkschaftliche Seite in den Verhandlungen bis Ende April vorlegen muss, um eine von der Regierung angeblich konstatierte Deckungslücke durch die Beibehaltung des Rentenalters zu kompensieren.
Die mitgliederstärkste, aber gleichzeitig am stärksten reformistische Gewerkschaft CFDT (ca. 600000 Mitglieder) jubelte schon „Sieg“ nach Bekanntgabe der vorläufigen Rücknahme der Erhöhung des Renteneinstiegsalters durch Premierminister Philippe und gab direkt danach den Streik auf. Das brachte der CFDT eine Besetzung ihrer Büroräume durch die linke CGT und die linkssozialistische Gewerkschaft SUD-Rail sowie weitere kleine, neue radikale Gewerkschaften in der hochzersplitterten Gewerkschaftsgalaxie Frankreichs ein. Solche internen, konfliktreichen Auseinandersetzungen unter den Gewerkschaften sind aber ein sicheres Anzeichen dafür, dass die Streikbereitschaft zurückgeht, auch wenn bei der Demomobilisierung am Freitag, 24. Januar, noch einmal eine frankreichweite Beteiligung von 249000 Demonstrant*innen festgestellt werden konnte (Le Monde, 26-27. Januar, S. 7). Die Zahl ist gleichwohl kein Vergleich zu den ersten Wochen der Mobilisierung im Dezember, als bis zu 1,8 Millionen Demonstrierende gezählt wurden. Inzwischen ist vor allem in der tragenden Streikbranche des Transportwesens – mit den Speerspitzen Bahngesellschaft SNCF sowie den Bus- und U-Bahnbetrieben im Großraum Paris, der RATP – der Normalbetrieb wieder aufgenommen worden. Und der angekündigte Übergang vom fortgesetzten (reconductible) Streik an jedem neuen Tag ist inzwischen der Übergang zu einem beispielhaften Streiktag während der ganzen Woche gefolgt – mit mäßigem Ergebnis am letzten Mittwoch, dem 29. Januar, als trotz des ausgerufenen Streiks fast alle Eisenbahnen und U-Bahnen pünktlich fuhren.
Ein „epischer“ Streik mit ungewöhnlichen Beteiligungen
Der Streik war trotzdem „episch“, auch für französische Verhältnisse. In über sechs Wochen wurden nicht nur die öffentlichen Verkehrsbetriebe fast vollständig lahmgelegt – mit einem Schwerpunkt allerdings des Großraums Paris und weit weniger spürbar in Provinzstädten –, sondern bisher oft streikfaule, ganz unerwartete Sektoren, etwa Anwälte und Angestellte im Gerichtswesen, beteiligten sich an den Streiks, die von direkten Aktionen wie etwa dem gezielten Stromversorgungskappen durch Angestellte bei den elektrischen Stromversorgern oder das Blockieren von Ölraffinierien, Häfen und Treibstoffdepots effizient begleitet wurden. So konnte der Streik seine im Wesentlichen gewaltfreie, rein sozialökonomische Macht entwickeln, etwa der staatlichen Eisenbahngesellschaft SNCF rund eine Milliarde Euro Schaden verursachen und damit den Druck erzeugen, die Regierung überhaupt zur Verhandlung zu zwingen. Am Freitag, 24. Januar, passierte das um die Alterserhöhung etwas abgespeckte Paket dennoch den Ministerrat und setzte die üblichen parlamenarischen Durchsetzungsverfahren in Gang, die sich noch einige Wochen hinziehen werden. In der Eile sind jedoch viele Fehler im Gesetzespaket. So wird das mathematische Berechnungsverfahren des neuen Punktesystems, bei dem im Gegensatz zu bisher nicht mehr nur die 25 einkommensstärksten Berufsjahre, sondern alle Erwachsenenjahre – auch diejenigen, in denen man arbeitslos war oder nur geringes Einkommen hatte – in die Punkteberechnung eingehen, erst in einigen Monaten nachgeliefert. Es wird also ein Gesetz durchs Parlament gepeitscht, das strukturell überschaubar und in seiner Berechnungsgrundlage noch völlig unfertig erscheint. Das eröffnet wiederum reichlich Möglichkeiten, das Gesetz als verfassungswidrig vor Frankreichs höchstem Gericht anzufechten, was sicherlich auch unternommen wird.
Neue Entwicklungen in einer lebendigen Gewerkschaftsbewegung
Die große Streikphase scheint sich jedoch nun ihrem vorläufigen Ende zuzuneigen. Was bleibt von über sechs Wochen Streik in den infrastrukturellen Kernsektoren Frankreichs? Nun, im Vergleich zu der seit einem Jahr die Proteste prägenden Gelbwestenbewegung haben die Gewerkschaften wieder an eigenständiger Handlungsfähigkeit gewonnen und gezeigt, dass sie nach wie vor in der Lage sind, ökonomischen Druck zu erzeugen – und wirtschaftlich-materielle Schäden zu verursachen, die in ihrem Ausmaß von keinem Riot je auch nur annäherungsweise zu erreichen sind. Gleichzeitig haben interne Kritiken, etwa an den Gewerkschaftsführungen, durch zunehmend unabhängige Basisgewerkschafts-Versammlungen zur Gründung neuer Gewerkschaften wie etwa „Die Basis“ oder „RS – Rassemblement Syndical“ (Syndikalistische Vereinigung) vor allem im Transportbereich geführt. Von ihrer Seite her kommt auch die Kritik an der Verhandlungspolitik der CFDT, die gerade im Transportsekotor eine nur äußerst geringe Organisierung aufweist. RS hat dagegen gerade in der Transportbranche innerhalb von nur wenigen Wochen bereits 43000 Mitglieder (vgl. Le Monde, 23. Januar, S. 10) gewinnen können. Die gewerkschaftliche Zersplitterung in Frankreich hat also noch einmal zugenommen. Doch entgegen der landläufigen Meinung hat das eher zu einer Stärkung und Steigerung der Schlagkraft der Gewerkschaften geführt, weil im Gegensatz zum bundesdeutschen Modell der Einheitsgewerkschaft und zu privilegierten Hochlohn-Interessensgewerkschaften (etwa der Fluglotsen oder der Lokführer*innen) die radikalen Gewerkschaften in Frankreich schnell durch individuelles Streik-Losschlagen eine gesamtpolitische Lage schaffen können, in der die eher zögerlischen, reformistischen Gewerkschaften (wie etwa die CFDT, die FO, die UNSA und die christlichen Gewerkschaften) vor die Wahl gestellt werden, mitzustreiken (in sogenannten intersyndikalistischen Aktionsbündnissen) oder drastisch an Einfluss und Mitgliederzahlen zu verlieren. Aus dieser Konstellation nährt sich die anhaltend hohe Streikbereitschaft in Frankreich.
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