Wolfgang J. Mommsen: 1848. Die ungewollte Revolution. Die revolutionären Bewegung in Europa 1830-1849. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 1998, 334 S., 39,80
Die Stärke der Monographie von Wolfgang J. Mommsen „1848 – Die ungewollte Revolution“ liegt in der teilweise bestechenden Darlegung der Konfliktherde in der Nationalversammlung zwischen den gemäßigten Liberalen, die zur „Schließung“ des revolutionären Prozesses aufgebrochen waren und den radikalen Demokraten, die dessen Permanenz betrieben. Hier gelingt ihm ein nachhaltiger Einblick in die Genese der Fraktionierungen der Paulskirche (Kp. 8 u. 10). Die Auswahl des Titels „Die ungewollte Revolution“ geht auf die Pointierung der Zerrissenheit des bürgerlichen Liberalismus, sich an der Spitze eines ihr unheimlichen Prozesses wiedergefunden zu haben, zurück.
Neben der bürgerlichen Verfassungsbewegung weist Mommsen noch auf drei weitere „beschleunigte Prozesse“ (J. Burckhardt) in der Revolution von 1848/49 hin:
- die bäuerlichen Protestbewegungen
- die Protestaktionen von Teilen der Unterschichten gegen die bestehende Sozialordnung und
- die national-revolutionären Bewegungen.
Die Auseinandersetzung mit dem revolutionären Potential der Unterschichten stellt die eigentliche Schwachstelle dieser Publikation dar. Mommsen stellt sich sicherlich der Thematik (Kp.7 u 13), aber dennoch will es ihm nicht gelingen, die originären Motive dieser Akteure überzeugend darzustellen. Sie zerrinnen ihm immer wieder zwischen den Zeilen unter dem offensichtlich überhöhten Bild eines gemäßigten Liberalismus. So spricht er diesem revolutionären Potential einmal das „politische Augenmaß“ (54), ein anderes Mal „eine eigentlich revolutionäre Perspektive“ (63) ab, läßt seine Ziele in die unendlichen Gefilde der Utopie – „ebenso redlich wie illusionär“ (93) – abdriften und wirft ihm vor, durch eine naive Selbstüberschätzung sowie dilettantische Umsetzung seiner revolutionären Aktionen oftmals – wenn auch ungewollt – „…den Befürwortern eines konterrevolutionären Kurses in die Hände …“ (245) gearbeitet zu haben.
Dieses Bild ist mehr als fragwürdig und wirkt in Mommsens starken Kapiteln selbst wie ein Fremdkörper. Für Mommsen dürften die Aktionsformen der Unterschichten erst mit der Sozialdemokratie in die berechenbaren Bahnen einer Bewegung münden. Das aber ist ein folgenschwerer Irrtum, denn die gemäßigt-liberale wie die radikal-demokratische Position sind beides Kinder der Aufklärung, und: welches zu früh oder zu spät geboren wurde, das läßt sich eben nicht ausschließlich aus der Retrospektive bestimmen, sondern muß aus den jeweiligen konkreten historischen Verläufen ausgegraben werden. Im Kern scheint Mommsens Argumentationslogik davon auszugehen, daß in der europäischen Gegenwart ausschließlich die national-emanzipatorische Idee eines nach Osten sich ausweitenden „…friedlichen Europa freiheitlicher Nationalstaaten …“ (324) noch virulent ist. In West- und Mitteleuropa scheinen ihm die ländliche Protestbewegung, die bürgerliche Verfassungsbewegung sowie die Protestformen der Unterschichten gegen die bestehenden Sozial- und Staatsordnungen an ihrem politischen Ende angekommen zu sein. Auch wenn Mommsen diese Position nicht ausdrücklich formuliert, so kann seine Argumentation sie letztlich nicht verleugnen. Das aber könnte ein verhängnisvolles historisches Fehlurteil sein. Keine Gegenwart ist bisher je an ihr wirkliches Ende gekommen, vor dem nur noch die Ernte der reifen Trauben gelegen hätte. Jenes industrielle System, das auch durch die Revolution von 1848/49 freigesetzt wurde, garantiert nicht per se Freiheit und Wohlstand, sondern polarisiert, verschlingt ungefragt die letzten Rudimente traditioneller Lebenverhältnisse und bringt aus sich nach wie vor tiefe soziale und ökonomische Krisen hervor, ganz abgesehen von den modernen ökologischen Risiken. Und die „Schatten“, die Mommsen an der europäischen Peripherie in „nationalistischen Rivalitäten“ (324) ausmacht, sind vielleicht vielmehr Schatten eines übermächtigen ökonomischen Systems, das nicht mehr bereit ist, über sich hinauszudenken.
Davon ungeschmälert liegen Mommsens Vorzüge darin, die zentralen Ereignisfelder aus den Perspektiven unterschiedlicher Handlungshorizonte zu beleuchten und der/dem LeserIn die je begrenzten Handlungsoptionen der darin verwobenen Akteure transparent werden zu lassen. Dies allein macht das Buch schon lesenswert, wie auch seine evidente Analyse der Verstrickung der revolutionären Kräfte in den europäischen Zentren mit den national- revolutionären Bewegungen an der Peripherie (Kp. 10).
Mommsen bleibt darin zuzustimmen, daß es heute in erster Linie gilt, die Revolution von 1848/49 als Teil eines „…umfassenden Prozesses gesellschaftlichen Wandels…“(323) zu verstehen, womit zugleich die revolutionären Bewegungen in Europa Mitte des 19. Jahrhunderts an Aktualität gewinnen, denn die Konflikte zwischen städtischer und ländlicher Welt, zwischen Peripherie und Zentrum, die Auseinandersetzungen um die Garantie der Grundrechte und ihre verfassungsmäßige Repräsentation sowie das Ringen um soziale Gerechtigkeit sind virulenter als Mommsen sich einzugestehen scheint. Man kann das Erbe einer Revolution nicht antreten, indem man zugleich dem Ganzen ihrer Bewegung das Ende, ihre geistige „Schließung“ verkündet.