Nachdem die „Gelbwesten“-Bewegung ab November 2018 ihren Druck auf die Regierung hauptsächlich im Bereich der Zirkulationsebene entwickelte, gekennzeichnet durch die Blockaden der Verkehrskreisel (Rond Points) und damit der Zufahrswege für Lieferwagen an große Supermärkte und Verteilerfirmen, konzentriert sich die neue Streikbewegung seit dem 5. Dezember 2019 wieder stärker auf die Betriebs- und Produktionsebene, worauf schon der klassische Anarchosyndikalismus im Gegensatz zur politischen Ebene und zur Verteilungsebene seinen Schwerpunkt legte. Die direkten Aktionen, die die französischen Streiks unterstützten, die verschiedenen Blockaden und Sabotageaktionen, waren beeindruckend. Mitte Januar (Stand des folgenden Artikels) sind sie bereits über 6 Wochen lang durchgeführt worden – kein wirkliches Ende in Sicht (Red.)
Libertäre Beobachter*innen meinen, die Streiks seit dem 5. Dezember 2019 seien nicht ganz so stark wie die aus dem Jahr 1995, als die französischen Streiks zusammen mit der zapatistischen Bewegung die sogenannte „Bewegung für eine andere Globalisierung“ einläuteten – inzwischen dauern sie aber schon länger. (1) Sicher kann man nicht von einem Generalstreik sprechen, sondern von einer Streikwelle mit unzweifelbarem Schwerpunkt im Transportwesen und örtlich in Paris und der Île-de-France, wenn es auch zeitweise Massenmobilisierungen in anderen Regionen und Städten gab.
Die reinen Zahlen der Streiks sind trotzdem beeindruckend. Die Arbeiter*innen der staatlichen Transportgesellschaften RATP (Bus und Métro in und um Paris) sowie die Arbeiter*innen bei den staatlichen Eisenbahnen (SNCF), die hauptsächlich in den beiden eher radikalen Gewerkschaften SUD Rail ( entstanden aus den Streiks 1995 ) und der über einen orthodoxen Kommunismus hinausgehenden CGT organisiert sind, koordinieren ihre Streiks (sogenannte „intergewerkschaftliche Strategie“). An vielen Tagen produzierten die Gewerkschaften in beiden Transportbranchen einen regelrechten Stillstand im schnelllebigen Berufsalltag der Metropolenregion Paris. Hinzu kamen eine Streikbeteiligung von 80% der Arbeiter*innen in den Atomkraftwerken (natürlich wäre es besser, die würden geschlossen; aber davon ist Frankreich, wie bekannt, weit entfernt!). 44% des Gesamtpersonals der staatlichen Energiegesellschaft EDF streikten und sieben von insgesamt acht Ölraffinerien wurden blockiert, des Weiteren 12 Treibstoffdepots. Immer wieder gab es Gerüchte über knapp werdendes Benzin an Tankstellen – doch bisher ist es nicht dazu gekommen, obwohl auch die LKW-Fahrer zwischenzeitlich einige Tage streikten. Mehrere große Fabriken im Sektor der Erdölverarbeitung wurden in einen Produktionsstillstand versetzt. Bei der Raffinerie „Lavera“ in Südfrankreich etwa gab es Stimmen für einen fortgesetzten Streik von 80% der Belegschaft. Die Streiks betrafen in unterschiedlichem Maße den Luftverkehr (mit bis zum Teil 30% ausgefallenen Flügen), das Bildungssystem (mit zeitweise 75% bestreikten Einrichtungen in ganz Frankreich), den öffentlichen Dienst mit 32% der Beschäftigten und die äußerst unzufriedenen Angestellten im Gesundheitssystem mit 16%. Neben Feuerwehrleuten bestreikten gegen Anfang Januar sogar Anwält*innen und Richter*innen ihren Gerichtsalltag und führten in den Justizgebäuden medienwirksame Die-Ins durch.
Beeindruckend waren auch die Zahlen der die Streiks unterstützenden Massendemonstrationen: in 250 Städten fanden am Streikbeginn, 5. Dezember 2019, Demonstrationen mit insgesamt ca. 1,5 Millionen Teilnehmer*innen, am 17. Dezember mit 1,8 Millionen Teilehmer*innen statt.
Es gibt eine Diskussion darüber, ob sich die Gewerkschaften bestimmte Aktionsformen bei den Gelbwesten abgeschaut oder sie integriert haben oder ob es zu einer Renaissance der Gewerkschaftsaktionen auf der eher ökonomischen Ebene anstatt der Distributionsebene gekommen ist. Auch die Demospitzen sehen wieder anders aus: An die Spitze der Demos haben sich während der Gelbwestenmobilisierung besonders militante Autonome gesetzt (sogenannter „Cortège de tête“) und schnell gewaltsame Auseinandersetzungen mit der Polizei begonnen oder zum Teil sogar gewerkschaftliche Ordner*innen angegriffen. Das hat sich verändert: An der Demospitze gibt es nun ein entschlossen vorgehendes Gemisch verschiedener sozialer Bewegungen und Gewerkschaften. Die internen Scharmützel unter Demonstrant*innen und auch solche mit der Polizei werden eher vermieden. Das Gewaltniveau ist niedriger geworden als zur Zeit der Gelbwesten. Dafür sorgen die Streiks, die sich auf die ökonomische Ebene und die Betriebe verlagert haben, für einen ebenso starken oder stärkeren gewaltlosen Druck auf die Regierung.
Bei den Demos gibt es auch immer Demoblocks der Gelbwesten, doch deren Stärke ist im Vergleich zu ihrem Höhepunkt zur Jahreswende 2018-2019 stark zurückgegangen. Waren damals die Gewerkschaften durch die Gelbwestenmobilisierung via Websites und „soziale“ Netzwerke ausgehebelt und in eine Krise getrieben worden, so ist die Basis der Streiks nun wieder die Belegschaftsversammlung im Betrieb. Außerdem haben die Gewerkschaften gezeigt, dass sie nicht bereit sind, eine angepasste Vermittlungsinstitution zwischen Betriebsbasis und Regierung zu bilden, wie es die herrschenden Medien immer wieder herbei zuschreiben versuchten. Sie wollen wieder selbst die Basis der Organisierung der Arbeitenden sein. Gleichwohl hat es die Gewerkschaftsbewegung mit einer latenten Spaltung in die radikalen Gewerkschaften (CGT, SUD) und den sich sehr schnell mit faulen Kompromissen zufriedengebenden Gewerkschaften (die sozialdemokratische CFDT, die ebenso reformistische Force Ouvrière in den Verwaltungsberufen, die christlichen Gewerkschaften sowie die UNSA im Bildungsbereich) zu tun. Die Gräben taten sich deutlich auf, als die CFDT (die mit 630.000 Mitgliedern knapp vor der CGT liegende stärkste Gewerkschaft in Frankreich) von der zeitweisen Verschiebung der Entscheidung für die Anhebung des Renteneinstiegsalters von gegenwärtig immer noch 62 auf 64 Jahre Mitte Januar von einem „Sieg“ sprach. Doch hat die Regierung bisher keineswegs das ebenso umstrittene wie undurchsichtige Punkteverfahren zurückgenommen, das den Kern der Rentenreform Macrons ausmacht und anstelle der bisher gültigen 25 Vollarbeitsjahre als Bemessungsgrundlage der Renten eingeführt werden soll.
Blockaden zur Verstärkung der Streiks
An vielen Orten wurden Blockaden vor den Firmentoren benutzt, den Streik der Angestellten oder Arbeiter*innen zu ermutigen oder zu verstärken. Sehr viele Logistikzentren wurden blockiert; die meisten Häfen wurden durch Blockaden beeinträchtigt, wenn sie nicht von den Hafenarbeiter*innen bestreikt wurden (wie etwa der Hafen von Marseille Mitte Januar). Durch Blockaden der Bezahlstellen auf der Autobahn sowie der Umgehungsautobahnen in Großstädten konnten zahlreiche Fabriken nicht mehr produzieren, weil ihre Zulieferteile knapp wurden oder nicht rechtzeitig ankamen. Seit Beginn der Streiks wurden viele Universitäten und Gymnasien blockiert oder besetzt, vor allem von Schüler*innen und Student*innen. Die Streikbeteiligung der Lehrer*innen war jedoch nur örtlich und zeitweise stark, mancherorts blieb sie auf Einzelne beschränkt. Ein wenig nach dem Vorbild ökologischer Aktivist*innen oder auch der Gelbwesten haben Syndikalist*innen die großen Einkaufszentren an den Rändern der Kleinstädte heimgesucht und zeitweise überschwemmt – sie gelten weithin als Symbole für die kapitalistische Ausbeutung in ihrer modern neoliberalen Form. An den Abfahrtszentren der Stadtbusse der Pariser öffentlichen Verkehrsbetriebe RATP, zu der auch die Métros gehören, gab es jeden Morgen einen Kampf um das Losfahren der Busse. Die Busfahrer*innen sind generell schlecht bezahlt und leben prekär – sind aber gerade deshalb auf ihren Lohn angewiesen, der ihnen nicht automatisch aus Streikkassen erstattet wird. Darum fahren sie auch in Streikzeiten los, werden aber von Hunderten Streikenden an den 7-8 verschiedenen Ausgängen der Busdepots blockiert.
Überhaupt kommen die Streikenden ebenso wie die Unterstützer*innen am frühen Morgen aus den unterschiedlichsten Zusammenhängen und Berufsgruppen, seien es Student*innen, Ökoaktivist*innen, Gelbwesten, Arbeiter*innen oder Arbeitslose. Sie kommen morgens bei Palettenfeuer und Kaffee zusammen. Oft beginnt dann die polizeiliche Repression schon ab 5 Uhr morgens. Mit Knüppeln, Tränengas und LBD-Kugeln (auch Flashball genannt; Kautschukkugeln, die schwere Verletzungen verursachen und am 5. Januar ein Todesopfer) – Lletztere besonders intensiv gegen Gymnasiast*innen und Student*innen angewandt – will die Polizei den Willen der Streikenden brechen, was bisher nicht gelang. Die direkten Aktionen liefen selbst während der Weihnachtszeit und des Jahreswechsels weiter und führten dort zu beträchtlichen Gewinneinbußen.
Direkte Aktionen und Sabotageakte
Während der Streiks gab es ganz neue, bisher noch nicht praktizierte direkte Aktionen. So haben streikende Arbeiter*innen der Energiebetriebe der EDF zum Beispiel eine Reihe von gezielten Stromabschaltungen durchgeführt. Ziel der Stromcuts waren etwa strategische Auslieferungszentren von Amazon, auch Bürgermeisterämter oder Verwaltungskomplexe wie die Präfekturen in den Departements. Am 25. Dezember 2019 haben Hunderttausende von Haushalten von einer wilden Senkung des Stromtarifs profitiert.
Zu einem regelrechten Sport auf den Straßen hat sich in der Streikzeit vor allem bei ökologisch motivierten Aktivist*innen die Sabotage der E-Scooter entwickelt. Diese elektronischen Roller gelten als streikbrechende Fortbewegungsmittel von Leuten aus dem Mittelstand, der Oberschicht oder der Managerkaste. Nicht selten werden sie verwendet, um bestreikte Métros zu umgehen. Für ökologische Aktivist*innen sind sie hoch umweltverschmutzend. Darüber hinaus wird deren Einsammlung und nächtliche Aufladung durch unterbezahlte Sub-Proletarier*innen zu übelsten Arbeitsbedingungen erledigt. In der Nähe der Gemeinde Poilley in der Normandie haben die 340 Arbeiter*innen der Firma „Remade“, die von Schließung bedroht ist, als Zeichen ihrer Kampfbereitschaft angekündigt, bei Kündigungen oder ausbleibender Abfindung bei Ausscheiden aus dem Betrieb pro Tag 1.000 iPhones zu zerstören. Mitte Dezember haben sie bereits damit begonnen. (2) Die Drohung wird als Kampfmittel gegen die mögliche Schließung eingesetzt.
Bei der RATP, die vor allem im Pariser Großraum massiv die Métrolinien bestreikt, machten sich die Arbeiter*innen zusammen mit ihren Kolleg*innen der Eisenbahnergewerkschaft der SNCF dazu auf, zu bestimmten Zeitpunkten einzelne Bahnhöfe zu überfluten und so funktionsunfähig zu machen. In Paris gibt es zwei Linien, die Nr. 1 und die Nr. 14, die bereits vollautomatisiert ohne Fahrer*innen funktionieren und während vieler Streiktage die einzig voll funktionsfähigen Métros waren. Doch auch die Vision künftiger Abschaffung aller Fahrer*innen und der Vollautomatisierung der Métros trifft bereits auf Aktionsalternativen: Denn auch die automatisierten Métros wurden an einzelnen Tagen blockiert, und zwar durch streikende Arbeiter*innen an den Kontollbildschirmen und -geräten.
Die französischen Gewerkschaften, die seit langem hochfraktioniert sind, haben in der Regel viel weniger Mitglieder als deutsche Gewerkschaften, also auch kaum gefüllte Kassen, um Lohnausfälle für die Streiktage zu ersetzen (dafür streiken die deutschen Gewerkschaften nie – haben aber volle Kassen!). So bilden sich während der Streiks immer wieder berufsübergreifend spontane Streikkassen, die selbstorganisert von den Beteiligten für die jeweils in einem Stadtteil in unterschiedlichen Branchen Arbeitenden verwaltet werden. Diese spontanen Streikkassen gehen teilweise zurück bis auf die mutualistischen Kassen während der Résistance, aus denen dann nach der Befreiung der französische Sozialstaat entstand, der bis heute von der Arbeiter*innenbewegung verteidigt wird. Ein großer Teil der Weihnachtsgeschenke zur Jahreswende floß in diese spontanen Streikkassen. Sie bildeten zum Teil sogar eine Alternative zu den offiziellen Kassen der Gewerkschaftszentralen.
Und die Arbeiterbewegung in der BRD? Nur eine einzige Empfehlung: lange und entschlossene Arbeitskämpfe durchführen wie in Frankreich! In der BRD liegt das Renteneinstiegsalter bei 67 Jahren, in Frankreich noch immer bei 62 Jahren. Woran das wohl liegt?
Anmerkungen:
http://acontretemps.org/spip.php?article745
https://actu.fr/normandie/poilley_50407/manche-salaries-lusine-remade-menacent-detruire-1000-iphone-par-jour-leurs-droits_30116181.html
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.