Neue Menschen können nur zur Welt kommen, wenn andere Menschen schwanger werden und gebären – das ist eine biologische Tatsache. Ebenfalls eine biologische Tatsache ist, dass nur etwa die Hälfte aller Menschen schwanger werden kann und die andere Hälfte nicht. Diese reproduktive Differenz erfordert politische Aushandlungen: In welchem Verhältnis steht die individuelle Entscheidung einer Person, schwanger zu werden (oder nicht), zu den Interessen der Allgemeinheit? Welche Pflichten und Rechte haben Schwangere oder potenziell Schwangere? Sind sie zum Beispiel verpflichtet, die Schwangerschaft zu Ende zu führen, obwohl dies ein körperlich belastender und möglicherweise sogar gefährlicher Vorgang ist? Haben sie einen Anspruch auf Entschädigung für die damit verbundenen Einschränkungen, Mühen und Risiken?
All das sind politische Fragen, das heißt, ihre Antwort ergibt sich nicht zwangsläufig aus der „Natur der Sache“, wie in patriarchalen Kulturen gerne behauptet wird. Dort war und ist das Verhältnis zwischen Menschen, die schwanger werden können, und jenen, die es nicht können, als Herrschaftsverhältnis bestimmt: Schon seit Aristoteles wird der schwangere Körper als rein passive Umgebung für den Embryo betrachtet, als Gefäß und Nährboden, in dem SEIN Same, SEIN Kind heranwächst. Menschen mit Uterus wurden als „Frauen“ definiert und dann anderen Regeln und Beschränkungen unterworfen als die „Männer“, die ja in vielen Sprachen auch einfach „Menschen“ genannt werden, „hommes“.
Die Rechte des „Mannes“ über die „Frau“ werden in der Regel von Staat und Gesetz geschützt und garantiert. Wenn also der Anarchismus eine herrschaftskritische Gesellschaftstheorie sein will, müsste die Herrschaft über Menschen, die schwanger werden können, einen zentralen Punkt bilden. Leider ist das nicht so. Von einigen, freilich wichtigen Ausnahmen wie Emma Goldman abgesehen, haben sich anarchistische Theoretiker entweder mit dem Thema kaum beschäftigt oder sogar – wie etwa Proudhon – die Unterwerfung von Menschen, die schwanger werden können, ausdrücklich propagiert.
Wie könnte heute eine anarchistische Position zur reproduktiven Differenz aussehen?
Einige Punkte sind dabei inzwischen unumstritten: Anarchist*innen lehnen in der Regel traditionelle patriarchale Eheformen ab, sind gegen Abtreibungsverbote und für egalitäre Elternschaft. Das ist aber nicht genug. Was fehlt, das ist ein klares Bekenntnis dazu, dass auch Menschen, die schwanger werden können oder es gegebenenfalls sind, das unveräußerliche Recht auf körperliche Selbstbestimmung haben.
Das Thema hat eine hohe Relevanz für viele aktuelle Fragestellungen, und es wäre eine gute Gelegenheit, die anarchistische Idee der Herrschaftslosigkeit auf tagesaktuelle Fragestellungen anzuwenden. Zum Beispiel was das Recht betrifft, Sex zu haben, wie und wann und mit wem man möchte, ohne dadurch in Zwangsverhältnisse zu geraten. Diese Feststellung ist keineswegs so banal, wie sie klingt. Ja, heute gibt es in Deutschland offiziell keine Zwangsheirat mehr. Aber es gibt sehr wohl einen fatalen Trend zur Wiedereinführung von „Väterrechten“. Nur dass die sich heute nicht mehr auf die Ehe stützen, sondern auf die Genetik.
So werden Menschen, die Kinder gebären möchten, seit 2013 quasi automatisch mit der Person „zwangsverheiratet“, mit deren Sperma die Schwangerschaft entstanden ist. Denn seither gilt das automatische Sorgerecht für unverheiratete Väter auch gegen den Willen der Mutter. Zwei Erwachsene können aber nicht gemeinsam Eltern eines Kindes sein, ohne auch untereinander in einer Beziehung zu stehen. Das heißt: Eine Frau, die durch Sex mit einem Mann schwanger wird, ist, wenn sie Mutter sein will, faktisch gezwungen, diesen Mann die nächsten Jahrzehnte als Co-Elternteil in ihrem Leben zu akzeptieren – oder sie muss abtreiben.
Zur reproduktiven Selbstbestimmung gehört das Recht, Co-Elternschaft nur auf freiwilliger Basis zu initiieren – das wäre eine anarchistische Forderung, mit der man heute viele grundsätzliche Debatten über Freiheit und was sie bedeutet, anstoßen könnte. Ein anderes relevantes Politikfeld in dem Zusammenhang sind die rasant sich entwickelnden Reproduktionstechnologien. Die In-Vitro-Fertilisa-tion hat es möglich gemacht, Embryonen ohne heterosexuellen Geschlechtsverkehr zu zeugen. Das eröffnet einerseits viele Möglichkeiten für neue, queere Familienformen. Andererseits hat es auch ein riesiges kommerzielles Ausbeutungspotenzial geschaffen, wenn etwa arme Frauen den Lebensunterhalt für sich und ihre Familien durch Eizellenverkauf oder Leihmutterschaft sichern.
Eine anarchistische, herrschaftskritische Position könnte hier differenzierter argumentieren als mit einem schlichten „Pro“ und „Contra“. Wenn Herrschaftsfreiheit auch für Schwangere der zentrale Faktor ist, ist das Kriterium zur Beurteilung solcher Entwicklungen klar: Sie sind nur akzeptabel, wenn schwangere und potenziell schwangere Menschen dabei nicht Gefahr laufen, zum Objekt der Wünsche anderer zu werden. Wenn diese Bedingungen aber garantiert werden – dann sind Reproduktionstechnologien eben auch akzeptabel und könnten dabei helfen, freiere und vielfältigere Familienformen zu etablieren.
Antje Schrupp hat zuletzt das Buch Schwangerwerdenkönnen. Essay über Körper, Geschlecht und Politik im Ulrike Helmer Verlag veröffentlicht.