Bei einer Recherche zur internationalen Arbeiter*innenbewegung traf ich auf eine Zeitschrift namens „Workers Solidarity“. Davon gibt es wahrscheinlich einige. Auf dem unteren Rand dieser speziellen, in Schwarz-Weiß mit Zweifarbdruck erscheinenden Zeitschrift steht „Irish Anarchist Magazine“. Die Ausgabe Nr. 28 vom Sommer 1988 verkündet als Schwerpunktthema „Anarchism – as we see it“. Das hätte mich interessiert.
Leider habe ich nicht mehr als das Cover – und die einiger anderen Ausgaben dieser Zeitschrift – finden können. Arbeitersolidarität, da ist der Name noch Programm. Die Geschichte anarchistischer Medien weist viele solcher Titel auf. Gerade in den Anfangszeiten der libertären Presse am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts – wobei das auch noch für die Graswurzelrevolution gilt – sind die Zeitschriften oft nach dem benannt, was sie erreichen wollten: Freiheit, Befreiung, Einheit, Einigkeit oder eben Solidarität (1) Online findet sich heute noch etwa die 1907 gegründete Zeitschrift „Solidaridad Obrera“, die früher von der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft CNT (Nationale Konföderation der Arbeit) auf Spanisch publiziert wurde. Heute erscheint sie auf Katalanisch, herausgegeben von der Confederació Regional del Treball de Catalunya i Balears (Regionale Konföderation der Arbeit von Katalonien und den Balearen). Namen wie Arbeitersolidarität verweisen auf eine Funktion von Zeitschriften, die vielleicht in Zeiten ihres Ab- und Aussterbens etwas aus dem Blick gerät: Zeitschriften sind nicht nur Medien zur Übermittlung von Sichtweisen („as we see it“). Sie sind auch Organisationsmittel. Die Solidarität unter den Arbeiterinnen und Arbeitern soll nicht nur zum Ausdruck gebracht, sondern auch hergestellt werden. Diese schaffende, gestaltende Funktion kommt Zeitschriften selbstverständlich auch zu, wenn sie sie nicht im Titel vor sich her tragen. Auch wenn in repräsentativen Umfragen andere Motive für das Zeitunglesen im Vordergrund stehen: inhaltliche Anregungen, Tipps für den Alltag, Entspannung (2) – Zeitschriften stecken inhaltliche Felder ab, mit denen Menschen sich politisch identifizieren. Sie stellen diese Identifikationsmöglichkeiten damit auch auf relative Dauer. Sie sorgen dafür, dass eine Orientierung, eine Richtschnur, eine Strömung nicht jeden Tag neu erfunden werden muss. Zeitschriften stiften Kontinuität, gerade in der Linken und gerade in Zeiten, zu deren wesentlichen Charakteristika die „Beschleunigung“ (Hartmut Rosa) gehört.
Diese Beständigkeit schaffen sie gleichzeitig durch zwei Strategien: Anarchistische Zeitschriften berichten über „anarchistische“ Themen (vom Arbeitskampf über Geschlechterverhältnisse und Herrschaftskritik bis zum Zeltlager beim politischen Sommercamp). Und sie berichten über andere Themen anarchistisch, beleuchten also Filme oder Regierungsmaßnahmen, Bücher und soziale Bewegungen etc. aus libertärer Perspektive. (Wobei was hier für „anarchistische“ Medien gesagt ist, auch für „feministische“ oder allgemein „linke“ gilt, auch sie fahren diese Doppelstrategie.) Als im Mai 1936 die erste Ausgabe der Zeitschrift „Mujeres Libres“ erschien, das Organ der gleichnamigen, heute als anarchafeministisch bezeichneten Organisation, wurde die Zielsetzung der Zeitschrift ganz in diesem Sinne formuliert: „Dem gesellschaftlichen Handeln der Frau eine Orientierung geben“, hieß es im Editorial, „indem wir ihr einen neuen Blickwinkel auf die Dinge zeigen.“ (3)
Dass Menschen sich an ein Zeitschriftenprojekt andocken, also eine Zeitschrift regelmäßig lesen, eventuell abonnieren und ihre Inhalte hin und wieder am Küchentisch oder in der Straßenbahn diskutieren, trägt nicht nur diese Inhalte weiter. Es führt auch zu affektiven Bindungen und vertieft sie. Schon Peter Kropotkin schrieb in seinem anarchistischen Klassiker „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“ (1902) fasziniert von der Hingabe, mit der die revolutionären Arbeiter*innen (wobei Kropotkin immer nur Männer adressiert) sich dem Verkauf von Zeitschriften widmen: „Jeder verkaufte Stoß Zeitungen, jede Versammlung, jede hundert Stimmen, die bei einer sozialistischen Wahl gewonnen werden, stellen eine Menge an Energie und Opfer da, von denen kein Außenstehender die geringste Vorstellung hat.“ (4) Was wohl nahezu jede/r Aktivist*in wird bestätigen können: Der Verkauf von Zeitschriften kostet zwar Energie, gibt aber auch neue. Und für den undogmatischen Anarchokommunisten Kropot-kin war das alles, selbst die Wahlwerbung für sozialistische Parteien, Ausdruck einer solidarischen Haltung der gegenseitigen Hilfe.
Als Angehöriger jener papierverliebten Generation von Linken, die noch WG-Regale mit Pappordnern voller Zeitschriften zugestellt und Artikel aus Tages-, Wochen- und Monatszeitungen ausgeschnitten und irgendwo eingeklebt hat, muss man sich natürlich fragen: Stimmt das alles noch? Ändert die Digitalisierung nicht alles, auch die Rolle und Funktion von Zeitschriften? Da deuten Medien- und Kommunikationsforschung an: Nein. Die Menschen in den westlichen Gegenwartsgesellschaften lesen vielleicht weniger auf Papier, dafür aber mehr im Netz. Auch wenn traditionelle Bindungen an Institutionen wie Kirchen, Parteien und Vereine sich abschwächen und grundsätzlich weniger Bedeutung im Alltag vieler Menschen haben, bleiben Zeitschriften doch wichtige Knotenpunkte: In ihnen verknüpfen sich Menschen mit Ideen und Bewegungen, in ihnen verbinden sich Gedanken und Gefühle.
Und sie sind natürlich auch Hoffnungsspenderinnen in finsteren Zeiten. Als kurz nach Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs im Juli 1936 die letzte Ausgabe des anarchistischen Journals „La Revista Blanca“ (Die weiße Zeitschrift) erschien, hieß es angesichts der antifaschistischen Aufgaben im Kampf gegen die rechten Generäle im Editorial: „Mut, Glaube, Enthusiasmus für den Kampf! Vertrauen in uns selbst und in das Morgen, das uns gehört, Spanische Anarchisten!“ (5) Auch wenn wir wissen, dass das damalige Morgen alles andere als anarchistisch wurde und auch wenn wir grundsätzlich nicht davon ausgehen können und sollten, dass es einen historischen Fortschritt gibt, auf dessen Seite wir wie selbstverständlich ins emanzipatorische Utopia gleiten: Mut, Glaube, Enthusiasmus und publizistische Projekte, die sie gleichsam widerspiegeln und fördern, kann es nicht genug geben.
(1) Für den deutschsprachigen Raum vgl. Bernd Drücke: „Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht. Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland.“ Ulm: Verlag Klemm & Oelschläger 1998, hier S. 78ff.
(2) Vgl. Jan Hauser: „Zeitschriftenverleger setzen auf digitale Bezahlkultur“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. November 2014, https://blogs.faz.net/medienwirtschaft/2014/11/06/zeitschriftenverleger-setzen-auf-digitale-bezahlkultur-560/
(3) Zit. n. Antonia Fontanillas: „Die Zeitschrift Mujeres Libres und ihre Mitarbeiterinnen.“ In: Vera Bianchi (Hg.): „Mujeres Libres. Libertäre Kämpferinnen.“ Lich: Edition AV 2019, S. 110-116, hier S. 111.
(4) Peter Kropotkin: „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt [1902].“ Frankfurt am Main/ Berlin/ Wien: Ullstein Verlag 1976, S. 247.
(5) Zitiert aus der Ausgabe vom 15. August 1936, Übers. O.L. „La Revista Blanca. Sociología, Ciencia y Arte“ erschien 1898-1905 in Madrid und 1923-1936 in Barcelona. Alle Ausgaben von „La Revista Blanca“ finden sich eingescannt als pdf auf der Seite der Spanischen Nationalbibliothek, http://hemerotecadigital.bne.es/results.vm?q=parent
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.