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D.I.Y. or DIE

 Gegenseitige Hilfe als Überlebenskunst in Polen

| Monika Kupczyk

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Food Not Bombs: Aktion in Lodz, April 2020 Foto: Anarchistische Föderation Lodz (FederacjanAnarchistyczna Lodz)

Wie die Situation in den ersten Tagen der Pandemie in Polen aussah, berichtete ein Mitarbeiter des polnischen Gesundheitssystems in der vorherigen Ausgabe der Graswurzelrevolution (GWR 448). Seitdem ist es nicht besser geworden.

Foto: Anarchistische Föderation Lodz (FederacjanAnarchistyczna Lodz)

Es fehlt an Schutzausrüstung, Desinfektionsmitteln, Test-Kits für Corona. Es gibt nicht genügend Betten, Personal, Spezialisten, Krankenhäuser, Abteilungen für Infektionsfälle und Labore. Die Nachfrage nach diesen notwendigen Ressourcen überraschte die polnische Regierung, obwohl zumindest ab Januar klar war, dass das Coronavirus um sich greifen würde. Die Bedrohung wurde unterschätzt. Für das seit Jahren vernachlässigte Gesundheitssystem gilt: „Irgendwie wird es schon gehen“.

Der Staat aus Pappe

Die polnische Regierung (die national-konservative Partei PiS) hat offensichtlich wichtigere Aufgaben zu erledigen als die Eindämmung der Pandemie. Am 10. Mai soll wie geplant die Präsidentenwahl durchgeführt werden, koste es was es wolle. Um eine „Infizierung“ zu vermeiden soll per Brief abgestimmt werden. Dabei ist fraglich, wie legitim dieses Verfahren ist und ob bei der Umsetzung dem Datenschutz Rechnung getragen wird bzw. werden kann. Aber was tut man nicht, um an der Macht zu bleiben?! Die gesellschaftliche Unzufriedenheit wächst und die Stimmung im Wahlvolk könnte sich bei einer späteren Wahl gegen den seit 2015 amtierenden PiS-Präsidenten Andrzej Duda wenden. Zumal die Regierung das Gesetz „Antikrisen-Schutzschild“ ausgearbeitet hat. Anstatt konkrete finanzielle Hilfe zu geben, wird dies alle Arbeiter*innen hart treffen: Sie werden jetzt länger, härter und für viel weniger Geld arbeiten müssen. So wurde das Gesetz „Arbeiterfeindliches Schutzschild“ getauft. Für die Anarchist*innen ist klar: „Die Regierenden wollen aus diesem Land ein Arbeitslager machen. Ziel ist es, die Macht aufrechtzuerhalten.“ Die Polizei soll 5 neue Wasserwerfer und 124 neue Mannschaftswagen erhalten. Während die Regierenden sich auf potentielle Aufstände vorbereiten, bleibt die Bevölkerung sich selbst überlassen. Die Menschen reden von einem Staat aus Pappe und besinnen sich auf gegenseitige Hilfe und Solidarität. Anarchist*innen spielen bei der selbstorganisierten Hilfe eine wichtige Rolle. Wo der Staat nicht hin will, gehen Anarchist*innen freiwillig…

Foto: Anarchistische Föderation Lodz (FederacjanAnarchistyczna Lodz)
Sichtbare Hand („Widzialna ręka“)

Als eine der ersten Solidaritätsinitiativen wurde die von Anarchist*innen initiierte „Sichtbare Hand“, eine Selbsthilfe-Facebook-Gruppe, gegründet. Auf Facebook kann man der Initiative beitreten und sich an konkret nachgefragter Arbeit beteiligen oder selbst um Hilfe bitten. In der landesweiten Hauptgruppe gibt es über 111.000 Mitglieder. Mittlerweile wurden weitere Facebook-Gruppen von „Sichtbare Hand“ für unterschiedliche Städte gegründet. Z.B. haben sich innerhalb des ersten Monats über 34.000 Menschen in der lokalen Gruppe für Breslau registriert. Es begann mit dem Einkauf für Menschen in Quarantäne, dann kamen weitere Hilfsangebote wie Gassigehen, Unterstützung von älteren Menschen, aber auch Online-Beratung z.B. zu Handwerkstätigkeiten dazu. Gleichzeitig wird auch das Pflegepersonal von Krankenhäusern und sozialen Einrichtungen mit selbstgemachten Masken und Schutzausrüstung unterstützt. Alles wird durch die in den Facebook-Gruppen Engagierten, deren Netzwerke und die entstehenden grass-roots-Initiativen organisiert und finanziert. Anarchist*innen haben den Impuls gegeben und zeigten den Weg. Die „Sichtbare Hand“ ist auch Thema in den Mainstream-Medien. Die außergewöhnliche Bedeutung der Arbeit dieser Gruppen zeigte sich, als selbst der öffentlich-rechtliche Sender TVP – ein Sprachrohr der regierenden PiS-Partei – über sie berichtete!

Wir nehmen die Dinge selbst in die Hand“

Unter diesem Slogan haben Anarchist*innen aus Posen um den Squat Rozbrat eine Kampagne gestartet, um Schutzmasken und Desinfektionsmittel zu produzieren. Im Einklang mit der anarchistischen Tradition der Selbsthilfe und der sozialen Solidarität initiierten sie eine Spendensammlung, richteten eine Werkstatt zum Nähen von Masken und zur Herstellung von Desinfektionsmitteln ein. Diese liefern sie an Krankenhäuser und soziale Einrichtungen, wo Kranke und sozial marginalisierte Gruppen wie Obdachlose, Bewohner*innen von Altersheimen oder der Roma-Community mit Schutzmasken versorgt werden. Aufgrund der COVID-19-Pandemie ist das bestehende Gesundheits- und Hilfesystem überlastet. „Wir können nicht passiv zusehen, wie das System versagt, der freie Markt Spekulanten erzeugt und die Regierung chaotisch handelt. Staat und Kapitalismus scheitern während der Pandemie. ,Nehmen wir die Sache selbst in die Hand‘ und schließen wir das Loch, das im Laufe der Jahre durch das Pfeifen auf das Gesundheitssystem und auf die Versorgung von ausgegrenzten Menschen entstanden ist“, so die Aktivist*innen aus Posen. In den ersten drei Wochen der Aktion wurden 7.000 Masken hergestellt und übergeben. Sie haben es geschafft, Dutzende von Freiwilligen zu vernetzen, die in ihrer Freizeit kostenlos zu Hause nähen. Dank Spenden konnten sie Materialien und Nähmaschinen, aber auch die Organisation des Transports oder des Versands übernehmen.

Foto: Anarchistische Föderation Lodz (FederacjanAnarchistyczna Lodz)
Food Not Bombs

Für manche Krankenhäuser und soziale Einrichtungen, wie Frauenhäuser, Altenheime und Obdachlosenunterkünfte oder Sozialhilfezentren werden auch Mahlzeiten organisiert und geliefert. Wo der Staat versagt, haben Anarchist*innen ihre Ärmel hochgekrempelt. So z.B. in Lodz, wo die Aktivist*innen aus der Anarchistischen Föderation Lodz (AFL) täglich von Institutionen und Einzelpersonen Anfragen nach Mahlzeiten bekommen – wie mir ein Genosse der AFL berichtete. In Absprache mit der örtlichen Gesundheitsbehörde wird auch eine „Food Not Bombs“-Aktion durchgeführt, bei der regelmäßig Mahlzeiten für Obdachlose und Bedürftige zubereitet und öffentlich verteilt werden. Diese Aktion wird seit 20 Jahren von Anarchist*innen in Lodz durchgeführt. Auch in anderen Städten hat diese Form der Hilfe eine lange Tradition. Ich habe selbst mehrmals daran teilgenommen. Nun in Zeiten von Corona werden nicht nur warme Mahlzeiten verteilt, sondern zusätzlich Pakete mit Brot, Marmelade, Seife, Schutzmasken u.a. Mittlerweile werden bis zu 150 Mahlzeiten und Pakete bei jeder Aktion verteilt. Alles wird von den Aktivist*innen selbst oder aus Spenden finanziert. Sie sind teils den ganzen Tag unterwegs und erst um 22 Uhr wieder zu Hause bei ihren Familien und Partner*innen. Sie sind auch weiterhin beruflich aktiv.

Dazu kommt die Produktion der Schutzmasken. Rozbrat hatte den Anfang gemacht; drei Tage darauf zogen die Aktivist*innen in Lodz nach. Dort haben sie ein Netzwerk aus ca. 25 Personen aufgebaut, die unterschiedliche Aufgaben erledigen. Dabei ist die Logistik am wichtigsten: manche nähen die Masken zu Hause, andere beschaffen oder verteilen die Materialien und liefern aus. Es wurden mittlerweile ca. 13.000 Masken verteilt. Die Bitten um Hilfe kamen zuerst von Seiten des Pflegepersonals. „Sie können kaum glauben, dass sie solche Hilfe für ein Lächeln bekommen“, meint ein AFL-Mitglied. Deshalb bedanken sie sich mit Fotos und Selfies aus den Krankenhäusern für die geleistete Hilfe. Auch die staatlichen lokalen Gesundheitsbehörden wurden mit den Schutzmasken beliefert, was zeigt, wie ernst die Situation in Polen ist und wie wichtig die Arbeit der Anarchist*innen. „Man könnte mehr machen, aber die Zeit fehlt…“ – so der AFL-Genosse. Es fehlt auch Material, die Baumwoll-Stoffe sind fast alle. Mittlerweile sind die Stoff-Preise gestiegen und deshalb brauchen sie finanzielle Unterstützung. Es fehlt nicht an Freiwilligen, die sich bei der AFL melden, aber um das Ansteckungsrisiko möglichst gering zu halten, werden sie nur nach und nach eingebunden. Um die Aktion durch Ansteckung nicht zu gefährden, wird darauf geachtet, dass räumlich getrennt und in immer gleichen Kleingruppen gearbeitet wird. Denn wenn die Anarchist*innen selber krank werden, wer wird die bisherige Hilfe leisten?

Der Slogan D.I.Y. or DIE war nie so wahr wie heute.

Link zur Spendenaktion der Aktivist*innen aus Posen:

https://pomagam.pl/produkcjamaseczek – dort findet ihr auch ein Video von der Produktion der Schutzmasken.

Link zur Spendenaktion in Lodz: https://zrzutka.pl/g5hjau

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.