„Naturkatastrophen“, hat Hans-Ulrich Schmicke, Deutschlands führender Vulkanologe, einmal geschrieben, „sind Menschenkatastrophen“. Wenn ein natürliches Ereignis in einer menschlichen Gesellschaft katastrophale Folgen habe, dann deswegen, weil diese Gesellschaft nicht ausreichend auf die entsprechende Bedrohung eingestellt und vorbereitet sei. Die weltweite Covid-19-Pandemie beweist die Richtigkeit dieser These auf dramatische Weise.
Es geht dabei weniger um den in den reichen Ländern des Nordens und Westens allenthalben zu beobachtenden Umstand, dass viele Menschen, sekundiert von diskussionsbedürftigen wissenschaftlichen Theorien, sich natürlichen Prozessen ohnehin enthoben fühlen: Man wähnt sich sicher in einem schützenden Kokon aus Technik, Wohlstand und virtueller Wirklichkeit, kennt „Natur“ im Grunde nur noch aus dem Fernsehen oder von einem Spaziergang im Park, und nimmt katastrophale Bedrohungen wie das globale Artensterben bedauernd zur Kenntnis. Wer angesichts der Corona-Pandemie allerdings ein unverbindliches Lamento über die Wandlung des homo sapiens zum homo suicidalis anstimmen wollte, würde weit deutlichere und drängendere Verantwortlichkeiten verschleiern. Denn wenn Covid-19 (ein im Vergleich zu anderen pandemischen Viren, bei aller Gefährlichkeit, noch immer relativ harmloser Erreger) in einigen Ländern insbesondere während der ersten Wochen der Pandemie fürchterlich wüten konnte, so liegt das vor allem an einem: der sukzessiven Zerstörung des öffentlichen Gesundheitssektors durch die neoliberale Politik.
Die Situation in Deutschland: Kein Vorbild
Wenn es im Folgenden (aus beruflichen und privaten Gründen) vor allem um Spanien gehen wird, um die Folgen der vorsätzlichen Zerstörung des öffentlichen Gesundheitssektors durch die neoliberale Politik zu illustrieren, so möge dies bitte niemanden dazu verleiten, Deutschland in dieser Hinsicht für ein Märchenland zu halten. Dass die Sterbezahlen in Deutschland – Stand: April 2020 – (noch) relativ gering sind, liegt an einer insgesamt nach wie vor besseren Gesundheitsversorgung, als sie Menschen in Spanien, Italien, den USA, oder gar im globalen Süden haben, und nicht daran, dass Deutschland das dreckige Spiel der Zerschlagung und Privatisierung des Gesundheitssystems nicht mitgespielt hätte. Das Gegenteil ist der Fall. Deutschland hat eine der weitreichendsten Privatisierungswellen von Krankenhäusern in Europa erlebt: Zwischen 1995 und 2010 verdoppelte sich der Anteil privater Krankenhäuser, während die Zahl der Krankenhäuser insgesamt um 11% abnahm. Die Zahl der Behandlungen in teuren Privatkliniken stieg von 5,2% im Jahr 1995 auf 9,1% 2004. 2010 lag sie schon bei 16,1%. 2020 besitzt Deutschland 560 öffentliche Kliniken, 662 in der Verwaltung kirchlicher Träger, und sage und schreibe 720 Privatkliniken. Es ist fast schon in Vergessenheit geraten, dass Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) noch kurz vor dem Ausbruch der Pandemie in Deutschland die Bettenkapazität öffentlicher Krankenhäuser um 50.000 reduzieren wollte. Nur ein glücklicher Zufall verhinderte, dass diese Maßnahme durchgeführt wurde, bevor Corona kam. Der Politologe Christoph Butterwegge, Deutschlands wichtigster Armutsforscher, beschrieb Spahn 2018 in einem Interview mit den Nachdenkseiten so: „Spahn ist der Prototyp eines karrierebeflissenen Jungpolitikers mit neoliberal-konservativer Grundausrichtung, der die harte Lebensrealität von Millionen Menschen in unserem Land einfach nicht zur Kenntnis nimmt“. Diese „harte Lebensrealität“ betrifft nicht zuletzt die Beschäftigten im Gesundheitssektor. 2015 waren 26% aller Jobs in Deutschland prekär, viele davon im Pflegebereich. Aber selbst Krankenschwestern oder Pfleger mit festen Anstellungen, sogar in hochspezialisierten Bereichen wie etwa onkologischen Tageskliniken oder der Intensivstation, können zum Teil von ihrem Gehalt nicht (mehr) leben. Die Forderung der Bürgerplattform Campact nach einem (inzwischen bewilligten) „Corona-Zuschuss“ für Gesundheitsarbeiterinnen- und Arbeiter greift demnach viel zu kurz: Es geht nicht um ein temporäres Aufstocken der Gehälter während der Pandemie. Es geht um menschenwürdige Arbeitsbedingungen im Gesundheitssektor. Denn während im Pflegebereich die Gehälter sanken oder stagnierten, obwohl die Lebenshaltungskosten stiegen (man denke nur an den Mietspiegel in deutschen Großstädten), nahm – auch ohne Corona – die Arbeitslast stark zu, und dies ebenso für Krankenhausärzt*innen wie für Pflegepersonal. Die Pandemie verschärfte diesen Zustand nur dramatisch: Im April 2020 verordnete beispielsweise die Düsseldorfer Landesregierung den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ihrer Kliniken Arbeitszeiten von 12,5 Stunden täglich (!), mit einer 45-minütigen Pause. Das macht eine 60-Stunden-Woche, und dies bei stark erhöhter Belastung. Medizinische Personalräte und die Gewerkschaft ver.di setzten sich gegen diese Maßnahme zur Wehr. Es ist generell denkbar unattraktiv geworden, in Deutschland „in der Pflege zu arbeiten“, und entsprechend groß sind die Nachwuchssorgen. Man behilft sich mit noch schlechter bezahlten Arbeitskräften aus Osteuropa, was (vor allem in Spanien) zu großen Problemen führte. Durch Kürzungen im Budget staatliche Gesundheitseinrichtungen zunehmend ineffizient zu machen, um dann die Privatisierung als letzten Ausweg zu präsentieren, gehört zum Standardrepertoire neoliberaler Politik. Wie in einer exponentiellen Kurve treibt dabei jede Privatisierung im Gesundheitssektor weitere Privatisierungen voran: Denn neoliberale Eliten müssen sich darauf verlassen können, auch in Zukunft private Kindergärten, Schulen und Universitäten für ihren Nachwuchs zu haben, private Krankenversicherungen und Kliniken für den Ernstfall, und eine private Rentenversicherung fürs Alter. Sonst könnten sie es sich schwerlich leisten, den öffentlichen Sektor zu zerschlagen und zu Geld zu machen. Das Recht auf Gesundheit ist auch in Deutschland zum Recht der stärkeren Brieftasche geworden. Während der Corona-Pandemie rächt sich diese Politik nun bitterlich: Wim de Ceukelaire und Chiara Bodini vom Peoples Health Movement haben beispielsweise überzeugend hervorgehoben, dass das große Gewicht, das man in Deutschland (und Europa) auf private Kontaktbeschränkungen lege, nur dem Umstand geschuldet sei, dass die nationalen Gesundheitssysteme angesichts starker Schwächung und weitgreifender Privatisierung nicht länger in der Lage seien, andere zentral koordinierte Maßnahmen zu ergreifen.
Die Situation in Spanien: Eine Katastrophe
War die Situation in Deutschland schon besorgniserregend, so war sie in Spanien bei Ausbruch der Pandemie katastrophal. In keinem anderen europäischen Land, von Italien abgesehen, starben in den ersten Wochen derart schnell so viele Menschen. Allein für den 1. April 2020 meldeten die Behörden 864 Tote in 24 Stunden. Das Robert-Koch-Institut erklärte Madrid zur „gefährlichsten Stadt der Welt“. Am 2. April berichtete die Süddeutsche Zeitung (SZ) in einem ganzseitigen Artikel von wahrhaft grausigen Zuständen: „Es gab Berichte über Schutzkleidung aus Müllsäcken, mit Patienten, die auf dem Boden lagen“. Ein Fünftel aller Ärzt*innen und des Pflegepersonals infizierte sich in den ersten Tagen mit Covid-19, weil keine ausreichende Schutzkleidung zur Verfügung stand. Mittlerweile hat sich die Situation zwar etwas verbessert (Seat zum Beispiel hat seine Produktion auf Atemgeräte umgestellt). Überlebende von schweren Krankheitsverläufen aber gab es nur – darüber herrscht Einigkeit – dank des unerschütterlichen Einsatzes der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Gesundheitssektors, die sich (sehr spanisch) nicht so einfach den Schneid abkaufen ließen. Wer allerdings, ohne weitere Differenzierung (wie in der Presse meist üblich) behauptet, all diese Menschen in Spanien seien „an Corona“ gestorben, gerät rasch in Erklärungsnot: Wirkt das Virus auf der Iberischen Halbinsel denn anders als in Deutschland?
Nach der Finanzkrise 2008/2009, die das Land hart traf, nutzte die regierende rechtskonservative Partei Partido Popular (‚Volkspartei‘) die Gelegenheit, im Windschatten der Sparmaßnahmen eine Agenda durchzusetzen, die schon Jahre zuvor bestanden hatte: Die Zerschlagung und Privatisierung der bis dahin allgemeinen Gesundheitsversorgung in Spanien. Die Folgen sind heute gravierend: Zwischen 2009 und 2015 sanken in Spanien die Gesundheitsausgaben um 18,1%. 2012 brachte Partido Popular eine Gesetzesnovelle durchs Parlament, die landesweit die Möglichkeit kollektiver Entlassungen im öffentlichen Dienst erleichterte. Als Folge wurden zwischen 2012 und 2015 insgesamt 53.000 Beschäftigte im Gesundheitssektor entlassen. Das bis dahin freie, universelle Nutzungsrecht der medizinischen Einrichtungen Spaniens wurde eingeschränkt auf ein Nutzungsrecht, das sich am Arbeitsplatz der Hilfesuchenden orientierte. Dies schloss große Bevölkerungsgruppen von wesentlichen Diensten aus (beispielsweise 900.000 illegalisierte Migrantinnen und Migranten, die bis heute in Spanien nur Not- und Geburtshilfe erhalten). Die Qualität der Leistungen sank, die Kosten dagegen stiegen.
Eine neu eingeführte Zuzahlungspflicht ließ den Medikamentenverbrauch um 10% sinken, da viele sich die teuren Mittel nicht mehr oder kaum noch leisten konnten. Gesundheitszentren wurden geschlossen, Öffnungszeiten verkürzt. Lange Wartefristen für wichtige medizinische Eingriffe wurden zur Regel. 2013 beispielsweise standen in Spanien 89.000 Menschen auf einer Warteliste für chirurgische Eingriffe. Zugleich trieben konservative wie sozialdemokratische Regierungen die Privatisierung der Gesundheitsfürsorge mit Macht voran.
Als die Partido Popular-Regierung 2012 im Handstreich sechs (bis dahin bereits teilprivatisierte) Kliniken der Hauptstadt, dazu 27 Gesundheitszentren und sämtliche nicht-medizinischen Dienstleistungen privatisieren wollte, wurde es den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Gesundheitssektors zu bunt: Im berühmten und renommierten Madrilener Krankenhaus La Princesa (‚Die Prinzessin‘) versammelten sie sich zu einem Protestgipfel und besetzen das Gebäude. Innerhalb von zwei Wochen wurden fast sämtliche anderen Kliniken und Gesundheitszentren vom Personal besetzt. Es war die Geburtsstunde der marea blanca (‚Weiße Welle‘), des kollektiven Massenprotests im Gesundheitssektor. Auch Patientinnen und Patienten beteiligten sich (so gut es ging) am Widerstand, der allerdings durch die hierarchische Strukturierung innerhalb des Krankenhausbetriebs und die hohe Arbeitslast stark behindert wurde. Die Leitungen sämtlicher von Privatisierung bedrohter Einrichtungen kündigten an, kollektiv zu kündigen, sollte die Maßnahme durchgeführt wer-den. Zwar konnte der Handstreich der Regierung verhindert werden. Es war aber nur ein Pyrrhus-Sieg: 2014 waren bereits 236 von 550 Notfallkliniken privat. Die Korruption bei der Vergabe privater Konzessionen im Gesundheitssektor ist in Spanien geradezu sprichwörtlich und Gegenstand vieler böser Witze, die man auf der Straße und in den Bars hören kann. Steuervergünstigungen machten es in den letzten Jahren für private Firmen in Spanien sogar attraktiv, in Altenheime zu investieren, mit beachtlichen Gewinnen, aber auch einer dramatischen Verschlechterung der Leistungen für die Bewohnerinnen und Bewohner. Als die Pandemie ausbrach, brach das morsche Gebäude vollends zusammen: Schlecht bezahlte Pflegerinnen und Pfleger aus Osteuropa sahen nicht ein, in Spanien ihr Leben für ein paar Euro riskieren zu sollen und machten sich aus dem Staub. Durch sogenannte Rabattverträge mit günstigen Anbietern vor allem in Fernost fehlten auf einmal (wie in Deutschland) lebenswichtige Medikamente, als China die Produktion drosselte. Die Vorbereitung der Kliniken und Gesundheitszentren auf die Pandemie war mangelhaft, die Ausstattung lächerlich, der Personalschlüssel viel zu niedrig. Man starb im März und April 2020 in Spanien nicht einfach „an Corona“: Man starb an den Folgen einer verantwortungslosen Politik.
Nichtsdestotrotz befährt die Regierung von Ministerpräsident Pedro Sánchez (PSOE) auch heute noch das alte, neoliberale Gleis: Atemschutzmasken und Schutzkleidung, für die nun doch plötzlich wie von Zauberhand wieder Geld zur Verfügung steht, bezieht sie beispielsweise – man mag es kaum glauben – weiterhin aus China, weil sie dort billiger sind. Eine Wahl lässt die Europäische Union der Regierung freilich kaum: Euro-Bonds soll Spanien nur dann bekommen, wenn es nachweisen kann, in den vergangenen Jahren „genug gespart zu haben“. Man fragt sich mit Grausen: Wo denn noch?
Erste Schlüsse: Eine neue Gesundheitspolitik
Noch jede heilige Kuh der neoliberalen Ideologie schleppt sich in Zeiten der Covid-19-Pandemie mit letzten Kräften zum Abdecker. Diejenigen, die Verantwortung dafür tragen, dass ein System, das vielen nutzte, zu einem System umgestaltet wurde, aus dem wenige Profit schlagen, sind im ganz eigentlichen Wortsinn verantwortlich für tausende von Toten. Es muss in der Gesundheitspolitik zu einem radikalen Kurswechsel kommen. Jede Gesellschaft – auch eine kapitalistische – braucht, um leben zu können, Bereiche, die der kapitalistischen Profitlogik strikt enthoben bleiben. Das Gesundheitssystem ist einer davon. Covid-19 hat gezeigt, dass allgemeine, einheitliche, gut mit Personal und Materialien ausgestattete und zentral verwaltete Gesundheitssysteme, denen die Menschen Vertrauen schenken, viel besser in der Lage sind, Pandemien abzuwehren, als ein löchriger Flickenteppich aus öffentlichen und privaten Einrichtungen, an denen aus Profitgier auch noch herumgespart wird. Die fortschreitende Zerstörung der natürlichen Welt, die nur mehr Generalisten unter den Arten bestehen lässt, die entsprechend immer bedrohlichere Generalisten-Viren mit sich führen, die Folgen des Klimawandels, die Zunahme der menschlichen Bevölkerung und (zumindest in den reichen Ländern) eine Agrar- und Fleischindustrie, die durch hemmungslose Gabe medizinischer Wirkstoffe die Resistenz von Millionen gegen Medikamente in Kauf nimmt, werden dafür sorgen, dass Covid-19 nicht die letzte Pandemie bleibt. Andere, womöglich weit schlimmere, werden folgen. Es ist hoch an der Zeit, sich vorzubereiten. Der erste Schritt muss das endgültige Ende der neoliberalen Profitlogik (mindestens) im Gesundheitssektor sein. Sie hat ihre mörderischen Folgen vor aller Augen bewiesen. Covid-19 ist eine gute Gelegenheit, sie auf den Müllhaufen der Geschichte zu befördern.
M. Baxmeyer
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.