transnationales / antimilitarismus

Nationalismus & Militarismus als Gewinner

Wie sich Milosevic und NATO im Kosovo/a-Konflikt zum beiderseitigen Nutzen die Bälle zuspiel(t)en

| Andreas Speck

"Milosevic wendet NATO-Schlag ab", so titelte die Frankfurter Rundschau am 14. Oktober. Eher unbewußt kommt darin die Komplizenschaft zwischen der NATO auf der einen Seite und dem serbischen Präsidenten Milosevic auf der anderen Seite zum Audruck, während die Kosovo/a-AlbanerInnen außen vor bleiben. Diese Komplizenschaft und die Mißachtung der Kosovo/a-AlbanerInnen reichen weit zurück. (Red.)

Dabei geht es nicht darum, Verschwörungstheorien zu konstruieren, die etwa eine serbisch-amerikanische Verschwörung gegen den Kosovo/a konstatieren würden. Dem ist mit Sicherheit nicht so, und Milosevic bzw. Jugoslawien auf der einen Seite und die USA oder NATO auf der anderen Seite sind durchaus sehr unerbittliche politische Gegner. Doch führt das beiderseitige Machtkalkül des öfteren zu gemeinsamen oder ähnlichen Interessen, deren Opfer derzeit die Kosovo/a-AlbanerInnen sind.

Diese Entwicklung zeichnete sich schon lange ab, und spätestens der Dayton-Vertrag vom Dezember 1995, mit dem der Krieg in Bosnien in einen waffenstarrenden Frieden zum Wohle der NationalistInnen aller Seiten transformiert wurde (vgl. GWR 204) markiert dabei einen entscheidenden Tiefpunkt. Milosevic wurde von den USA (und der Balkan-Kontaktgruppe) als ein Garant des „Friedens“ im Dayton-Vertrag benötigt. Nachdem auf massiven Druck der USA hin in Bosnien die moslemisch-kroatische Föderation geschaffen und militärisch aufgerüstet worden war, wurden die Verhandlungen in Dayton begonnen und relativ schnell erfolgreich abgeschlossen (1). Milosevic war klar geworden, daß eine offene Unterstützung der Republik Srpska in Bosnien-Herzegowina ihm letztendlich mehr schaden als nutzen würde, und somit übte er aus eigenem Machtinteresse entsprechenden Druck auf die Führung der bosnischen SerbInnen aus.

Lunte am Pulverfaß: Dayton

Das Thema Kosovo/a wurde daher ausdrücklich nicht im Dayton-Vertrag behandelt, obwohl die Lage schon damals explosiv war und zahlreiche unabhängige BeobachterInnen vor einer bewaffneten Eskalation des Kosovo/a-Konfliktes warnten. Doch da Milosevic gebraucht wurde, konnte man ihm schlecht auch noch Zugeständnisse im Kosovo/a abverlangen, und die Äußerung von Ex-Außenminister Kinkel, man habe die Kosovo/a-Frage in Dayton „nur aus Zeitgründen“ nicht behandelt (2), muß wohl bestenfalls als billige Ausrede angesehen werden. Letztendlich belohnte der Dayton-Vertrag die gewaltsame Politik der NationalistInnen aller Seiten in Bosnien-Herzegowina und goß sie in ein kompliziertes Vertragswerk, das sich auf eben diese NationalistInnen stützte. Für die Aufrechterhaltung dieses „Friedens“ ist bis heute Militär erforderlich.

Der Dayton-Vertrag wurde daher von vielen im Kosovo/a als Aufforderung zur Gewalt gedeutet, denn ihr gewaltfreier Widerstand war ignoriert worden. Venton Surroi, Herausgeber der unabhängigen albanischen Zeitung Koha schrieb dazu im Mai 1996 paradigmatisch: „Dies ist ein frustrierender Moment für die AlbanerInnen. Die Einigung von Dayton dient als letzter und legitimierender Versuch der Grenzziehung. Die Großmächte sagten, das Kosovo/a-Problem müsse friedlich gelöst werden – und mit einer Einigung, die Kosovo/a in der Abhängigkeit von Belgrad beläßt (3). Zur gleichen Zeit aber bedeutet die Lösung für Bosnien und für die dortigen Konfliktparteien das Gegenteil: nämlich daß ethnisch bestimmte Territorien legitim sind und durch Gewalt durchgesetzt werden können. Wenn die internationale Aufmerksamkeit nur durch Krieg erreicht werden kann, und wenn der Krieg nur ein Durchgangsstadium auf dem Weg zur Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung ist, ist das ein ausreichender Hinweis für Kräfte, die friedlichen Methoden im Kosovo/a mißtrauen…“ (4)

Die UÇK (Ushtria Çlirimitare Kosoves – Befreiungsarmee des Kosova) wurde zwar bereits 1993 gegründet, trat aber erst ab 1996 mit Anschlägen auf Polizei- und Militäreinrichtungen im Kosovo/a in Erscheinung. Politisch spielte sie zunächst keine Rolle, trotz zunehmender Unzufriedenheit mit der gewaltfreien, aber dennoch autoritären, Politik des „Präsidenten“ Ibrahim Rugova. Diese Unzufriedenheit artikulierte sich zunächst in den stärker konfrontativen gewaltfreien Protesten der StudentInnen vom Herbst/Winter 1997/98. Zehntausende beteiligten sich an gewaltfreien Demonstrationen in Pristina und anderen Städten Kosovo/as, um für ihr Recht auf Bildung in ihrer eigenen Sprache zu demonstrieren und eine Öffnung der 1991 vom serbischen Regime geschlossenen albanischsprachigen Schulen und Universitäten zu erreichen. Am 1. Oktober 1997 kam es bei einer großen Demonstration in Pristina und in sechs anderen Städten des Kosovo/a zu massiver Polizeigewalt (5).

Wendepunkt Drenica

Ab etwa November 1997 erhielt die UÇK massiven Zulauf, und gleichzeitig internationale Aufmerksamkeit. Sie änderte ihre Strategie und beschränkte sich nicht mehr auf die Bombardierung von Polizeistationen. Stattdessen verließ sie nach und nach den Untergrund; Mitglieder der UÇK zeigten sich z.B. bei Beerdigungen „gefallener“ Mitstreiter. Die Region um Drenica galt als eine Hochburg der „Befreiungsarmee“, und vom Dezember 97 bis zum Beginn der serbischen Offensive im Februar 1998 war Drenica UÇK-Gebiet (6) und wurde teilweise als „befreites Gebiet“ bezeichnet (7).

Am 28. Februar und 1. März 1998 griffen serbische Polizei- und Armeeeinheiten die beiden Dörfer Cirez und Likošane in der Region Drenica an. Human Rights Watch schildert die Ereignisse in einem Bericht: „Spezialeinheiten der Polizei griffen ohne Warnung an, und schossen unterschiedslos auf Frauen, Kinder und andere Nicht-Kombattanten. Hubschrauber und Militärfahrzeuge bedeckten die Dächer der Dörfer mit Gewehrfeuer, bevor Polizeikräfte die Dörfer zu Fuß betraten und in private Häuse feuerten. Einer schwangeren Frau … wurde ins Gesicht geschossen, und vier Brüder einer Familie wurden ermordet, eindeutig während sie sich in Polizeigewahrsam befanden.“ (8) Die wenigsten der Opfer waren wohl UÇK-Kämpfer, und die Leichen wiesen Spuren von Folter und Mißhandlungen auf. (9) Der Bericht von Human Rights Watch stellt fest: „Diese Ereignisse in Drenica, bei denen 83 Menschen starben, darunter mindestens 24 Frauen und Kinder, waren der Wendepunkt in der Kosovo-Krise. Auch wenn es nicht bekannt ist, wie groß die UÇK bis zu diesem Zeitpunkt war und was ihre genauer Struktur war, steht außer Frage, daß die brutalen und unterschiedslosen Angriffe auf Frauen und Kinder die ethnisch albanische Bevölkerung zu einem großen Teil radikalisierte und die Reihen der UÇK füllte. Ob Milosevic dachte, er könnte die UÇK in Drenica zerschlagen, oder ob er wollte, daß die UÇK anwächst und selbstbewußter und aggressiver wird, ist eine zu diskutierende Frage.“ (10)

Aufstieg und Fall der UÇK

Tausende von AlbanerInnen schlossen sich nach Drenica der UÇK an, und sie proklamierte für sich die Kontrolle über etwa 40 % des Territoriums des Kosovo/a, auch wenn sie real militärisch dazu nicht in der Lage war. Viele Dörfer formten eigene Milizen, denen von der UÇK Waffen zur Verfügung gestellt wurden. (11) Die militärische Offensive Serbiens begann kurz nachdem Miloševic gegenüber den USA zugesichert hatte, sich mit Rugova zu treffen. Das Treffen fand am 15. Mai statt und wurden von westlichen Regierungen als „positiver erster Schritt“ bezeichnet – ohne daß es jedoch irgendwelche Ergebnisse gegeben hätte. Gleichzeitig begann die Offensive an der Grenze zwischen Albanien und Kosovo/a mit Angriffen auf Städte und Dörfer, wobei ein Ziel dieser Angriffe die Entvölkerung der Region sowie die Unterbrechnung des Waffen- und Menschennachschubs der UÇK war.  Eher ein pikantes Detail am Rande ist dabei ein Bericht des Fernsehmagazins Monitor, daß über den Umweg Albanien auch Lieferungen von Funkgeräten und Überwachungstechnik des Militärischen Abschirmdienstes der Bundeswehr (MAD) an die UÇK gelangten. (12)

In Folge der Offensive flohen ca. 15 000 Menschen nach Albanien und weitere 30 000 nordwärts nach Montenegro. Dörfer wurden systematisch zerstört, auf flüchtende Menschen wurde weiter geschossen. Teil der militärischen Maßnahmen war außerdem die Verlegung von Landminen entlang der Grenzen des Kosovo/a zu Albanien und Mazedonien, um so die Nachschubwege endgültig unpassierbar zu machen. Ab Juli wurden aus Albanien erste Berichte von durch Landminen verletzten Flüchtlingen bekannt und später ebenfalls aus Mazedonien von den dort stationierten UN-Truppen bestätigt. (13)

Im Juli, August und September wurde die militärische Offensive verschärft, und bereits Mitte August hatten die serbischen Militär- und Polizeieinheiten die Kontrolle über den größten Teil des Kosovo/a zurückerlangt. Derzeit hat sich die UÇK nach Drenica und einige kleine Rückzugsgebiete im Westen des Kosovo/a zurückgezogen. (14) Erste Berichte treffen ein, daß ganze Dörfer ihre von der UÇK erhaltenen Waffen zurückgeben und die UÇK aus Angst vor serbischen Angriffen zum Verlassen des Dorfes auffordern. (15)

Es sieht so aus, als wenn die UÇK im wesentlichen militärisch zerschlagen wäre, und als hätte die serbische Offensive die Kommandostruktur der UÇK massiv beeinträchtigt. Berichte über spezielle UÇK-Einheiten können nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich nur um versprengte Häuflein handelt, die vielleicht zu einem langwierigen Guerilla-Krieg in der Lage sind, militärisch aber keine ernste Bedrohung mehr darstellen. So verwundert es auch nicht, daß die serbische Regierung in letzter Zeit mehrmals die Einstellung der Kämpfe bekannt gegeben hat. (16)

Kritik an der „Unprofessionalität“ der UÇK hat außerdem dazu geführt, daß sich eine weitere bewaffnete Gruppe gebildet hat, die im wesentlichen in der Nähe der albanischen Grenze agiert. Die FARK (Forcat Armatosur e Republikes se Kosoves – Bewaffnete Kräfte der Republik Kosova) besteht im wesentlichen aus AlbanerInnen mit Erfahrung in der jugoslawischen Armee. (17) Die politische Position dieser neuen Gruppierung ist bisher nicht bekannt.

Internationales Ballspiel

Es wäre zu einfach, ein Versagen der NATO angesichts des Konflikts im Kosovo/a zu konstatieren, wie dies relativ einhellig in der Presse und auch durch Menschenrechtsorganisation geschieht (18). Dies würde voraussetzen, daß es der NATO oder der „internationalen Gemeinschaft“ – was immer man darunter auch verstehen mag – um eine Lösung des Konfliktes bzw. um die Menschen im Kosovo/a wirklich gehen würde.

Vielleicht ist es zutreffender, von einem NATO-Krisenmanagement zu sprechen, dem es im wesentlichen erstens um die Beschränkung des Konfliktes auf den Kosovo/a selbst ging und zweitens um die Vermeidung jeglicher Grenzveränderungen, d.h. die territoriale Integrität Jugoslawiens sollte um nahezu jeden Preis gewahrt bleiben. So konstatiert Human Rights Watch richtig: „Die internationale Gemeinschaft beschränkt sich auf eine Politik der Eingrenzung – auf das Aufpassen, daß der Konflikt nicht auf die Nachbarländer Mazedonien, Albanien und Bosnien übergreift. Menschenrechtsverletzungen wurden im Namen der territorialen Integrität toleriert.“ (19)

Vor allem Rußland – Teil der Bosnien-Kontaktgruppe – ging es im wesentlichen darum, einen Präzedenzfall internationalen Eingreifens im Kosovo/a zu vermeiden, gibt es doch zahlreiche ähnlich gelagerte Fälle im eigenen Land, von denen Tschetschenien wohl nur der bekannteste und berüchtigste ist. Folglich wurde gerade von Rußland immer betont, daß es sich beim Kosovo/a-Konflikt um eine „interne Angelegenheit“ Jugoslawiens handelt, die durch die Regierung Jugoslawiens zu lösen ist.

Erst nach dem Anwachsen der UÇK in Folge der Ereignisse von Drenica reagierte die internationale Staatenwelt (die Friedensbewegung war schon länger aktiv, doch im wesentlichen ohne öffentliche Resonanz). Am 31. März wurde durch UN-Resolution erneut ein Waffenembargo gegen Jugoslawien verhängt, das nach Dayton zunächst aufgehoben worden war. Schärfere Sanktionen, etwa ein Einfrieren der Auslandsguthaben, ließen sich gegen Rußland nicht durchsetzen. Gleichzeitig beschied die NATO zu dieser Zeit Forderungen der Kosovo/a-AlbanerInnen nach Entsendung einer NATO-Interventionstruppe noch abschlägig. (20) Der Konflikt sollte angeblich auf diplomatischen Wegen gelöst werden. Die verhängten Sanktionen sollten Milosevic zu Verhandlungen mit VertreterInnen der AlbanerInnen – vor allem mit Ibrahim Rugova – bewegen. Die USA drängten allerdings als erste auf eine Einbeziehung der UÇK in die Verhandlungen und hofierten somit den bewaffneten Aufstand. Gleichzeitig wurde jedoch kein Zweifel daran gelassen, daß es sich um ein inner-jugoslawisches Problem handelt, daß also eine Loslösung des Kosovo/a von Jugoslawien (bzw. Serbien) nicht zur Debatte stünde. Ein Muster, das bereits von der Reaktion auf das Auseinanderbrechen des alten Jugoslawiens bekannt ist.

Im Mai diesen Jahres reiste dann Richard Holbrooke als Vermittler der USA nach Belgrad, um Milosevic zu Verhandlungen mit den Kosovo/a-AlbanerInnen zu bewegen. Am 15. Mai – nach mehrtägiger Reisediplomatie von Holbrooke zwischen Belgrad und Pristina – fand dann ein 90-minütiges Treffen zwischen Milosevic und Rugova statt, bei dem es aber keine Ergebnisse gab. (21)

Doch ein anderes Ergebnis dieser diplomatischen Versuche gab es: ein nur zu deutlicher Hinweis an Milosevic, daß dieser im Kosovo/a freie Hand hätte (22). Eine Eigenstaatlichkeit des Kosovo/a lag nicht im Interesse der USA, da diese die höchst fragile Konstruktion von Dayton aus dem Gleichgewicht hätte bringen können und auch für Mazedonien (25 % AlbanerInnen) und Albanien selbst zu einer weiteren Destabilisierung hätte führen können. Die von den USA geforderte Einbeziehung der UÇK entsprach daher auch eher einem perfiden Machtkalkül des teile und herrsche: Die Einbeziehung der UÇK würde die Spaltungstendenzen in der kosovo/a-albanischen Opposition verstärken und diese somit insgesamt eher schwächen. Gleichzeitig lag aber auch eine militärische Schwächung der UÇK im Interesse der USA, um die „gemäßigten“ Kräfte um Rugova, die damals noch für eine Lösung im Rahmen Jugoslawiens plädierten, zu stärken, und somit Unabhängigkeitsforderungen zurückzudrängen.

Milosevic verstand und nutzte dieses „grüne Licht“ für eine zweite und sehr massive militärische Offensive im Kosovo/a, die erst die jetzt lauthals beklagten massiven Flüchtlingsströme zur Folge hatte (23). Schätzungen sprechen mittlerweile von mehr als 300 000 Flüchtlingen, die sich in den Bergen und Wäldern des Kosovo/a aufhalten und nicht in ihre – häufig zerstörten – Dörfer zurücktrauen.

Herbst 98: NATO-Säbelrasseln

Anfang Juni begann die NATO mit Planungen für mögliche Militäraktionen. Gleichzeitig begann das NATO-Manöver „Determinded Falcon“ über Mazedonien und Albanien unter Beteiligung acht deutscher Tornados (24). Allerdings flogen die Flugzeuge zwar über der albanischen Hauptstadt Tirana, nicht aber über Nord-Albanien, wo sie die jugoslawische Armee und auch die UÇK-Kämpfer hätten sehen können (25). Es ging also weniger um eine Machtdemonstration, sondern mehr um eine Warnung an Milosevic, der immer noch als ein Garant für die Einhaltung des Dayton-Abkommens gilt. Und es ging um eine Demonstration gegenüber Rußland, daß die NATO einzugreifen gewillt ist.

Während die NATO öffentlich eine militärische Intervention diskutierte, traf sich Milosevic am 16. Juni mit dem russischen Präsidenten Jelzin. In einer gemeinsamen Erklärung verpflichtete sich Milosevic, die Gespräche mit den Kosovo/a-AlbanerInnen fortzusetzen, keine Repression gegen die Zivilbevölkerung auszuüben, die Bewegungsfreiheit im Kosovo/a zu gewährleisten und Hilfsorganisationen den Zugang zu ermöglichen (26). Damit war eine NATO-Intervention zunächst einmal abgewendet, und militärische Erfolge der UÇK im Juni, verbunden mit Erklärungen, Pristina zu befreien und den Kosovo/a mit Albanien zu vereinigen, führten zu stärkerer Zurückhaltung auf Seiten der NATO.

Erst nach der faktischen militärischen Zerschlagung der UÇK trat die NATO im Herbst wieder auf den Plan. Ende September wurde eine Resolution des UN-Sicherheitsrates (UN-Resolution 1199) verabschiedet. Neben einer sofortigen Einstellung der Kämpfe im Kosovo/a, dem Abzug von militärischen und polizeilichen Spezialeinheiten und der Aufnahme von Verhandlungen enthielt die Resolution die Forderung nach freiem Zugang für Hilfsorganisationen wie das Internationale Rote Kreuz oder das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR). Gleichzeitig drohte die NATO weiter mit Luftangriffen, sollte Serbien der Resolution nicht nachkommen. (27)

Während Milosevic wieder einmal die Beendigung der Kämpfe im Kosovo/a verkündete, da „die terroristischen Banden geschlagen“ seien (28), änderte sich an der Situation praktisch jedoch nichts. Die Übergriffe der jugoslawischen Armee auf Kosovo/a-AlbanerInnen gingen weiter (29), die Hilfsorganisationen erhielten weiter keinen Zutritt. Dies leitete dann die Eskalation der NATO-Drohungen ein, die beinahe (Stand 24.10.98) zu den NATO-Bombardements geführt hätte – wenn Milosevic nicht rechtzeitig wieder einmal durch sein Einlenken den NATO-Schlag abgewendet hätte.

Doch die Drohung mit einem Militärschlag besteht weiter. 2 000 BeobachterInnen der OSZE sollen die Einhaltung der UN-Resolution 1199 im Kosovo/a überwachen, entsprechende Vereinbarungen zwischen NATO und Belgrad bzw. OSZE und Belgrad wurden am 15. bzw. 16. Oktober unterzeichnet. (30) Ein Erfolg militärischer Drohungen also?

Sieger: Nationalismus

So würde es zumindest die NATO gerne darstellen. Während innerhalb Serbiens Milosevic sich als „Retter der Nation“ präsentiert, der einen Krieg abgewendet hätte (31), stellt sich die NATO gleichzeitig als Kämpferin für humanitäre Hilfe im Kosovo/a dar. So sind beide Seiten zufrieden: Milosevic sitzt in Serbien fester im Sattel als je zuvor und verschärft die Repression gegen die Opposition (vgl. nebenstehenden Artikel). Die NATO stellt sich als Siegerin dar und hat sich erneut – gegen die UNO – als Weltpolizist etabliert. Auf der Strecke bleiben die Kosovo/a-AlbanerInnen, die bei den gesamten Verhandlungen nicht mit am Tisch saßen, und friedenspolitische – von libertär-föderalistischen ganz zu schweigen – Alternativen.

Doch auch im Kosovo/a ist eher der Nationalismus Sieger dieser Auseinandersetzung. War schon der gewaltfreie Widerstand der letzten neun Jahre nationalistisch und taten sich Dialoginitiativen selbst mit der serbischen Opposition immer schwer (vgl. GWR 228), so besteht dafür nun fast kein Raum mehr. Die Uneinigkeit der Opposition mag derzeit eine Unabhängigkeit des Kosovo/a als unrealistisch erscheinen lassen, doch hoch im Kurs stehen föderalistische Lösungen innerhalb Jugoslawiens nicht mehr. Ein Zusammenleben mit der serbischen Minderheit im Kosovo/a können sich viele AlbanerInnen nicht mehr vorstellen, und SerbInnen – selbst der Opposition nahestehend – berichten von einer alltäglichen feindlichen Atmosphäre. (32)

Sieger: Militarismus

Die Ereignisse um den Kosovo/a machen nur zu deutlich, daß die NATO großen Anteil an der Eskalation des Konfliktes hatte, sich gleichzeitig aber als Garantin der Menschenrechte präsentiert und nach der Eskalation als einzige Lösung ein militärisches Eingreifen – natürlich durch die NATO – präsentiert. Nicht in erster Linie die fehlende völkerrechtliche Legitimiation für einen NATO-Einsatz ist dabei zu kritisieren (33) – diese kann für AnarchistInnen nicht Maßstab sein – sondern vielmehr noch die unglaubliche Heuchelei, zunächst einen drohenden Konflikt zu ignorieren, einen der maßgeblichen Kriegstreiber noch als Garanten des Friedens zu hofieren und ihm „grünes Licht“ für Militäraktionen zu signalisieren, um später dann – nach dem Eintreten der humanitären Katastrophe – sich und das eigene militärische Eingreifen als einzige Lösung darzustellen. Den KritikerInnen aus den Kreisen der Friedensbewegung, die seit Jahren vor dem Krieg warnten und kleine friedenspolitische Initiativen in der Region unterstützten, wird aufgrund ihrer GegnerInnenschaft zu einer militärischen Intervention dann „Untätigkeit“ angesichts einer humanitären Katastrophe vorgeworfen. Geht es noch verlogener?

(1) zu Dayton vergleiche u.a.: Andreas Speck: Bosnischer Friede teuer erkauft: UNO Steigbügelhalter der NATO / Triumph des Nationalismus. In: graswurzelrevolution Nr. 204, 25. Jg., Januar 1996; und Ulrich Schneckener: Zwischen Realpolitik und Idealpolitik: Der Frieden und die Menschenrechte nach Dayton. In: antimilitarismus information, 26. Jg., Heft 4, April 1996

(2) suk: Kosovo. Die Schlacht auf dem Amselfeld. In: antimilitarismus information, 28. Jg., Heft 4, April 1998

(3) worauf kritisch Stasa Zajovic bereits im Jahr 1996 hinwies. vgl.: Stasa Zajovic: Kriegführung niedriger Intensität. Der Krieg gegen Deserteure und KriegsgegnerInnen in Serbien. In: graswurzelrevolution Nr. 206, 25. Jg., März 1996

(4) War Report, Mai 1996

(5) Howard Clark: Students demand right to education. In: Peace News Nr. 2419, November 1997

(6) Howard Clark: Gibt es einen Ausweg aus der Gewalt? Der gewaltfreie Widerstand im Kosovo/a droht ohne internationale Beachtung in Gewalt umzuschlagen. In: graswurzelrevolution Nr. 228, 27. Jg., April 1998

(7) Human Rights Watch: Federal Republic of Yugoslavia: Humanitarian Law Violations in Kosovo. 5.10.1998, www.hrw.org/hrw/reports98/ kosovo/index.htm

(8) Human Rights Watch, 1998

(9) suk, 1998

(10) Human Rights Watch, 1998

(11) email von Howard Clark an WRI Council, 04.10.98

(12) Frankfurter Rundschau, 25.09.98

(13) Human Rights Watch, 1998

(14) ebenda

(15) email von Howard Clark an WRI Council, 04.10.98

(16) z.B. FR vom 29.09.98

(17) Human Rights Watch, 1998

(18) z.B. Human Rights Watch, 1998; Frankfurter Rundschau, 12.10.98 u.v.a.

(19) Human Rights Watch, 1998

(20) suk, 1998

(21) Human Rights Watch, 1998

(22) Frankfurter Rundschau, 14.10.98

(23) ebenda

(24) omz: Kosova im Krieg: Die NATO in der Warteschleife. In: antimilitarismus information, 28. Jg., Heft 7, Juli 1998

(25) Human Rights Watch, 1998

(26) ebenda

(27) Frankfurter Rundschau, 25.09.98

(28) Frankfurter Rundschau, 29.09.98

(29) vgl. z.B. Frankfurter Rundschau vom 30.09.98, 02.10.98

(30) Frankfurter Rundschau, 16.10.98 und 17.10.98

(31) Frankfurter Rundschau, 14.10.98

(32) email von Howard Clark an WRI Council, 15.10.98

(33) Frankfurter Rundschau, 15.10.98