#STAY AT HOME heißt die weit sichtbare Laufschrift auf dem Dach des Living Levels, eine der teuersten Immobilien am Berliner Spree-Ufer. Gut sehen können die Aufforderung auch die vielen Menschen, die in den Berliner Stadtteilen Kreuzberg und Friedrichshain in beengten Wohnverhältnissen oder sogar ohne Obdach auf der Straße überleben müssen. Nicht wenige sind durch Luxusbauprojekte wie Living Levels verdrängt worden und haben durch das Streben nach Gewinnmaximierung in der Immobilienwirtschaft ihre Wohnungen verloren.
Daher ist es schon besonders zynisch, wenn ausgerechnet vom Dach dieses Gebäudes aus aufgefordert wird, zu Hause zu bleiben. Wenn schon alle aufgefordert werden, zu Hause zu bleiben, dann müssen auch alle ein Zuhause haben, in dem sie leben können und wollen. Ein Beispiel mehr, das zeigt, wie die Corona-Krise die Klassenspaltung der kapitalistischen Gesellschaft offenlegt. Wenn von einem Luxusgebäude aus einkommensschwache und verarmte Bevölkerungsgruppen durch Verhaltensregeln angehalten werden, zu Hause zu bleiben, fühlt man sich an das der französischen Königin Marie-Antoinette zugeschriebene Bonmot erinnert, die auf die Klage nach dem fehlenden Brot für die Armen erwidert: „Dann sollen sie doch Kuchen essen“.
Wenn Solidarität nationalen Zusammenhalt meint
Nicht wenige Historiker*innen erklären, dass die Wut auf diese zynische Reaktion der Herrschaft wesentlich zur starken Beteiligung der Armen an der Revolution in Frankreich beigetragen hat. Im Deutschland dieser Tage sorgt der zynische Spruch am Living Levels einstweilen noch nicht für viel öffentlichen Unmut. In der Corona-Krise dominiert noch die volksgemeinschaftliche Diktion, dass wir alle in einem Boot sitzen und allen politischen Streit jetzt hinter uns lassen sollen. Dazu wird von Politiker*innen aller Parteien plötzlich verdächtig oft das Wörtchen Solidarität im Mund geführt. Doch es hat eine ganz andere Bedeutung als in linken Zusammenhängen. Von Politik und Wirtschaft wird der nationale Zusammenhalt beschworen und vor der Spaltung der Gesellschaft gewarnt. Der Sozialwissenschaftler Arian Schiffer-Nasserie brachte es in einer Glosse in der jungen Welt gut auf den Punkt: „Der Begriff der Solidarität hat mit dem vorläufigen Ende einer revolutionären Arbeiterbewegung seinen Kampfcharakter verloren und ist zur moralischen Tugend, zum Synonym für Unterwerfungsbereitschaft und nationalen Zusammenhalt verkommen.“ Doch er hat bei seiner Definition ausgelassen, dass auch nach dem Ende der revolutionären Arbeiter*innenbewegung Stadtteilinitiativen solidarische Netzwerke aufbauen. So hat die Initiative „Hände weg vom Wedding“ (HwvW) schon seit mehreren Jahren in einem Kiez, in dem viele Menschen mit geringem Einkommen leben, solidarische Strukturen aufgebaut. So wurden Zwangsräumungen verhindert, solidarische Begleitungen zum Jobcenter koordiniert oder eben seit mehreren Jahren eine Stadtteildemonstration am 30. April gemeinsam mit aktiven Bewohner*innen organisiert. Als Treffpunkt im Stadtteil bietet das Kiezhaus Agnes Reinhold, benannt nach einer Weddinger Anarchistin, Platz für Diskussionen, Austausch und Planung solidarischer Aktionen. Gleich mit Beginn der Corona-Krise, als öffentliche Treffen nicht mehr möglich waren, organisierten die Aktivist*innen unter dem Motto „Wedding solidarisch – gemeinsam gegen Corona“ eine Netzwerkstruktur. Sie verfolgen zwei Ziele:
Den Aufbau von nachbarschaftlichen Solidaritätsstrukturen und die gemeinsame Artikulation von Forderungen prekarisierter und marginalisierter Menschen. Dazu wurde eine Telegram-Gruppe, die fast 1800 Mitglieder hat, und eine Facebook-Gruppe, die 820 Mitglieder hat, gegründet. Sie dienen im Falle einer Gefährdung oder notwendigen Quarantäne dem gegenseitigen Austausch von Menschen aus der direkten Nachbarschaft und sollen die gegenseitige Hilfe erleichtern. Zudem haben die Aktivist*innen das Projekt „Alltagserfahrungen von unten“ geschaffen, durch das Erfahrungsberichte von Lohnabhängigen, Migrant*innen, Marginalisierten und von im Gesundheitssektor Beschäftigten gesammelt und veröffentlicht werden. So soll auf konkrete Probleme während der Coronapandemie hingewiesen und für Verbesserungen gekämpft werden.
Mit CoView für transnationale Solidarität und gegen autoritären Staat
Wie HwvW gibt es auch in vielen anderen Städten solche solidarischen Netzwerke, für die Solidarität eben nicht nationalen Zusammenhalt meint. Auf der Plattform CoView19 (www.coview.info) will man sich auch transnational austauschen. „Es melden sich täglich Menschen, die uns entweder von Repression, Missständen oder besorgniserregenden Entwicklungen schreiben oder sich direkt in die Arbeit von CoView einbringen möchten“, erklärt eine CoView19-Organisatorin. Sie verweist auch darauf, dass in den Corona-Zeiten der Klassenkampf von oben weitergeht. „In den letzten Wochen verloren Millionen von Menschen ihre Jobs, überall auf der Welt. Prekär Beschäftigte hat es sofort und am härtesten getroffen. Ohne gewerkschaftliche Unterstützung oder Organisierung wurde ihnen der Boden unter den Füßen weggerissen“. Die Absurdität der ungleichen Verteilung wird in der jetzigen Zuspitzung der Krise noch offensichtlicher. Die CoView-Organisator*innen wenden sich auch gegen die autoritäre Staatsformierung in Zeiten der Krise, wie sie sich in Versammlungs- und Demonstrationsverboten ausdrückt. „Für das Erkennen der Relevanz des Virus, darüber wie viele Menschen es betrifft, braucht es keinen autoritären Staat und Polizei zur Umsetzung und Bestrafung. Es braucht Eigenverantwortung und gute Informationen. Es darf nie passieren, dass Kundgebungen und Demonstrationen grundsätzlich verboten werden – aktuell sogar solche, bei denen Teilnehmer*innen Sicherheitsabstand einhalten und Mundschutz tragen“, stellt die CoView-Aktivistin klar.
Proteste trotz Corona-Notstand
Tatsächlich haben sich in den letzten Wochen Berichte gehäuft, wie die Polizei mit der Handhabe des Infektionsschutzgesetzes jegliche politische Artikulation in der Öffentlichkeit repressiv beendete. Da bekamen selbst Menschen Strafbefehle, die einzeln und mit Mundschutz auf öffentlichem Raum leere Schuhe aufstellten, um die Einreise von Geflüchteten zu fordern, die seit Wochen in Camps an der türkisch-griechischen Grenze in unwürdigen Bedingungen überleben müssen. Allerdings gab es in verschiedenen Städten auch in Zeiten des Corona-Notstands Proteste im öffentlichen Raum, beispielsweise am 28. März. Für den Tag hatten Recht-auf-Stadt-Gruppen und Mieter*inneninitiativen seit Monaten einen „Europäischen Aktionstag für das Recht auf Wohnen“ vorbereitet. Es hatte sich abgezeichnet, dass es die größten europäischen Mieter*innenproteste werden würden. Auch wenn der Corona-Notstand das verhinderte, gab es vor allem in Stadtteilen, in denen es bereits länger solidarische Strukturen gibt, auch Proteste im öffentlichen Raum. So hat in den Mittagsstunden des 28. März eine größere Kundgebung am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg stattgefunden. Die Kreuzung war für längere Zeit blockiert. Zu zweit mit Abstand zu den anderen wurde eine Vielzahl von Transparenten gehalten und von Einzelnen mit Abstand zu den anderen viele Schilder. Es waren sicherlich über 100 Personen beteiligt. Die mit mehreren Bereitschaftswagen zusammengekommene, unsicher wirkende Polizei hat per Lautsprecher und mit Verweis auf das Infektionsschutzgesetz und Strafbarkeit von Versammlungen mit mehr als zwei Personen zum Verlassen der Straßen und des Platzes aufgefordert. Die einzeln Versammelten haben daraufhin die Kundgebung beendet. Um 18 Uhr gab es dann im Friedrichshainer Nordkiez eine Kundgebung, die sich auf den Mietenaktionstag bezog. Mieter*innen eines linken Hausprojekts beteiligten sich daran ebenso wie Nachbar*innen. Gemeinsam wurde für 10 Minuten mit Töpfen und Besteck gescheppert, danach wurden Redebeiträge zu verschiedenen bedrohten Projekten gehalten. Die Aktion wurde nach ca. 30 Minuten aufgelöst, bevor sich die Polizei blicken ließ. Zudem wurden von kleinen Gruppen mehrere leerstehende Wohnungen in Berlin besetzt, um sie Wohnungslosen zur Verfügung zu stellen. Auch nach dem 28. März haben in Berlin Mieter*inneninitiativen mit Scheppern-Aktionen aus Fenstern und von Balkonen und mit dem Aufhängen von Transparenten ihren Protest gegen Verdrängung ausgedrückt.
Protest darf nicht ins Internet verbannt werden
Tatsächlich kann man im Internet ermutigende Beispiele von Protesten auch in Zeiten des Corona-Notstands beobachten. Doch alle Beteiligten betonen, dass eine noch so gut geplante und durchgeführte digitale Protestaktion den Protest in der Öffentlichkeit nicht ersetzt. Daher muss der Kampf um die vollständige Wiederherstellung des Versammlungs- und Demonstrationsrechts auch auf der Agenda der sozialen Netzwerke stehen. Es zeichnet sich schon jetzt ab, dass in der Corona-Krise die weitere Durchsetzung der digitalen Arbeits- und Kommunikationsformen massiv gepusht wird. Sowohl im Bereich der Bildung wie der Lohnarbeit wird sich diese Entwicklung nicht mehr abschwächen lassen. Klar ist auch, dass das Internet schon länger ein wichtiges Hilfsmittel zur Koordinierung und Kommunikation von sozialen Protesten ist, aber eben kein Ersatz. Sozialer Widerstand braucht das Zusammenkommen im öffentlichen Raum und darf sich nicht entmachten und in die digitale Welt abschieben lassen.
Im März 2020 wurde von Peter Nowak und Matthias Coers das Buch „Umkämpftes Wohnen – Neue Solidarität in den Städten“ veröffentlicht, erschienen im Verlag Edition Assemblage.
www.umkaempftes-wohnen.de
www.peter-nowak-journalist.de
www.zweischritte.berlin
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.