Arbeiter*innen gegen die Politik des Kapitals

Frankreich in Covid-19-Zeiten

| Sylvain Alias

Im Gegensatz zur BRD sind in Frankreich, das mit ca. 30.000 Toten bis Ende Mai weitaus schlimmer vom Coronavirus betroffen war, die Forderungen nach Produktionsstopp, hygienischen Arbeitsbedingungen oder sogar der Anwendung eines „Rechts auf Dienstausfall“ bei vollständiger Lohnfortzahlung nicht durch staatliche Verordnungen, sondern durch Arbeitskämpfe von unten gegen Kapitalisten und die neoliberale Regierung Macron durchgesetzt worden. Ein Lehrstück auch für Rechte, Virusleugner*innen und Verschwörungstheoretiker*innen auf bundesdeutschen Hygienedemos, die – nationalistisch wie sie sind – niemals einen Blick auf die Zustände in anderen Ländern werfen und Lehren daraus ziehen wollen. Im speziell für die GWR geschriebenen Artikel schildert Sylvain Alias die Situation in Frankreich und die Kämpfe der Arbeiter*innen während der Corona-Pandemie. (GWR-Red.)

Als Antwort auf die Pandemie hat der französische Staat für die Bevölkerung am 17. März sowohl eine Ausgangssperre verhängt als auch die Wirtschaft heruntergefahren. Dies geschah erst in akuter Notsituation und nach vielen Aufrufen des Krankenhauspersonals, das vom intensiven Andrang der Patient*innen in den Notaufnahmen und Intensivstationen völlig überfordert war. Die pandemische Krise war gleichzeitig ein Offenbarungseid für die bisher üblichen Politiken der Budgetkürzungen der ultraliberalen Regierungen Frankreichs, welcher politischer Ausrichtung auch immer. In einem Bericht vom Oktober 2019 gab das Gesundheitsministerium an, dass die öffentlichen Krankenhäuser seit 2013 genau 13.631 Betten abgebaut hatten. Andererseits hatten die Pflegekräfte seit dem Frühjahr 2019 in Streik- und Protestbewegungen ihre Forderungen mit dem Slogan verbunden: „Der Staat zählt seine Cents, wir zählen die Toten.“ Der Spruch wurde seither in den Streikbewegungen populär. Die pandemische Krise verband sich daher mit einer sozialpolitischen Krise. Doch die Bewegung des Winters 2019/2020 gegen das neue Rentengesetz und die Bewegung der „Gelbwesten“ des Jahres 2018/2019 hatten ihre Spuren hinterlassen: Als wegen Corona auf massive Kurzarbeit zurückgegriffen wurde (12 von 18 Millionen Lohnarbeiter*innen waren davon betroffen und bekamen nur noch 84% ihres Nettolohns bzw. 100%, wenn sie bisher den SMIC, den Mindestlohn bekommen hatten), verkündete die Regierung die Aussetzung dieses Rentengesetzes, das überdies im Schnellverfahren ohne Parlamentsabstimmung mittels des umstrittenen Artikels 49,3 der Verfassung durchgesetzt worden war. Ebenfalls ausgesetzt wurde das von scharfer Kritik begleitete Vorhaben, die Arbeitslosenversicherung zu ändern. Beide Gesetze wurden „auf später“ verschoben. Die Regierenden sind sich sehr wohl bewusst, dass sie auf einem Vulkan sitzen.

Drastische Erhöhung der Arbeitszeiten in systemrelevanten“ Sektoren

In unmittelbarer Folge der gesundheitspolitischen Notmaßnahmen, der Ausgangssperre und des Stillstands des „nicht systemrelevanten“ Wirtschaftslebens hatte jede/r begriffen, dass der Kernkonflikt Kapital-Arbeit weiterhin zentral bleiben würde.

Parallel zu den sozialen Maßnahmen der Kurzarbeit setzte die Regierung des Präsidenten Macron ab Ende März 2020 mit Hilfe von Dekreten und Verordnungen ein wahres „Ausnahme“-Arbeitsrecht in den sogenannten „strategischen“ Branchen der Energieversorgung, des Kommunikationswesens, der Transportlogistik und der agrarischen Lebensmittelproduktion in Kraft, das bis zum Jahresende gelten soll. Die maximal mögliche Arbeitszeit wurde dabei auf 60 Wochenstunden angehoben. Zur Erinnerung: Die bisher gesetzlich gültige Arbeitszeit in Frankreich beträgt 35 Wochenstunden und die maximal erlaubte Arbeitszeit in Ausnahmefällen beträgt gemäß EU-Recht 48 Wochenstunden. Nicht genug damit: Für Nachtarbeiter*innen wurde die täglich maximal mögliche Arbeitsdauer auf 12 Stunden erhöht, während das französische Arbeitsgesetz bisher eine maximale Arbeitszeit pro Nacht von 10 Stunden vorsah. Und die Mindest-Regenerationszeit zwischen einer Arbeitseinheit pro Tag und dem Arbeitsbeginn am nächsten Tag wurde von 11 Stunden auf 9 Stunden gesenkt. Bei separater Übereinkunft innerhalb eines Betriebes oder innerhalb einer Branche kann der Arbeitgeber außerdem willkürlich über den bezahlten Urlaub entscheiden, ihn also entweder aufzwingen oder nach seinem Bedarf verschieben. Mit all diesen Maßnahmen erklärte sich der französische Unternehmerverband (MEDEF) sehr einverstanden – kämpft er doch seit jeher für eine Aufweichung des seiner Meinung nach „schrecklichen Gesetzes“ für die 35-Stunden-Woche, das offiziell noch immer gültig ist. Zusätzlich zu diesen Notmaßnahmen wurden auch die Rechte der Personalvertretungen durch Dekrete und Verordnungen verändert: In vielen Punkten wurde die Zeit der Beratungen und gegenseitigen Konsultationen vor einer innerbetrieblichen Entscheidung zwischen Arbeitgebern und Gewerkschafsvertreter*innen auf ein Maximum von zehn Tagen reduziert, während sie vor den Notmaßnahmen nach gültigem Arbeitsrecht je nach Branche mehrere Monate dauerte.

Die Kämpfe um Hygienemaßnahmen für die Arbeiter*innen innerhalb der Betriebe: der Fall Amazon

Im Innern der Betriebe waren die Auseinandersetzungen oft sehr „heftig“. Am 16. März 2020 haben die Autobauer Renault, PSA-Citroën und der Reifenhersteller Michelin einen Produktionsstopp verkündet. Was PSA-Citroën betrifft, wurde im Nachhinein bekannt, dass die Entscheidung zur Betriebsschließung auf den „Druck“ der Arbeiter*innen hin gefällt wurde.

In der Folge konzentrierte sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Unternehmen: Amazon. Die Firma unterhält sechs Logistikzentren innerhalb Frankreichs sowie weitere Warenlager ihrer Filialkette „Amazon Transport“ im Umkreis der sogenannten „letzten Kilometer“ vor den großen Städteballungen Paris, Marseille, Toulouse, Lille. Allein die Aktiengesellschaft „Amazon France Logistique“ mit ihren sechs Logistikzentren und dem Hauptsitz in Clichy beschäftigt 11.000 Arbeiter*innen. Während die Firmenleitungen in den größten Teilen der sonstigen Industrie die Entscheidung trafen, die Produktion auszusetzen, verkündete die Direktion von Amazon, dass sie sich als „systemrelevant“ für die Bevölkerung betrachte und entschied, ihre Geschäftstätigkeit aufrechtzuerhalten. Unmittelbar darauf entstanden Streikbewegungen und Auseinandersetzungen in den Warenlagern, zunächst vom 12. bis 16. März bei Amazon Italia in Torrazza, Passo Corese und Castel San Giovanni, dann zwischen dem 17. und dem 19. März bei Amazon France in den Logistikzentren von Douai, Chalon, Saran, Boves und Montélimar, wo es neben den Arbeitsniederlegungen zu Forderungen nach einem Recht auf Dienstausfall bzw. Zuhausebleiben, um sich vor dem Coronavirus zu schützen, kam. Als Antwort richtete das Management einseitig Sicherheits- und Hygienemaßnahmen ein, die nur als „kosmetisch“ bezeichnet werden können, wie etwa Abstandsmarkierungen auf dem Boden, die sich als unpraktikabel erwiesen, oder die Bereitstellung von Desinfektionsmitteln, deren Mengen nicht ausreichten.

Die Auseinandersetzungen bei der Post

Auch „La Poste“, die französische Post, noch immer Teil des öffentlichen Dienstes, gehörte zu den „systemrelevanten“ wirtschaftlichen und sozialen Dienstleistungen. Doch die Postangestellten verweigerten sich ebenfalls ihrer „Selbstaufopferung“ für den Coronavirus. In den Verteilstellen und beim Austragen der Briefe häuften sich Arbeitsniederlegungen und Anwendungen des Rechts auf Dienstausfall. Die Personalvertreter*innen traten schnell auf den Plan. Angesichts des Zögerns der Management-Abteilungen, Risikoabschätzungen für das Personal und präzise Schutzmaßnahmen durchzuführen, hat sich die Gewerkschaft SUD-PTT (Solidaires Unitaires Démocratiques (1); die Branchenorganisation für Post, Telegrafie und Telekommunikation) schließlich dazu entschieden, die Angelegenheit vor Gericht zu bringen. Und am 9. April 2020 verurteilte ein Pariser Arbeitsgericht per einstweiliger Verfügung den Staatsbetrieb „La Poste“ dazu, konkrete Schutzmaßnahmen für ihre Arbeiter*innen einzuführen sowie zwischen „systemrelevanten und nicht systemrelevanten Dienstleistungen für die Nation“ zu unterscheiden. Es handelte sich hier gewiss um den ersten konkreten Erfolg der Gewerkschaften vor einem Gericht in dieser Zeit der Pandemie.

Die Strategie Streik plus Gerichtsklagen verbreitet sich wie ein Lauffeuer: Amazon France

Dieser Erfolg inspirierte auch die Amazon-Arbeiter*innen, die in der Branchengewerkschaft „Fédération SUD Commerces et Services“ (Handel und Dienstleistungen) organisiert waren. Die Arbeitsniederlegungen, das Recht auf Dienstausfall, die Beanstandungsbriefe der eingeschalteten Arbeitsaufsichtsbehörde, die Briefe und Warnungen der Personalvertreter*innen haben dazu geführt, dass die Gewerkschaftsmitglieder innerhalb eines Monats eine Menge schriftlicher „Dokumente“ ansammeln konnten. „SUD Commerces et Services“ hat dann sofort die Rechtsanwält*innen der SUD-PTT eingeschaltet, die schon bei der Post so erfolgreich agiert hatten. Am 14. April 2020 verurteilte dann das Gericht von Paris-Nanterre per einstweiliger Verfügung die Aktiengesellschaft „Amazon France Logistique“ dazu, zusammen mit den Personalvertreter*innen eine Risikoabschätzung angesichts der Epidemie durchzuführen und innerhalb von 24 Stunden die Dienstleistungen auf unbedingt „systemrelevante“ Bereiche zu begrenzen, d.h. die Sicherstellung der Lebensmittelversorgung, der Produktion von Hygieneprodukten und von Medikamenten. Das Amazon-Management wollte unter keinen Umständen mit den Personalvertretungen verhandeln und ging in Reaktion auf die einstweilige Verfügung dazu über, die sechs französischen Logistikzentren zu schließen und gleichzeitig gegen das Urteil in Berufung zu gehen. Am 24. April bestätigte das Berufungsgericht von Versailles schließlich die Verurteilung Amazons dazu, die Risikoabschätzung zusammen mit den Arbeiter*innen-Vertreter*innen doch durchzuführen und die Dienstleistungen entsprechend zurückzufahren. Daraufhin hielt das Management die Schließung der sechs Logistikzentren aufrecht und verhandelte mit seinen Auftraggebern dahingehend, die Auslieferungen für ganz Frankreich über die Logistikzentren und Warenlager in anderen europäischen Ländern (Italien, Spanien, BRD, Polen) sowie über die Warenlager der Filialkette „Amazon Transport“, die vom Urteil nicht explizit betroffen war, laufen zu lassen. So entstand ein Kräftemessen zwischen den Amazon-Arbeiter*innen und dem Management, das vom 16. April bis zumindest dem 19. Mai (2) anhielt. Während dieser Zeitspanne konnten die französischen Amazon-Arbeiter*innen zu Hause bleiben, sich so vor dem Coronavirus schützen – und sie erhielten dabei gleichwohl 100% ihres Lohns.

Das Lauffeuer springt auf Renault und Cogepart/Carrefour über

Diese beeindruckenden Erfolge gegen Amazon France haben wiederum die Arbeiter*innen des Autobauers Renault inspiriert. Die dort stark organisierte Gewerkschaft CGT (Confédération Général du Travail; Allgemeine Arbeits-Föderation) (3) klagte vor dem Gericht von Le Havre, welches das Unternehmen dazu verurteilte, seine Fabrik in Sandouville zu schließen, in Zusammenarbeit mit der Personalvertretung eine Risikoabschätzung durchzuführen und entsprechende Schutzmaßnahmen umzusetzen. Diesmal trat sogar die Regierung auf den Plan, protestierte gegen die CGT und beschuldigte sie, die Wirtschaft und die Wiederaufnahme der Produktion zu „schwächen“. Denn in der Tat kam das Urteil von Le Havre genau zu dem Zeitpunkt, als die „Ausgangssperre“ Stück für Stück gelockert wurde und die Regierung einen Plan für den wirtschaftlichen Neustart veröffentlichte. Dafür hatte Renault einen besonderen Symbolgehalt: Im Gegensatz zu Amazon gilt Renault als die „Zierde“ der französischen Wirtschaft! Wer also Renault angreift, „vergreift“ sich an ganz Frankreich – so der offizielle Tenor! Und schlussendlich verurteilte ein Gericht in Lyon auch die Speditionsfirma „Cogepart“, welche die Bestellungen für die Filialen der Supermarktkette „Carrefour“ ausliefert, dazu, „die erheblichen Risiken für die physische Unversehrtheit der Arbeiter zu beenden“!

Trotz der erschwerten Bedingungen zeigen diese Beispiele der Gerichtsklagen in oftmaliger Verknüpfung mit Streikaktionen und Wutbekundungen der jeweils betroffenen Arbeiter*innen, dass es möglich ist, gegen die Unternehmer handlungsfähig zu werden. Natürlich bedarf der Gerichtsweg finanzieller Mittel – Zugang zu Firmendokumenten, Gelder zur Bezahlung der Anwält*innen –, weshalb es oft die Gewerkschaften sind, die vor Gericht ziehen. Doch durch diese Strategie sind mittlerweile Zehntausende von Arbeiter*innen aufgrund der verfügten Gerichtsurteile über mehrere Wochen hinweg vor dem Coronavirus „in Sicherheit“ gebracht worden. Streiks, Protestkundgebungen, die Veröffentlichung von Forderungen und ebenso eine mögliche Anrufung von Gerichten bleiben somit wirksame kollektive Aktionsmittel für die Arbeiter*innen!

Sylvain Alias,

Union Syndicale Solidaires Paris

Übersetzung, redaktionelle Vorbemerkung und Zwischenüberschriften: loma

Anmerkungen:

(1) SUD (Solidaires Unitaires Démocratiques): Die Branchengewerkschaften der SUD sind zusammengefasst in der Gewerkschaftsvereinigung „Union syndicale Solidaires“: Die SUD-Gewerkschaften entstanden Ende der 1980er-Jahre. Als erste SUD-Gewerkschaft wurde SUD PTT (für Post und Telekommunikation) unmittelbar nach einem Streik der Postbediensteten und dessen Koordinierung in der Pariser Region ins Leben gerufen; danach entstand SUD Santé Sociaux (für Berufe im Gesundheits- und Sozialsektor) im Anschluss an einen Streik der Krankenschwestern und dessen Koordinierung. 1995 wurde SUD Rail unmittelbar in der Folge des bedeutenden Generalstreiks der Eisenbahner*innen gegründet. Es sei dazu erwähnt, dass die ersten SUD-Gewerkschaftsgruppen, besonders bei der Post, aus der sozialdemokratischen Gewerkschaft CFDT (Confédération Française Démocratique du Travail) heraus entstanden, nachdem sie als „unerwünscht“ aus der CFDT ausgeschlossen worden waren. Seit 1998 haben sich die einzelnen SUD-Gewerkschaften innerhalb der „Union syndicale Solidaires“ vereinigt und sind meist als Föderationen im Privatsektor und im öffenlichen Sektor einer Branche aufgebaut. Die „Union syndicale Solidaires“ beteiligt sich darüberhinaus an der Bewegung für eine andere Globalisierung.

(2) Tag der Abfassung dieses Artikels.

(3) CGT (Confédération Générale du Travail): Die CGT wurde 1895 als Zusammenschluss mit der Föderation der Arbeiterbörsen (deren Funktionen damals die Arbeiterbildung und Stellenausschreibungen waren) gegründet. Die CGT ist die älteste aller französischer Gewerkschaften. Ein Teil der Geschichte des revolutionären Syndikalismus sowie des Anarchosyndikalismus ist mit der CGT verbunden. Die CGT ist heute sowohl im Privatsektor wie im öffentlichen Sektor aktiv. Sie beteiligt sich an sozialen Bewegungen und ist im Gegensatz zu rein reformistischen Gewerkschaften Teil der sogenannten „kämpfenden Gewerkschaften“. Lange Zeit war sie mit der PCF (Kommunistische Partei Frankreichs) organisatorisch verbunden; die Gewerkschaftsleitung hat diese Anbindung aber seit den 1990er-Jahren aufgegeben.