Abhijit Banerjee/Esther Duflo: Gute Ökonomie für harte Zeiten. Sechs Überlebensfragen und wie wir sie besser lösen können. Penguin 2020, 554 Seiten, 26 Euro, ISBN 978-3-641-25152-9
Aus dem Englischen von Thorsten Schmidt, Stephan Gebauer, Heike Schlatterer. Originaltitel: Good Economics for Hard Times. Originalverlag: Public Affairs
Volkswirtschaftliche Theorien sind gerade bei Anarchist*innen nicht besonders beliebt. Die liberalen Klassiker lassen sich, um es zugespitzt zu formulieren, gut und gern als Legitimation von Herrschaftsverhältnissen lesen, während die linken häufig nur Variationen von Marx bieten und dabei sowohl aktuelle Entwicklungen vernachlässigen als auch das herrschaftskritische Projekt ausschließlich auf ökonomische Verhältnisse reduzieren.
In letzter Zeit allerdings gibt es einige Ansätze, die das Ganze neu aufrollen. Wie das Wirtschaftsmagazin Forbes neulich bemerkte, sind es sehr häufig Frauen, die mit ihren volkswirtschaftlichen Analysen „out of the box“ denken. Eine davon ist die Französin Esther Duflo, die für ihre Forschungen voriges Jahr – als zweite Frau nach Elinor Ostrom – mit dem Alfred Nobel Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet wurde.
Zusammen mit ihrem Mann, dem Inder Abhijit V. Banerjee, führt sie vor allem empirische Forschungen zu globalen Entwicklungen in den verschiedensten Regionen der Welt durch. Ergebnisse haben die beiden jetzt in dem Buch „Gute Ökonomie für harte Zeiten“ zusammengeführt. Sie plädieren dafür, ohne ideologische Grabenkämpfe an das Thema heranzugehen, also volkswirtschaftlichen Theorien einerseits durchaus etwas zuzutrauen – in dem Sinn, dass sie hilfreich sein können, um politische Entscheidungen zu treffen – andererseits aber zu sehen, dass das wirkliche Leben nicht nur aus Wirtschaft besteht.
Ein wichtiges Thema ist dabei das von Migrationsbewegungen. Nach der klassischen Theorie des „Homo oeconomicus“ (1), also der Vorstellung, dass Menschen immer rational und nutzenorientiert handeln, folgen Arbeitskräfte dem Angebot an Arbeitsgelegenheiten. Duflo und Banerjee zeigen jedoch, dass das empirisch nicht zutrifft. Und zwar nicht nur, weil rassistische und nationalistische Politiken Migration behindern, zum Beispiel nach Europa oder in USA. Sondern weil Menschen normalerweise viel weniger mobil sind, als die Idee vom Homo oeconomicus suggeriert. Auch innerhalb von Ländern wie Indien oder den USA zieht nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung den besseren Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten hinterher. Deshalb plädieren Duflo und Banerjee eindringlich dafür, an lokalen Lösungen zu arbeiten, die Menschen erlauben, dort zu bleiben, wo sie sich wohlfühlen.
Ein anderer Punkt ist, dass viele klassische volkswirtschaftliche Theoreme sich empirisch als falsch erweisen. Wegen der Maxime „Was nichts kostet, ist auch nichts wert“ zum Beispiel hat man lange gezögert, Moskitonetze in Afrika kostenlos zu verteilen, mit dem Ergebnis, dass sie kaum Verwendung fanden. Denn selbst sehr niedrige Preise haben viele Menschen davon abgehalten, sie zu verwenden. Seit die Netze hingegen kostenlos verteilt werden, sank die Sterblichkeitsrate wegen Malaria um sagenhafte 75 Prozent.
Die Globalisierung bewerten Duflo und Banerjee zwiespältig. Einerseits habe sie die Situation der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung im Durchschnitt durchaus verbessert, sowohl in Bezug auf Einkommen – vor allem in China – als auch in Bezug auf Kindersterblichkeit, Alphabetisierung und ähnliche Faktoren. Die Lebensverhältnisse der nächsten 49 Prozent jedoch, zu denen fast alle Menschen in Europa und USA gehören, sind stagniert oder haben sich sogar leicht verschlechtert. Am meisten profitiert hat das wiederum oberste Prozent der Reichsten – sie allein haben 27 Prozent der Globalisierungsgewinne eingesteckt.
Das größte Problem liege deshalb nach Ansicht von Duflo/Banerjee darin, dass Globalisierungsgewinne nicht richtig verteilt werden. Deshalb schlagen sie für die meisten Länder ein bedingungsloses Grundeinkommen vor, das aus den Globalisierungsgewinnen finanziert wird – als einfache, transparente und praktikable Möglichkeit, alle Menschen mit einem Existenzminimum an Kaufkraft auszustatten. In den Industrieländern hingegen halten sie das nicht für ausreichend, da hier nicht nur das Einkommen, sondern auch soziale Zugehörigkeit stark am Arbeitsplatz hängen.
Ein lesenswertes Buch, das zeigt, wie stark wirtschaftliche Dynamiken mit kulturellen und gesellschaftlichen Prozessen verwoben sind.
Anmerkung: 1) Der Homo oeconomicus (lateinisch homō oeconomicus ‚Wirtschaftsmensch‘), auch rationaler Agent genannt, ist in der Wirtschaftswissenschaft und Spieltheorie das theoretische Modell eines Nutzenmaximierers. Anm. d. GWR-Red.: Eine Rezension von Kerstin Wilhelms-Zywocki zu Antje Schrupps neuem Buch „Schwangerwerdenkönnen: Essay über Körper, Geschlecht und Politik“ (Ulrike Helmer Verlag) erscheint voraussichtlich in der GWR 454.