Am 11. Oktober auf der Frankfurter Buchmesse hielt der bekannte Schriftsteller Martin Walser seine Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels. Die versammelte neue Staatsführung klatschte, nur ein erschütterter Ignatz Bubis, Präsident des Zentralrats der Juden Deutschlands, sank sichtbar in sich zusammen. Am 9. November holte Bubis in der Synagoge der Jüdischen Gemeinde in Berlin anläßlich der offiziellen Gedenkfeiern zur Reichspogromnacht zur emotionalen Antwort aus, nannte Martin Walser einen "geistigen Brandstifter" und kritisierte eine von Walser legitimierte "Kultur des Wegschauens und Vergessenwollens". (Red.)
Ignatz Bubis, von Beobachtern als zunehmend resigniert beschrieben (z.B. Berliner Zeitung, 9.11.98), durchbrach das Harmoniegebot bei solchen Veranstaltungen und setzte sich mit seiner ganzen emotionalen Empörung gegen Walsers intellektuellen Nationalismus ein. Doch im Gegensatz etwa zur Rede des Bundestagspräsidenten Jenninger vor 10 Jahren blieb Bubis mit seiner Empörung allein, von wenigen unterstützenden Stimmen abgesehen. Und auch der Bundespräsident stellte sich nicht mehr – wie noch beim Historikerstreit der 80er Jahre – hinter diejenigen wie damals Habermas, die einer Schlußstrichmentalität und Einordnung von „Auschwitz“ in geschichtlich zu vergleichende Phänomene, aber ohne Gegenwartsbedeutung (Historisierung), offen und deutlich widersprachen. In der Berliner Synagoge sah sich Herzog eher in der Rolle des versöhnlerischen Vermittlers zwischen Walser und Bubis denn als jemand, der sich da auf eine Seite zu stellen habe: so warnte Herzog vor einer angeblichen „Abstumpfung durch Überdosierung der Erinnerung an das Grauen“ (nach dpa, 9.11.), die bei den Jugendlichen sichtbar werde. Und ganz der „unverkrampfte“ Staatsmann stellte er gleich noch die Frage, „ob wir die rechten Formen des Erinnerns für die Zukunft schon gefunden haben“?
Bubis dagegen beklagte in öffentlichen Stellungnahmen den zunehmenden Antisemitismus: in Deutschland seien bereits 30 Prozent der BürgerInnen latent antisemitisch eingestellt – soviel wie in anderen Ländern Europas auch, aber das sei anders zu bewerten -, unter den Jugendlichen hätten zum Beispiel in Sachsen-Anhalt von deren männlicher Hälfte 32 Prozent rechtsextrem gewählt (im Alter zwischen 18 und 25, vgl. BZ, 9.11.).
Walsers Rede
Ist diese Diagnose von einem Driften nach Rechts, von einem nationalistischen Schwenk im offiziellen Erinnerungsdiskurs nicht überzogen? Ist der Vergleich mit Jenninger und die kritisierte unterschiedliche Rezeption von Walsers Rede nicht deplaziert? Lesen wir Walser selbst:
Zunächst wird von Walser die Regierung bei ihrer Asylrechtsverschärfung 1992/3 reingewaschen. Gegen die Kritik eines von Walser nicht namentlich genannten Intellektuellen sperrt er sich, die damaligen Reaktionen von „Regierung, Staatsapparat, Parteienführung“ auf den Rassismus der Stammtische als „moralisch-politisch“ verwahrlost zu bezeichnen. Weiter fragt sich Walser bei seiner Intellektuellenkritik: „Warum werde ich von der Empörung, die dem Denker einen solchen Satzanfang gebietet, nicht mobilisiert: ‘Wenn die sympathisierende Bevölkerung vor brennenden Asylantenheimen Würstchenbuden aufstellt …’ (…) Meine nichts als triviale Reaktion auf solche schmerzhaften Sätze: Hoffentlich stimmts nicht, was uns da so kraß gesagt wird. Und um mich vollends zu entblößen: Ich kann diese Schmerz erzeugenden Sätze, die ich weder unterstützen noch bestreiten kann, einfach nicht glauben. Es geht sozusagen über meine moralisch-politische Phantasie hinaus, das, was da gesagt wird, für wahr zu halten.“
Ob in Hoyerswerda, Rostock, Schönau, Dolgenbrodt, Gollwitz oder anderswo bei den Pogromen der 90er Jahre, die von der örtlichen Bevölkerung klatschend oder mit Geldmitteln unterstützt oder sogar in Auftrag gegeben wurden, tatsächlich auch „Würstchenbuden“ aufgestellt wurden, entzieht sich meiner Kenntnis; der Zynismus der sympathisierenden Bevölkerung wird durch diese Beschreibung aber gut getroffen – und tatsächlich ist ja oftmals weit Schlimmeres passiert als nur die Verpflegung der Rechtsextremen (und selbst diese war ja weitaus öfter unentgeltlich denn kommerziell oder zum eigenen Profit!). Es ist ungeheuerlich, die Dimension des zeitgenössischen Rassismus zu bestreiten, wie Walser das tut. Bubis’ Vorwurf, einer „Kultur des Wegschauens“ das Wort zu reden, trifft m.E. auf solche Formulierungen Walsers eindeutig zu.
Walser weiter zur Erinnerung an die Shoa: „Jeder kennt unsere geschichtliche Last, die unvergängliche Schande, kein Tag, an dem sie uns nicht vorgehalten wird. Könnte es sein, daß die Intellektuellen, die sie uns vorhalten, dadurch daß sie uns die Schande vorhalten, eine Sekunde lang der Illusion verfallen, sie hätten sich, weil sie wieder im grausamen Erinnerungsdienst gearbeitet haben, ein wenig entschuldigt, seien für einen Augenblick sogar näher bei den Opfern als bei den Tätern?“
Man/frau könnte hier kurz darüber sinnieren, welche Intellektuellen Walser denn noch meinen könnte, wo doch Dramatiker wie Botho Strauß ihre „Bocksgesänge“ anschwellen lassen, Ernst Nolte in der HistorikerInnenzunft zunehmend wieder an Boden gewinnt, Lothar-Günther Buchheim seine U-Boot-Kriegsromantik ein ums andere Mal als literarischen oder filmischen Megaseller unters Volk bringt (vgl. GWR 216 (1) und 225) oder Heidegger an deutschen Philosophie-Fakultäten seine Renaissance erfährt (vgl. GWR 232)? Sicher gibt es die zur Erinnerung fähigen Intellektuellen noch, doch ob sie noch die kulturelle „Hegemonie“ (Gramsci) besitzen? Weit wichtiger jedoch scheint es mir, einmal innezuhalten und die politische Bedeutung einer Begrifflichkeit zu ermessen, die von der Erinnerung an den nationalsozialistischen Terror als einem „grausamen Erinnerungsdienst“ spricht. Und dazu berief sich Walser als Antwort auf Bubis’ Kritik tatsächlich auf seine angeblich so sensible Wortwahl! Allein die Verwendung des Attributs „grausam“ in einem solchen Zusammenhang ist ungeheuerlich: wer wurde denn „grausam“ ermordet? Und welche Gewalt erfahren denn im Gegensatz dazu diejenigen, denen „jeden Tag“ ihre Schande, die sie immerzu nur persönlich nehmen, im „grausamen Erinnerungsdienst“ vorgehalten wird? Wenn sie am 9.11. diesen „Dienst“ nicht in Anspruch nehmen wollen, brauchen sie nur mal einen Tag keine Zeitung zu lesen und auch – soll ja ganz erholsam sein – mal einen Tag keinen Fernseher einzuschalten und zum Beispiel den ganzen Tag spazierenzugehen: schon entgehen sie der ganzen Grausamkeit!
Walser am Ende seiner Rede: „Auschwitz eignet sich nicht dafür Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbare Moralkeule oder auch nur Pflichtübung. (…) Wahrscheinlich gibt es auch eine Banalität des Guten.“ (alle Zitate aus taz-Doku, 12.10.98)
Die offiziellen Gedenkfeiern sind keine Geste des Staates an sich, sie sind eine staatlich-integrationistische Reaktion auf eine gesellschaftliche Kultur des Gedenkens an die Shoah, die eigentlich erst in den späten 70er Jahren einsetzte und noch Mitte der 80er nicht fähig war, die Versöhnung über den SS-Gräbern von Bitburg zu verhindern. Also sollte Walser mal halblang machen: das Gedenken ist keineswegs verordnet, sondern freiwillig und findet in dieser freiwilligen Form auch in Veranstaltungen unzähliger Initiativen in vielen Städten statt. Wenn dafür bestimmte Daten wie etwa der 9.11., aber auch der 27.1. – und das Datum der Befreiung von Auschwitz ist ja viel weniger regierungsoffiziell besetzt – genommen werden, dann ist ihre jährliche Wiederkehr keine Ritualisierung, sondern Anlaß zu einer freiwilligen Erinnerungsarbeit, der sich nach wie vor jede Person entziehen kann. Allerdings gibt es einen öffentlichen Kampf um die „Political Correctness“, nach welcher sich bisher KritikerInnen des Gedenkens rechtfertigen mußten und nicht ihre BefürworterInnen. Genau das beginnt sich nun umzudrehen und spielt der Renaissance von Nationalismus und Rassismus in die Hände. Den gewaltlosen moralischen Druck, sich mit den Verbrechen der Vergangenheit zu beschäftigen, auf daß sie in der Gegenwart und in der Zukunft nicht wieder geschehen, als „Moralkeule“ zu bezeichnen, ist diffamierend: gerade der moralische Druck ist keine „Keule“, wer sich ihm nicht beugt, wird weder strafrechtlich belangt noch gewaltsam behandelt. Es ist allerdings Aberglauben und gefährliche Illusion anzunehmen, daß gerade Walsers Weigerung hinzuschauen die Verbreitung rechtsextremer Gewalt behindern würde. Eher das Gegenteil ist der Fall. Und die letzte Ungeheuerlichkeit Walsers: Hannah Arendts Diktum von der „Banalität des Bösen“, d.h. ihre Charakterisierung der TäterInnen als normale Menschen und keineswegs als außergewöhnliche Bestien in Menschengestalt, umzudrehen und als „Banalität des Guten“ mit denjenigen zu vergleichen, die Erinnerungsarbeit leisten, sollte auch allen zu denken geben, die die Nützlichkeit des Idealismus im antifaschistischen Kampf bezweifeln (2).
Ein Seminar der Böll-Stiftung zur Bewältigung: Moral contra Realpolitik
Aus Potsdam berichtet die taz, die neue Regierungszeitung, von einem wissenschaftlichen Seminar der Böll-Stiftung, der neuen Regierungsstiftung, über west- und ostdeutsche Vergangenheitsbewältigung (vgl. taz, 9.11., S.7). Berichterstatter Stefan Reinecke schreibt vom Freiburger Historiker Ulrich Herbert, dieser bezeichne die westdeutsche frühe Republikgeschichte, daß Nazieliten in der Demokratie schnell wieder in Führungspositionen rutschten, zwar als Skandal, doch interessanter sei ihm die Frage, wie aus der von postfaschistischen Nazis dominierten Republik eine „offene, liberale Gesellschaft entstehen“ konnte? Um eine Antwort seien die Historiker nicht verlegen, so berichtet Reinecke:
„Die Integration der Nazielite geschah mit Druck und Angeboten, die das Neue attraktiv machten. (…) Und später in den 60ern, so Herbert, habe der linksliberale Enthüllungsjournalismus disziplinierend auf die Ex-Nazis gewirkt. Die Angst, enttarnt zu werden, schüchterte ein. Herbert zeichnete ein Bild der westdeutschen Geschichtsverarbeitung voller Widersprüchlichkeiten und Paradoxen (sic!, d.A.). So sei manch NS-belasteter Polizist in der neuen Republik weniger martialisch aufgetreten, um keinen Verdacht zu erwecken: ein ‘Lob des Nebenwiderspruchs’. Insgesamt, so das Resümee, war die Integration der NS-Eliten ‘eine unmoralische Politik, die funktioniert hat’. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam Micha Brumlik, der die bundesrepublikanische Politik gegenüber Israel beleuchtete. Die konservativen deutschen Regierungen von Adenauer bis Kohl hätten Israel gegenüber Realpolitik betrieben: Man tat, was dem nationalen deutschen Interesse nutzte. Moral spielte dabei keine Rolle, allenfalls war ein ‘klassischer Philosemitismus’ im Spiel. Diese Pro-Israel-Haltung der Rechten sei gewiß eine ‘Externalisierung von Schuld’ gewesen, so Brumlik. Trotzdem hat Israel gerade diese Politik, die Geld und Waffen aus Westdeutschland brachte, genutzt. Dieser Befund war gewissermaßen spiegelbildlich zu Herberts Analyse der Nazi-Integration. Ein Lob der Realpolitik.“
Wie jämmerlich dagegen „die Linke“, die im Westen selbstredend nicht in staatstragende (SPD) und staatskritische unterteilt wird: sie verstrickte sich komplett im moralisierenden Antisemitismus. Schlimmer noch im Osten: da wurde die „Moral“ – mit nichts anderem umschreibt Reinecke den „gußeisernen Antifaschismus“ – zur Staatsraison. Und so kommt es logisch: „Die moralische, antifaschistische DDR-Geschichtspolitik endete als repressive Staatsideologie – die bigotte, doppelmoralische Bundesrepublik als offene Demokratie.“ Es lebe die bürgerliche Doppelmoral – Ex-Nazis an der Macht, konsequente Verfolgung nationaler Interessen und deutsche Waffenexporte sind die wahre Schlußfolgerung aus Auschwitz!
Wer den linken Antisemitismus zu Recht kritisiert, muß das aber auch bei der Rechten tun: Die „Kultur des Wegschauens“ und Verdrängens in der Adenauer-Ära war auch deren Politik, die sich dann in einer Mentalität des „Freikaufens“ – übrigens schon mit der Intention, irgendwann zu sagen, jetzt ist aber genug bezahlt! – äußerte. Wie nahe hier sogar jemand wie der grüne Publizist Micha Brumlik den politischen Implikationen Walsers kommt, ist erschreckend. So sieht die realpolitische Umsetzung des Walserschen intellektuellen Nationalismus, seinem inneren Sich-Wehren gegen die „Moralkeule“ aus: im Jubel auf die Realpolitik, in der geschichtsklitternden Verharmlosung all dessen, was nationalsozialistische Kontinuität in der West-BRD war und was durch den moralisierenden Erinnerungsdiskurs, der ja gerade keine etatistischen oder gewaltsamen Sanktionsmöglichkeiten hatte, erst später mühsam aufgebrochen werden mußte. Dabei gehörte gerade Brumlik zu den wenigen, die im Oktober noch gegen Walsers Rede öffentlich Stellung bezogen hatten: Walser sei unfähig, zwischen individueller Schuld und kollektiver Scham zu unterscheiden und daher nur zu individuellem Gedenken bereit. Auch daß Walser das geplante Holocaust-Mahnmal in Berlin als „Monumentalisierung der Schande“ bezeichnet hatte, hatte Brumlik kritisiert (taz, 15.10., S.12). Angesichts der Ungeheuerlichkeiten Walsers regte sich im Realpolitiker Brumlik das moralpolitische Gewissen, doch in der Adenauer- Ära war die Fähigkeit zum öffentlichen Ausdruck kollektiver Scham so wenig entwickelt wie bei Walser heute.
Und daß der staatliche Antifaschismus der DDR „moralisch“ gewesen sei, wie Reinecke in seinem Bericht über das Böll-Stiftungsseminar schreibt, ist lächerlich: er war völlig rational begründet, ein Ausdruck klassenkämpferischer Dialektik und des wissenschaftlichen Sozialismus, gerade frei von jeder Moral, die komplett als „bürgerlich“ desavouiert war – auch hier eine Geschichtsklitterung des intellektuellen Nationalismus sondergleichen.
Aber Reinecke kann uns trösten, er ist sich tatsächlich nicht zu blöde, in der taz zu schreiben: „Immerhin hat es sich Joschka Fischer zur Aufgabe gemacht, Moral und Realpolitik in der rot-grünen Außenpolitik zu versöhnen.“ Na denn, Prost!!!
(1) zur Information für unsere LeserInnen: die Beleidigungsklage Buchheims gegen die Graswurzelrevolution wurde nach Beschlagnahmung des Originalschriftsatzes durch die Staatsanwaltschaft nicht mehr weiterverfolgt. Das Verfahren ist inzwischen verjährt.
(2) vgl. die Diskussion um Idealismus und Nationalsozialismus in den vorhergehenden und in dieser Nummer der GWR.