Der russische Schriftsteller Leo Tolstoi (1828–1910) stellt in einer im Jahr 1894 in deutscher Übersetzung erschienenen Schrift die Frage, „ob es löblich, ob es eines Menschen würdig ist, (…) sich damit zu beschäftigen, (…) unglückliche, verirrte, meist gänzlich unwissende, betrunkene Menschen einzufangen, weil sie sich fremdes Eigentum in viel geringerem Maße aneignen, als wir uns aneignen, (…) und sie dafür ins Gefängnis zu werfen“. (1) Für Tolstoi steht die Antwort fest: „Warum soll ich hingehen, an den Gerichten teilnehmen, an den Strafen (…) der Menschen für ihre Verirrung, während ich doch weiß, (…) wenn ich ein gebildeter Mensch bin, daß die Strafe die Menschen, die von ihnen betroffen werden, nicht besser, sondern schlechter macht.“ (2) Tolstoi kritisiert „die vervollkommnete Methode, Menschen (…) auf immer in die Einsamkeit des Gefängnisses zu stoßen, wo sie vor Menschen verborgen zu Grunde gehen und vergessen werden“. (3) Er ist der Überzeugung, dass man sie „nicht strafen, sondern bessern müßte“ (4) und betont „die Sinnlosigkeit der Verhängung von Strafen (…) in der Gestalt der Einschließung ins Gefängnis“ (5), denn „weder Vergrößerung noch Verminderung der Strenge der Strafen, noch die Veränderung der Gefängnisse (…) haben je die Zahl der Verbrechen vermindert oder vergrößert“ (6). Daher lehnt Tolstoi alle „grausamen Strafmethoden“ (7), zu denen er die Gefängnisstrafen zählt, grundlegend ab. Diese Reflexionen Tolstois sind meines Erachtens auch über ein Jahrhundert nach ihrer Publikation immer noch aktuell, da sie uns daran erinnern, dass die Existenz von Gefängnissen keinem Naturgesetz, sondern staatlicher Autorität entspringt und daher keineswegs alternativlos ist. Genau zehn Jahre vor der Publikation der genannten Schrift von Tolstoi hat Friedrich Engels (1820–1895) – dessen 200. Geburtstag wir in Kürze begehen werden – sein Werk „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“ veröffentlicht, in dem er für die prästaatlichen „Gentilgesellschaften“ radikaldemokratische, partizipative Konfliktlösungsstrategien, ganz ohne Gefängnisse, beschreibt: „Ohne (…) Polizisten, ohne (…) Richter, ohne Gefängnisse, ohne Prozesse geht alles seinen geregelten Gang. Allen Zank und Streit entscheidet die Gesamtheit derer, die es angeht (…).“ (8) Die Ausführungen Tolstois und Engels könnten uns zum Anlass dienen, die Notwendigkeit oder Sinnhaftigkeit von Gefängnisstrafen einer kritischen Analyse zu unterziehen und über mögliche Alternativen nachzudenken…
(1) Leo N. Tolstoj: „Das Reich Gottes ist in Euch oder Das Christentum als eine neue Lebensauffassung, nicht als mystische Lehre“. Vom Verfasser autorisirte Uebersetzung von R. Löwenfeld, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, Leipzig, Berlin, Wien 1894, S. 288.
(2) Ebd., S. 310.
(3) Ebd., S. 275.
(4) Ebd., S. 168.
(5) Ebd., S. 272.
(6) Ebd., S. 364.
(7) Ebd., S. 256.
(8) Friedrich Engels: „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“, in: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke (MEW), Band 21, Dietz Verlag Berlin 1962, S. 25–173, hier: S. 95–96.