115 Jahre nach Gründung der „Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene“ durch den Rassenhygieniker und Gründer der deutschen Eugenik Alfred Ploetz (1) sorgte im September 2019 der Gesetzentwurf von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) zur Intensivpflege für scharfe Kritik. Er weckt zu Recht Erinnerungen an die jüngere deutsche Geschichte.
Behinderte Menschen, die auf Fremdbeatmung angewiesen sind, werden im Sinne der kapitalistischen Verwertungs-Logik durch das Gesetz entrechtet. Sie verlieren ihr Anrecht auf ein selbstbestimmtes Leben. Zur Kosteneinsparung sollen sie in Heimen untergebracht werden, denn die ambulante Betreuung sei zu kostenintensiv und unsicher durch unqualifiziertes Intensiv-Pflegepersonal in ambulanten Pflegediensten, so behauptet Spahn.
Weite Teile der Gesellschaft empören sich zu Recht laut über die Kälte und Unmenschlichkeit des Gesundheitsministers und der Regierung. Die entfachten Diskussionen über die Lebensqualität von Menschen mit Behinderungen sorgten nicht nur für mehr Sichtbarkeit der Alltags- und strukturellen Behindertenfeindlichkeit. Auch sich als humanistisch verstehende Teile der Gesellschaft sehen ihre Zeit gekommen, eugenische Weltbilder offen auszusprechen. Oft harmlos daherkommend, mit sanft anmutendem Bedauern über das Schicksal der Behinderten. Die in ihren Augen angeblich von Natur aus mit einem schwachen Immunsystem ausgestattet sind, deren Leid oftmals durch die moderne Medizin nur unnötig verlängert wird. Andere hingegen sprechen von kranken Menschen nur als Kostenfaktor.
Das Leid und die Entmenschlichung von behinderten Menschen, welches lange vor der Christianisierung begann, gipfelten in einer kaum in Worte zu fassenden Grausamkeit der NS-Eugenik. Psychisch Kranke, geistig und körperlich behinderte Menschen wurden in Heil- und anderen Pflegeanstalten untergebracht. Dort wurden sie gequält, zu Tode gehungert und für medizinische Experimente missbraucht. Auch Kinder, die das Down-Syndrom hatten, Autist:innen und alle, die laut NS-Ideologie nicht der „Reinhaltung der arischen Rasse für einen gesunden Volkskörper“ dienten, wurden auch als menschliches Versuchsmaterial zur Vorbereitung des industriellen Massenmordes, der Shoa, missbraucht.
Mit dem Tod endete das Leid der Opfer nicht. Ihre Organe wurden zu Forschungszwecken entnommen. Zu den bekanntesten Rassehygiene-Ideologen gehörte der NS-Verbrecher und Hirnforscher Julius Hallervorden (2), der von 1949 an als Abteilungsleiter am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Gießen tätig war. Über seine Forschungen in der NS-Zeit äußerte sich Hallervorden, der seine Verbrechen bis zum Tode leugnete, wie folgt: „Es war wunderbares Material unter diesen Gehirnen, Schwachsinnige, Mißbildungen und frühe Kinderkrankheiten.“ Im Hirnforschungsinstitut Frankfurt wurde an den entnommenen Gehirnen der NS-Eugenik- und Euthanasieopfer weiter geforscht. Beerdigt wurden die Gehirne der Opfer erst 1990 in München. (3)
Hallervorden, der 1956 das große Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen hat, wurde 1960 zum Ehrenmitglied der Leopoldina (4) ernannt. Die Leopoldina steht seit 2008 unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten. ‚Nur‘ 72 Jahre nach 1945 sah sich die Justus-Liebig Universität in Gießen in der Lage, dem NS-Verbrecher Hallervorden, der nie bestraft wurde, posthum die verliehene Ehrendoktorwürde der Universität abzuerkennen.
Ein weiteres Ehrenmitglied der Leopoldina, Dr. med. Alfred Ploetz, der den Begriff Rassenhygiene prägte und der als Gründer der deutschen Eugenik gilt, wird bis in die Gegenwart als ‚geschätzter‘ Wissenschaftler verehrt. Ploetz, der sich in seiner frühen Zeit mit sozialistischen Weltbildern identifizierte und Jahrzehnte vor der Machtübernahme der NSDAP die Grundlagen für die NS-Eugenik und Rassenhygiene schuf, wurde ein glühender Verehrer von Adolf Hitler.
Bis in das Jahr 1992 wurden in der BRD jährlich ca. 1.000 geistig behinderte Mädchen zwangssterilisiert. Erst mit Änderung des Betreuungsgesetzes im selben Jahr endeten die massenhaften Zwangssterilisationen. Wer meint, dass damit die NS-Eugenik der Nachkriegszeit gebrochen wurde, täuscht sich. Das NS-Bild über behinderte Menschen und der ‚Wertigkeit‘ ihrer Leben hat sich tief im kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft eingebrannt. Ihnen werden zusätzlich zu den nicht vorhandenen Fähigkeiten auch andere Fähigkeiten, die sie haben, abgesprochen. Dies äußert sich unter anderem im Ableismus.
Eugenische und rassistische Weltbilder sind auch innerhalb der Linken zu finden. Schon 1997 schrieb Jutta Ditfurth (5) über die historischen Verschmelzungen dieser Ideologien mit der Arbeiter:innen-Bewegung: „Was der Bürger zuvor z. B. durch den Adel an intraeuropäischem Rassismus auch am eigenen Leibe verspürt hatte, wandte er schließlich, als er nach und durch die Französische Revolution von 1789 herrschende Klasse wurde, gegen die von ihm unterdrückte Klasse der Lohnarbeitsabhängigen an und entwickelte den Rassismus ‚wissenschaftlich‘. Die Arbeiter verdankten ihre elende Lage, so hieß es, den erblichen Defekten ihrer Körper und ihres Geistes. Die autoritäre, staatsfixierte, reformistische und ökonomistische Mehrheit der Arbeiterbewegung übernahm dieses biologistische und rassistische Bild vom Menschen.“
Bis heute hat die Kritik leider nichts an Aktualität verloren. Im Gegenteil, durch die gesamtgesellschaftliche Verschiebung nach rechts brechen die Eugenik und die Rassenlehre unter der brodelnden Oberfläche der Faschisierung hervor.
(1) Bernhard vom Brocke: Bevölkerungswissenschaft – Quo vadis? Möglichkeiten und Probleme einer Geschichte der Bevölkerungswissenschaft in Deutschland. Leske + Budrich, Opladen 1998, ISBN 3-8100-2070-2, S. 436.
(2) https://de.wikipedia.org/wiki/Julius_Hallervorden.
(3) USHMM United State Holocaust Memorial Museum.
(4) https://www.leopoldina.org/leopoldina-home/.
(5) Jutta Ditfurth 1997, https://jungle.world/artikel/1997/43/es-lebe-der-fortschritt-und-alles-was-beine-hat.
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.