Hannah Brinkmann, Gegen mein Gewissen, Graphic Novel, avant-Verlag, Berlin, November 2020, 232 Seiten, 30 Euro, ISBN 978-3-96445-040-1
Ende der 1960er Jahre stieg die Zahl der Anträge zur Kriegsdienstverweigerung deutlich an. 1966 waren es noch 4.431, zehn Jahre später waren es bereits 40.618. Die Studentenbewegung und die Proteste gegen den Vietnamkrieg waren wesentliche Gründe für viele junge Männer, nun ihre Kriegsdienstverweigerung zu erklären. Sie hatten, wie Hermann Brinkmann, ein Prüfungsverfahren vor einem Ausschuss zu durchlaufen, das im Kreiswehrersatzamt stattfand. Vorsitzender war ein Jurist der Bundeswehrverwaltung. Das Prüfungsverfahren unterlag also dem Militär. Und das spiegelt sich auch bei den Anerkennungszahlen wider. 1973, das Jahr, in dem Hermann Brinkmann abgelehnt wurde, wurde nicht einmal die Hälfte der Antragsteller anerkannt. Wenn Kriegsdienstverweigerer auch im zweiten Verfahren abgelehnt wurden, mussten sie zum Militär gehen, ungeachtet dessen, dass ihnen noch ein drittes Verfahren vor einem Zivilgericht zur Verfügung stand. (1)
Im Prüfungsverfahren zeigte sich damit ein entscheidender Makel des Grundgesetzartikels 4, Absatz 3. Dort steht: „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“ Die Formulierung der Gewissensklausel stieß schon vor seiner Aufnahme in das Grundgesetz auf starke Kritik, da sie den juristisch unbestimmten und nach häufiger Ansicht auch unbestimmbaren Begriff des Gewissens zu einem Kriterium für die Wahrnehmung eines Grundrechts macht. Sie führt zur Beweislastumkehr. Der Kriegsdienstverweigerer hatte also eine echte Gewissensnot zu beweisen, zumindest glaubhaft zu machen. (2) Und das sollte auch noch vor einem Ausschuss geschehen, der der Bundeswehr unterstand. Das konnte nicht gutgehen.
Der Suizid von Hermann Brinkmann – und die Veröffentlichung seiner verzweifelten Situation durch eine Todesanzeige am 23. Januar 1974 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – setzte damals ein Fanal. Es war die Zeit der sozialliberalen Koalition. Diese legte eine Neuregelung des Anerkennungsverfahrens vor, bei dem es ausreichte, eine Postkarte mit seiner Kriegsdienstverweigerung an das Kreiswehrersatzamt zu schreiben. Diese Regelung wurde allerdings wenige Monate später vom Bundesverfassungsgericht gekippt. Das Prüfungsverfahren wurde erst 1984 für Erstantragsteller auf ein schriftliches Verfahren umgestellt. Die Gewissensprüfung blieb im Grundsatz auch danach noch bestehen.
Mit der Aussetzung der Wehrpflicht 2011 scheint diese Frage deutlich an Relevanz verloren zu haben. Aber auch heute gibt es die Gewissensprüfung. Da sich auch Soldaten und Soldatinnen auf den Artikel 4 Absatz 3 des Grundgesetzes berufen und einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung stellen können, werden weiter mündliche Verfahren durchgeführt. Nur die Hälfte der Antragsteller*innen wird anerkannt. Die andere Hälfte wird also in ähnliche Gewissensnöte gebracht, wie viele Tausend Kriegsdienstverweigerer in den Jahrzehnten zuvor. Und hier muss gesagt werden: Jede und jeder Einzelne zählt.
Eine internationale Dimension
Anfang der 1970er ging es in der politischen Auseinandersetzung um den Vietnamkrieg. Im Buch verweist auch Hermann Brinkmann auf dies Motiv. 1973 hatten sich etwa 600.000 in den USA dem Kriegsdienst in Vietnam entzogen. 50.000 bis 90.000 flohen nach Kanada, Frankreich oder Schweden. (3) Es war in der politischen Linken in Deutschland eines der zentralen Themen. Heute scheint auch das weit weg zu sein, dabei ist die Frage der Kriegsdienstverweigerung und Desertion eine der Hauptgründe für die Flucht von Tausenden zum Beispiel aus Syrien oder Eritrea. Sie kommen auch aus anderen Ländern, die nach wie vor Kriegsdienstverweigerer und Kriegsdienstverweigerinnen nicht anerkennen. Beispiele dafür sind die Türkei, die Ukraine, Aserbaidschan, Ägypten oder Algerien. Die Verweigerer und Verweigerinnnen suchen Schutz vor Verfolgung, vor Folter, Haft und Zwangsarbeit angesichts von Regimen und Regierungen, die unbedingten Gehorsam von ihren Untertanen fordern und jede Abweichung mit aller Schärfe verfolgen.
Und hier passiert etwas Verblüffendes. Obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Kriegsdienstverweigerung 2011 als Menschenrecht anerkannt hat, (4) sehen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und deutsche Gerichte die Verfolgung wegen Kriegsdienstverweigerung nicht als Asylgrund an. Sie billigen allen Staaten das Recht zu, die Wehrpflicht durchzusetzen. Und für einen flüchtlingsrechtlichen Status sei die Frage, ob ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung vorliegt oder auch wie restriktiv es im jeweiligen Land gehandhabt wird, nicht relevant. Wer abgelehnt wird, dem droht die Abschiebung an die Kriegsherren, die Rekrutierung und der Einsatz im Krieg. (5)
Eine Geschichte, die Geschichte aufzeigt
Hannah Brinkmann stellt uns in diesem Buch eine sehr persönliche Geschichte vor. Ihr Onkel Hermann wäre heute, im Jahr 2020, 65 Jahre alt geworden. Er scheiterte an einer Hürde, die für viele unüberwindbar schien: Eine gesellschaftlich stabil verankerte Mentalität, die Militär, Wehrpflicht und Kriegsdienst über das Wohl der einzelnen Bürger stellte. Er scheiterte an einer Kontinuität, die viele ehemalige NS-Militärs und NS-Juristen an entscheidende Positionen in der Bundesrepublik Deutschland brachte. Und an einer Kontinuität, die dem Militär, der Bundeswehr, auch die Macht gab, über Schicksale zu entscheiden. Die Mentalität hat immer noch Bestand, konnte aber über die Jahrzehnte, über die Auseinandersetzung um die Kriegsdienstverweigerung, um Wehrpflicht, um Deserteursdenkmäler oder auch über die Auseinandersetzung über die Desertion im Zweiten Weltkrieg aufgebrochen werden.
„Sehr berührend“, „eindrucksvoll“ oder auch „beeindruckend“, das sind spontane Kommentare von Menschen, die diese Graphic Novel, diese grafische Erzählung, vorab gesehen haben. Und in der Tat schafft die Verbindung von Bildern, von Zeichnungen, mit dem Text eine neue Erzählebene, die die Geschichte, Dramatik und Verzweiflung von Hermann Brinkmann sehr anschaulich macht. Hier wird Geschichte erlebbar und durch den persönlichen Bezug geradezu erfahrbar. Ich wünsche Hannah Brinkmann sehr, dass ihr Buch die notwendige und gebührende Aufmerksamkeit erfährt.
(1) Alle Zahlen nach Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerung, http://www.zentralstelle-kdv.de/z.php?ID=119
(2) https://de.wikipedia.org/wiki/Kriegsdienstverweigerung_in_Deutschland
(3) Vgl. Dieter Brünn: Widerstand in der US-Armee. Harald-Kater-Verlag, Berlin 2003
(4) Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, 7. Juli 2011. Bayatyan vs Armenia, 23459/03, www.connection-ev.org/article-1411
(5) Ausführlicher dazu unter www.connection-ev.org/article-1966
Rudi Friedrich ist Mitarbeiter von Connection e.V., einem Verein, der seit mehr als 25 Jahren Kriegsdienstverweigerer und Deserteure weltweit unterstützt. Connection e.V. erhielt 1996 den Aachener Friedenspreis, 2001 den Siegmund-Schultze Förderpreis und 2009 den Förderpreis der Martin-Niemöller-Stiftung.