Am 3. Dezember 2020 hat in Hamburg der Pilotprozess im so genannten Rondenbarg-Komplex begonnen – dem größten Verfahren wegen der Anti-G20-Proteste im Juli 2017 in Hamburg. Bisher über 80 Menschen haben Anklageschriften in diesem Zusammenhang bekommen
Die gigantischen Prozesse – allein das Jugendverfahren umfasste anfangs 19 Angeklagte – sind jedoch ohnehin zu unhandlich und unter Pandemiebedingungen schlichtweg undenkbar. Im Sommer 2020 entschied das Gericht, ein Pilotverfahren gegen die fünf jüngsten Gipfelgegner*innen abzutrennen, die bei der Demonstration alle noch unter 18 Jahre alt waren. Mithilfe des Jugendstrafrechts kann die Justiz „zum Schutz der Angeklagten“ die kritische Öffentlichkeit und solidarische Unterstützer*innen aussperren.
Der Rondenbarg-Komplex sorgt seit Jahren für Furore, aber auch für eine breite Welle der Solidarität, weil es nicht nur ein klassisches Beispiel staatlichen Verfolgungseifers gegen alle ist, die den kapitalistischen Normalbetrieb behindern, sondern auch lehrbuchhaft zeigt, wie Polizeigewalt vertuscht wird. Die Betroffenen sind angeklagt, am frühen Morgen des 7. Juli 2020 beim Demonstrationszug in der Straße Rondenbarg dabei gewesen zu sein. Nicht mehr und nicht weniger. Die Gruppe, die auf dem Weg zu den Blockaden war, wurde von Einsatzkräften ohne jede Vorwarnung äußerst brutal angegriffen. Die völlig enthemmte Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) prügelte flüchtende Gipfelgegner*innen gegen einen Zaun, der unter dem Druck nachgab, woraufhin mehrere Demonstrant*innen in die Tiefe stürzten und sich zum Teil schwer verletzten. Fast 60 Menschen wurden festgenommen und tagelang unter entwürdigenden Bedingungen in der Gefangenensammelstelle inhaftiert; 14 von ihnen blieben über Wochen oder sogar Monate in Untersuchungshaft.
Parallel dazu lief die Stimmungsmache in den Medien an, obwohl sehr schnell Videomaterial öffentlich wurde, das die gezielte brutale Polizeigewalt samt menschenverachtender Kommentare der Beamt*innen am Rondenbarg dokumentierte. Um die Deutungshoheit über die Abläufe zu behalten, wurden die Demonstrant*innen in den folgenden Monaten von der eigens zur Kriminalisierung der G20-Proteste gebildeten „SoKo Schwarzer Block“ immer wieder mit massiven Repressionsmaßnahmen überzogen. Dazu zählen die Hausdurchsuchungen im Dezember 2017 ebenso wie der „Onlinepranger“, auf dem die SoKo Fotos von hunderten Menschen veröffentlichte, die im Verdacht standen, gegen den G20 auf die Straße gegangen zu sein.
Der Versuch, an dem am Rondenbarg verhafteten italienischen Aktivisten Fabio ein Exempel zu statuieren, schlug fehl: Teile der Presse berichteten zunehmend kritisch, nach fünf Monaten musste er aus der Untersuchungshaft entlassen werden, und Anfang 2018 platzte das Verfahren schließlich. Trotz dieser Schlappe lässt die Staatsanwaltschaft nicht locker, obwohl den Angeklagten weiterhin nichts anderes vorgeworfen wird als ihre reine Anwesenheit. Es geht dem Gericht auch gar nicht darum, einzelnen Personen die wenigen Flaschenwürfe, die es gegeben haben soll, zuzuordnen. Damit rückt die Justiz vom individuellen Schuldnachweis ab, also dem Prinzip, dass jede Person nur dafür bestraft wird, was sie*er (angeblich) getan hat. Stattdessen wird hier die etwas mittelalterlich anmutende Devise „mitgegangen – mitgefangen“ angewandt, die der Bundesgerichtshof (BGH) im Mai 2017 gegen Hooligans in Anschlag gebracht hat, für die er den Tatbestand der „psychischen Beihilfe“ durch „ostentatives Mitmarschieren“ erfunden hat. Kein Scherz. Allerdings schloss der BGH ausdrücklich die Übertragbarkeit auf politische Versammlungen aus, die nun aber prompt eingeführt wird. Wenn sich diese Rechtsprechung durchsetzt, ist jede Demoteilnahme künftig mit einem hohen Kriminalisierungsrisiko verbunden, indem alle für das haftbar gemacht werden können, was Einzelne tun.
Es ist aber nicht nur die immense Bedeutung für linke Proteste allgemein, die eine große Solidaritätsbewegung mobilisiert hat, sondern auch das Bewusstsein dafür, dass die Rechnung des Staates nicht aufgehen darf, einzelne herauszupicken und durch miese Schikanen fertigzumachen. Denn den fünf Aktivist*innen stehen harte Monate bevor: jede Woche müssen sie zu einem Prozesstag nach Hamburg fahren, was einen Strich durch die sonstige Lebensplanung macht. Die Akten füllen lange Regale, die Liste der Zeug*innen, die einzeln stundenlang befragt werden, geht über mehrere Seiten, und es ist jetzt schon klar, dass das Verfahren viele Monate dauern wird. Doch bundesweit und auch international stärken solidarische Menschen den Angeklagten den Rücken. Schon seit Monaten laufen Spendenaufrufe und Öffentlichkeitsarbeit der Roten Hilfe e. V., und im Rahmen der Solikampagne „Gemeinschaftlicher Widerstand“ fand am 3. Dezember 2020 ein dezentraler Aktionstag statt, bei dem es in verschiedenen Städten Kundgebungen, Demos und andere Veranstaltungen gab. Bei der Prozesseröffnung standen hundert Unterstützer*innen vor dem Gerichtsgebäude, am 5. Dezember gab es eine große bundesweite Demonstration in Hamburg. Weitere Aktionen sind geplant. Denn gemeinsam sind wir gegen den G20 auf die Straße gegangen – gemeinsam treten wir jetzt der Repression entgegen!
Silke
Weitere Infos:
Auf rondenbarg-prozess.rote-hilfe.de und gemeinschaftlich.noblogs.org gibt es regelmäßig Berichte zum aktuellen Stand des Prozesses und zur Solikampagne.