Der Begriff „Ableismus“ leitet sich vom Englischen „able“ (fähig) ab und kommt aus der US-amerikanischen Behindertenbewegung und Forschung (Disability Studies). Ableismus steht für die ungerechtfertigte Ungleichbehandlung („Diskriminierung“) wegen einer körperlichen oder psychischen Beeinträchtigung oder aufgrund von Lernschwierigkeiten. Wenn ein Mensch wegen einer bestimmten, oft äußerlich wahrnehmbaren Eigenschaft oder einer Fähigkeit – seinem „Behindertsein“ – bewertet wird, ist das Ableismus. Im November 2020 erschien in der GWR 454 ein Schwerpunkt zum Thema. Aus der Leser*innenschaft kam daraufhin der Vorschlag, regelmäßig über Behindertenfeindlichkeit zu berichten. Gesagt, getan. Ab jetzt möchten wir in der GWR in loser Folge eine von unterschiedlichen Autor*innen geschriebene Kolumne zum Thema veröffentlichen. Wir freuen uns auf Eure Artikelangebote. Den Anfang macht Monty. (GWR-Red.)
Es gibt Beeinträchtigungen, die der betroffenen Person per se nicht direkt anzusehen sind. Sie können physischer oder psychischer Natur sein. Und sie sind eben unsichtbar, bis die betroffene Person auf die Beeinträchtigung hinweist oder diese nach und nach durch beobachtetes Verhalten der betroffenen Person vermutet wird. Depressionen zum Beispiel sind bei einer Person, die sich momentan nicht in einer aktuellen Phase befindet, wohl eher schwer zu erkennen. Oder körperliche Defizite wie zum Beispiel Taubheit und Schwerhörigkeit.
Seit ich denken kann verstehe ich meine Mitmenschen schlecht. Bis vor einigen Jahren erklärte ich mir das selbst als Konzentrationsmangel, wenn ich mich an den Inhalt von Gesprächen nur zum Teil erinnerte. Aufgrund von zunehmenden Ohrgeräuschen, auch bekannt als Tinnitus, wurde beim fachärztlichen Besuch die angeborene Hörschwäche diagnostiziert. Vor allem in Gesprächen mit mehreren Personen und in großen Räumen mit sehr vielen Menschen komme ich nicht nur an die Grenze des Verständlichen, sondern auch des Erträglichen. Da entsteht ein Brei an Geräuschen, den ich nicht mehr als Sprache aufnehme. Wenn es im Plenum zum Beispiel Nebengespräche gibt, Menschen mit sehr leiser Stimme sprechen, wenn jemand mit mir in abgewandter Haltung spricht, je nachdem wie stark gerade meine Ohrgeräusche sind, die mich täglich begleiten, seit wegen Covid-19 die Münder mit Masken bedeckt sind…. Dann bin ich am Limit der Aufnahmefähigkeit. Und das führt immer wieder zu zwischenmenschlichen Problemen und zu Ausgrenzung.
Ich habe mir angewöhnt, dieses Defizit anzusprechen, sobald ich in eine Gruppe von Menschen gerate, in der mich nur wenige kennen. Ich kündige dies zum Beispiel so an: „Hallo, ich bin Monty, und ich habe eine Hörschwäche. Ich bin auf eine gewisse Gesprächskultur angewiesen, in der wir uns ausreden lassen, nicht mehrere Personen gleichzeitig sprechen. Ich werde immer wieder nachfragen müssen, weil ich einzelne Worte oder Satzteile nicht mitbekommen werde. Ich habe zwar Hörgeräte, die führen aber des Öfteren zu einer Überreizung. Deshalb trage ich sie oft nicht. Das liegt daran, dass ich hauptsächlich im Sprachspektrum schlecht höre. Andere Geräusche und Nebengespräche können ungewollt mit verstärkt werden und in mir zu einer Überreizung führen. Daher bin ich auf eure Mitarbeit und Geduld angewiesen.“
Die Antwort darauf ist meist: „Danke fürs Mitteilen, ist ja aber nicht schlimm.“ Doch es ist schlimm für mich. Nicht nur, dass es mich nervt, mit diesen Ohren auf die Welt gekommen zu sein. Es kommt regelmäßig zu ungeduldigem Verhalten meiner Gesprächspartner*innen wenn ich das x-te Mal nachfragen musste. Wenn ich immer und immer wieder auf das hinweisen muss, was ich bereits bei meiner Vorstellung gesagt hatte – wenn sich darüber lustig gemacht wird, was öfter vorkommt als ihr euch vielleicht denken mögt. Wenn ich als „Bulle“ betitelt werde (ob aus Spaß oder im Ernst) weil ich Geräte im Ohr habe. Es ist frustrierend und es isolierend. Am Rande zu stehen, weil erforderliche Informationen nicht in ausreichender Fülle ankommen oder es kürzlich Situationen gab, die einfach unerträglich schmerzhaft waren. Denn aufgrund solcher Reaktionen entferne ich mich immer wieder aus Gruppen, da es oft an Verständnis, Geduld und Awareness fehlt. Weil ich immer wieder nur mit einem Teil der besprochenen Informationen auskommen muss. Wenn ich bevormundet werde mit Sätzen wie: „Trag doch verdammt noch mal deine Hörgeräte, wenn du nix verstehst“. Irgendwann ist einfach mal gut! Ich kann selbst einschätzen und entscheiden, was wann für mich gut ist und wann nicht. Zum körperlichen Defizit hat sich im Laufe der Jahre auch ein seelisches entwickelt: Ängste vor bestimmten Situationen und den Reaktionen der Mitmenschen.Aber es geben sich auch Menschen Mühe, die mich unterstützen und ernst nehmen. Danke dafür!
Ich frage mich immer öfter, wie oft ich denn anderen Menschen – mit oder ohne Beeinträchtigung – Unverständnis oder Ungeduld entgegen bringe. Wer stellt sich denn schon gerne „doof“ an? Wer bleibt denn schon gerne auf der Strecke? Wie oft habe ich selbst Menschen gewertet (und tue es zu oft immer noch), weil sie mich nicht verstehen bzw. nachvollziehen können, zu schnell oder zu langsam sind, nicht das tun, was ich in dem Moment erwartet hatte. Wir müssen endlich raus aus dem Leistungsdenken. Wenn jemand nicht mitkommt, dann gehen wir zurück und holen die Person ab. Lasst uns Geduld üben.