Lassen sich Frauen und Männer unterscheiden? Auf den ersten Blick scheint diese Frage sinnlos: „Sind die äußeren Unterschiede nicht offensichtlich?“ Aber Männer können wie Frauen und Frauen können wie Männer aussehen. Nichts ist natürlich, und das einzige Merkmal, das wirklich einen kategorialen Unterschied macht, nämlich die Gebärfähigkeit, ist fast das ganze Leben unsichtbar. Über die reproduktive Differenz und das Schwangerwerdenkönnen schreibt für die Graswurzelrevolution Antje Schrupp. (GWR-Red.)
Im Herbst 2016 wurde die deutsche Umweltministerin Barbara Hendricks bei einem Treffen in Berlin von einer iranischen Politikerin mit Handschlag begrüßt. Die einfache Geste sorgte im Iran für ziemliche Aufregung, denn viele dort hielten Hendricks aufgrund ihrer äußeren Erscheinung für einen Mann (und nach Ansicht patriarchaler Koranauslegungen dürfen Muslimas Männern nicht die Hand geben). Eine Nachrichtenagentur stellte dann jedoch klar, dass Hendricks eine Frau sei, obwohl sie auf den gezeigten Filmaufnahmen „wie ein Mann aussieht“.
Patriarchale Kulturen können ohne eine Darstellung von Geschlecht nicht funktionieren, denn „Frauen“ können nur dann gesellschaftlich diskriminiert werden, wenn vorher ihr Geschlecht explizit sichtbar gemacht wurde. Denn für sich genommen ist das Geschlecht unsichtbar, jedenfalls alles andere als eindeutig. Eine Verfechterin biologistischer Vorstellungen von Geschlechtlichkeit könnte nun jedoch argumentieren, dass das Missverständnis um Barbara Hendricks nicht aufgetreten wäre, wäre sie nackt gewesen. Aber auch die reproduktive Differenz der Menschen, also ob es sich bei einer konkreten Person um eine „Menschenweibchen“ (mit Gebärmutter und Eierstöcken) oder um ein „Menschenmännchen“ (mit spermaproduzierenden Organen) handelt, ist nicht immer eindeutig. Bis zur Erfindung von Röntgenstrahlen (um 1900) und Ultraschalldiagnostik (um 1940) war es gänzlich unmöglich, das reproduktive Geschlecht einer Person mit Sicherheit zu kennen. Denn Männer können wie Frauen und Frauen wie Männer aussehen. Dies liegt nicht nur an Kleidung, Körperhaltung und anderen Darstellungsformen. Auch für alle körperlichen Geschlechts-Merkmale gibt es theoretisch andere Erklärungsmöglichkeiten: Der scheinbar fehlende Penis ist vielleicht einfach nur sehr klein, der gelegentliche Blutfluss vielleicht von Hämorrhoiden verursacht, der dicker werdende Bauch könnte vom vielen Essen kommen.
Frauen in Männerberufen sind in gleichgestellten Gesellschaften akzeptiert, aber nur, solange sie wie Männer auftreten. Und das bedeutet: nicht schwanger werden. Die gesamte Frauenemanzipationsgeschichte, so scheint es, ist in dieser Hinsicht von doppelten Etappen geprägt: Zunächst müssen Frauen dafür kämpfen, überhaupt gleichberechtigt zu sein. Und dann müssen sie in einem zweiten Schritt noch einmal dafür kämpfen, dass sie auch als (möglicherweise) Schwangere noch gleichberechtigt sind.
Tatsächlich sind die meisten geschlechtlichen Zeichen nicht eindeutig binär, sondern verlaufen entlang eines Spektrums mit zahlreichen Übergängen. Eine Ausnahme gibt es jedoch: den Uterus. Der Uterus, bzw. die Gebärmutter, ist das einzige „binäre“ Geschlechtsorgan, wenn man so will, denn es gibt dafür kein „männliches“ Pendant: Ein Mensch hat einen oder nicht, ja / nein, eins und null. Doch der Uterus ist eben auch unsichtbar. Zu sagen, dass eine Person über eine Gebärmutter verfügt, ist, solange man nicht in ihren Körper hineingeschaut hat, nur eine mehr oder weniger wahrscheinliche Wette. Deshalb schreibt der Biologe und Sozialwissenschaftler Heinz-Jürgen Voß in seinem Buch „Geschlecht. Wider die Natürlichkeit“, reproduktive Organe wie etwa die Gebärmutter seien immer nur „vermeintlich vorhanden“. Allerdings ist das eine etwas irreführende Formulierung, weil die Gebärmutter ja tatsächlich da ist oder eben nicht. Nur die Information darüber fehlt.
Die meisten Kulturen verfügen über Formen und Symbole, die diese prinzipielle Unsichtbarkeit von Geschlecht auflösen. Bei dieser geschlechtsspezifischen Symbolik geht es in aller Regel darum, verschiedene reproduktive Stadien im Lebensverlauf sichtbar zu machen, und zwar besonders im Lebensverlauf von Menschen, die (vermutlich) schwanger werden können. So wird in vielen Kulturen die Menarche (also die erste Menstruation) groß gefeiert und vollzogen. Sie markiert für menstruierende Menschen den Wechsel von der Kindheit ins Erwachsenenalter, also von einer Zeit, in der reproduktive Funktionen noch keine Bedeutung haben, hin zu einem Lebensabschnitt, in dem Schwangerschaften möglich sind und es dementsprechend Regeln und Gewohnheiten dafür gibt, wie Menschen mit dieser Fähigkeit, schwanger zu werden, umgehen. Damit verbunden ist meist die Vermittlung von nützlichem Wissen, etwa über Schwangerschaft und Hygiene, Verhütung und Fruchtbarkeit, Sexualität und Gesundheit. Oft gibt es parallel dazu Initiationen für Menschen, die nicht schwanger werden können.
Auch in Deutschland wurden früher Mädchen vor der Menarche anders gekleidet als junge Frauen, die bereits menstruierten. Unverheiratete Frauen kleideten sich wiederum anders als solche, die bereits „unter der Haube“ waren. „Geschlechtsspezifische“ Kleidung markierte also nicht einfach nur „Weiblichkeit“, sondern verschiedene Stadien des (noch nicht / schon / nicht mehr) Schwangerwerdenkönnens. Diese Unterschiede sind heute jedoch komplett verschwunden. Es gibt zwar weiterhin „Frauenkleidung“, aber sie unterscheidet nicht mehr nach Lebensaltern. Ganz im Gegenteil: Mit Hilfe von Kosmetik und Chirurgie wird sogar versucht, jegliche Information über das Alter – und damit auch über den reproduktiven Status – verschwinden zu lassen. In gewisser Weise kann man also sagen, dass das moderne westliche Geschlechtermodell mit seiner Fokussierung auf die scharfe, binäre Abgrenzung von Frauen und Männern tatsächlich die reproduktiven Unterschiede gerade unsichtbar gemacht hat. Das ging soweit, dass Babies mit uneindeutigen Genitalien „umoperiert“ wurden. Vielen Kindern wurde ein für zu kurz gehaltener Penis amputiert und sie dann „als Mädchen“ aufgezogen, obwohl das natürlich nichts daran änderte, dass diese Kinder keine Gebärmutter hatten. Die soziale Geschlechterrolle hat die Überhand gegenüber der reproduktiven Differenz gewonnen:Wenn jemand heute als „Frau“ bezeichnet wird, dann bedeutet das in aller Regel nicht die Information, dass diese Person schwanger werden kann, sondern es verweist auf ihren sozialen, teils auch rechtlichen Status. So gesehen ist es nur konsequent, wenn Queerfeminist:innen den Zusammenhang von reproduktiver Fähigkeit und Geschlecht gänzlich bestreiten: Beim Sichtbarmachen von Gender geht es darum schon lange nicht mehr.
Es ist naheliegend, dass in Gesellschaften, die Menschen mit Gebärmutter als „Frauen“ kategorisieren und ihnen dann alles mögliche verbieten, die Betroffenen versuchen werden, dieses System zu unterlaufen – eben weil es ja vergleichsweise leicht ist, als „Mann“ in Erscheinung zu treten. Alle patriarchalen Gesellschaften kennen Techniken, bei denen Menschen sich ihrer Einordnung als „Frauen“ entziehen, damit sie nicht den damit verbundenen Beschränkungen unterworfen sind. Scharenweise haben zum Beispiel Autorinnen im Lauf der Geschichte unter männlichen Pseudonymen veröffentlicht. Heute sind viele weibliche Menschen im Internet mit männlich oder neutral wirkenden Avataren unterwegs, weil es sich in bestimmten Foren und Plattformen kaum aushalten lässt, wenn die Leute wissen, dass du eine Frau bist.
Patriarchate bringen systematisch Frauen hervor, die sich als Männer ausgeben. Ob es sich im einzelnen Fall um trans Männer handelt, also um Personen, die sich unabhängig von den Begleitumständen als männlich identifizieren – oder um cis Frauen, die nur männlich „performen“, um der Diskriminierung ihres Geschlechtes zu entgehen, ist im Nachhinein nicht mehr herauszufinden, weil man die Betreffenden nicht mehr fragen kann. Klar ist, dass jegliche Darstellung von Männlichkeit eine klare Grenze hat: Man darf nicht schwanger werden. Eine der bekanntesten Legenden dazu ist die von der Päpstin Johanna, die im 8. Jahrhundert als Johannes Anglicus eine steile Karriere in der Kirche absolviert haben und sogar schließlich Papst geworden sein soll. Das ging solange gut, bis sie während einer öffentlichen Prozession ein Kind gebar. Damit war sie als „Weibchen“ entlarvt.
Die meisten Menschen, die trotz ihrer Fähigkeit schwanger zu werden, als „Mann“ in Erscheinung getreten sind, sind natürlich nicht Papst geworden, aber vielleicht Soldat, Lehrer oder Dorfpriester, oder auch einfach nur der Ehemann der Frau, die sie liebten, wie die Spanierin Elisa Sanchez Loriga, die 1901 unter dem Namen Mario Sanchez ihre Geliebte Marcela Gracia Ibeas heiratete. Diese Art der „Vermännlichung“ geschieht im Übrigen nicht unbedingt heimlich. In Albanien ist es eine akzeptierte soziale Praxis, dass manche Mädchen, vor allem aus Familien, die keine Söhne haben, männlich sozialisiert werden. Manche beschließen auch erst im jugendlichen oder erwachsenen Alter, als Männer zu leben. Obwohl allgemein bekannt ist, dass sie mit Uterus geboren wurden, werden sie als Männer anerkannt und respektiert, solange sie überzeugend als solche „performen“.
Päpstin Johanna – Foto: Hartmann Schedel, Public domain, via Wikimedia Commons
Es liegt auf der Hand, dass eine Kultur, in der Frauen sich als Männer ausgeben müssen, um sexistischer Diskriminierung zu entgehen, kein Beispiel für geschlechterpolitische Freiheit oder Vielfalt ist, sondern im Gegenteil Beispiel einer extremen Stereotypisierung von Geschlechtsrollen, also von Unfreiheit. Und wie für die Päpstin Johanna, so gilt auch für ihre modernen Nachfahrinnen, dass sie – egal ob ihre Vermännlichung heimlich oder offen geschieht – eines auf gar keinen Fall dürfen, nämlich schwanger werden. Nichts zerstört die Darstellung von Männlichkeit so radikal wie eine Schwangerschaft. Das ist auch der Grund, warum trans Weiblichkeit, also die Existenz von Frauen mit Penis, Hoden und Prostata, das traditionelle System der Zweigeschlechtlichkeit nicht im Kern herausfordert. Trans Männlichkeit, also die Existenz von Männern mit Gebärmüttern, aber schon. Es ist daher kein Wunder, dass die Anerkennung von männlichen Schwangerschaften den größten Widerstand bei denen hervorruft, die die überkommene Geschlechterordnung bewahren möchten.
Doch nicht nur, wenn man als Mann wahrgenommen werden will, ist Schwangerwerden ein Problem. Auch Frauen, die sich emanzipieren, also „den Männern gleichgestellt“ sein wollen, riskieren einiges, wenn sie schwanger werden. Bis in die 1950er Jahre verloren Beamtinnen in Deutschland automatisch ihren Job, wenn sie heirateten und damit in die Nähe einer Schwangerschaft gerieten Diese „Zölibatsklausel“ im Deutschen Beamtengesetz wurde erst 1950 abgemildert und 1957 aufgehoben. Für evangelische Pfarrerinnen galt der Zölibat sogar bis Ende der 1960er Jahre. Frauen in Männerberufen sind in gleichgestellten Gesellschaften akzeptiert, aber nur, solange sie wie Männer auftreten. Und das bedeutet: nicht schwanger werden. Die gesamte Frauenemanzipationsgeschichte, so scheint es, ist in dieser Hinsicht von doppelten Etappen geprägt: Zunächst müssen Frauen dafür kämpfen, überhaupt gleichberechtigt zu sein. Und dann müssen sie in einem zweiten Schritt noch einmal dafür kämpfen, dass sie auch als (möglicherweise) Schwangere noch gleichberechtigt sind.
Für queer:feministischen Aktivismus stellen sich daher heute aus meiner Sicht zwei Aufgaben, die nicht immer deckungsgleich sind. Erstens geht es darum, traditionelle Geschlechterkonzepte zu bekämpfen und abzuschaffen, denn deren bloße Existenz ist die Grundlage dafür, dass patriarchale Regime aufrechterhalten werden können. Und zweitens geht es darum, die Freiheit von Menschen, die schwanger werden können, zu erkämpfen – um die es leider, wie die Abtreibungsdebatten zeigen, nicht gut bestellt ist. Nicht nur Frauen und andere nicht-männliche Gender müssen im gesellschaftlichen Diskurs sichtbar gemacht werden. Auch der Unterschied, der sich aus dem (nicht) Schwangerwerdenkönnen von Menschen ergibt, die reproduktive Differenz, darf nicht länger an den Rand der Debatte gedrängt werden.
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.