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An der Grenze

Soli-Küche und Monitoring von Kesha Niya

| Hélène Debande

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Die Küche von Kesha Niya - Foto: Helene Debande

Kesha Niya ist der Name einer solidarischen Küche an der italienisch-französischen Grenze. Täglich werden hier Geflüchtete versorgt, denen die Reise von Italien nach Frankreich durch Polizei und Militär verwehrt wird. Zudem wird das oft brutale und unrechtmäßige Vorgehen der staatlichen Sicherheitsbehörden dokumentiert und veröffentlicht. Drei Menschen aus Deutschland haben sich im Dezember 2020 zwei Wochen dort engagiert und berichten für die GWR über die Arbeit dieser Graswurzelorganisation. (GWR-Red.)

Da gibt es diese Grenze…
Auf einem etwa 80m² großen rechteckigen Platz, der wohl einst eingerichtet wurde, um die weitläufige Aussicht auf die Küste zu genießen, befindet sich seit einigen Monaten ein Rastplatz mit einer kleinen Küche unter freiem Himmel. Sie ist spärlich eingerichtet, mit einem zusammenklappbaren Plastiktisch, zwei Campingkochern sowie einem Buffet, ausgebreitet auf einer der steinernen Sitzgelegenheiten. Etwas weniger Improvisiertes dulden die italienischen Autoritäten nicht.
Nach einem italienischen Sprichwort passieren die wichtigen Ereignisse in der Küche. Und auch bei Kesha Niya beginnt der Tag derer, die gerade eine Nacht im französischen Polizeicontainer verbringen mussten, mit Essen, ein bisschen Wärme, einem Gespräch auf Augenhöhe, der Bank zum Ausruhen und medizinischer Versorgung minderer Beschwerden. Zuvor haben die Geflüchteten versucht von Italien nach Frankreich zu reisen und wurden auf die italienische Seite zurück geschoben. Auf dem 10 km langen Rückweg nach Ventimiglia, der nächsten größeren Stadt mit einem Bahnhof, passieren sie nach 1,5 km Fußmarsch automatisch den Rastplatz.
Hier öffnet sich der Ausblick weit über das Mittelmeer, und Frankreich scheint zum Greifen nahe. Selbst der Zug, der alle halbe Stunde nach Frankreich fährt, lässt sich von hier aus beobachten. Gleich vorn liegt Menton, die erste französische Stadt nach der Grenze, mit dem prächtigen Yachthafen und weiter hinter türmen sich die Hochhäuser Monacos. Wir blicken auf das Gefälle hinunter zum Meer, vor dem wir oft gemeinsam mit den Geflüchteten stehen und diese witzelnd bekunden, dass sie einfach hinüber schwimmen werden. Es wäre so naheliegend…

Nach dem Pushback

Etwa 80 bis 100 Menschen treffen Tag für Tag nach ihrer Abweisung (sog. Pushback) in der „Küche“ von Kesha Niya ein. Auch wenn der letzte Versuch gescheitert ist, die französischen Städte zu Fuß durch die Berge oder per Zug zu erreichen, wird doch schon bald der nächste unternommen. Viele versuchen die italienisch-französische Grenze direkt wieder im Anschluss des Pushbacks zu überqueren. So reihen sich oft fünf, sechs, zehn Versuche aneinander, ohne eine Nacht mit ausreichend Schlaf verbracht zu haben. Diese Grenze wird stark bewacht, aber doch nicht zu hundert Prozent: irgendwann wird es funktionieren. Viele Reisende erzählen, dass sie sich in Frankreich eine bessere Unterbringung und Versorgung versprechen, und sie hoffen einen sicheren Platz zum Leben zu finden. Andere wollen das Land nur durchqueren, um in Deutschland, Belgien, Großbritannien oder in anderen westeuropäischen Ländern ihr Glück zu finden. In Italien sehen sie keine Zukunft für sich. Vor ihnen liegt also nicht nur diese Hürde, sondern noch weitere gefährliche Grenzübergänge und unsichere Lebenssituationen. Von dem Küchenplatz aus verstreuen sich die Reisenden auf unterschiedliche Wege: einige versuchen den Wanderweg durch die Berge, der in dem nächsten Dorf oberhalb des Platzes beginnt, andere nehmen meist den Linienbus zurück zum Bahnhof nach Ventimiglia. So beginnt ein neuer Anlauf.
In Ventimiglias Straßen halten sich wohl einige hundert Menschen auf, weil sie von der französischen Polizei und dem Militär bei ihrer Weiterreise gehindert wurden. Einige übernachten in Verschlägen am Strand, andere auf dem alten Bahngelände, unter der Brücke oder einem Dächlein. Es sind kalte, unbequeme Nächte. Die Caritas, Kesha Niya, französische Gruppen aus dem Roya-Tal und andere solidarische Menschen geben täglich warme Mahlzeiten aus, aber es ist schwer alle Bedürftigen zu erreichen und viele erzählen von Tagen ohne Essen und Nächten ohne Schlaf. Eine NGO konnte inzwischen immerhin 15 Schlafplätze für Frauen* und Familien bereitstellen, nachdem im Sommer 2020 das einzige Camp des Roten Kreuz‘ in der Stadt aufgelöst wurde.

Seit 2015 missachten die französischen Sicherheitsbehörden unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung das Recht auf Prüfung von Asylgründen nach der Einreise. Auch für alleinreisende Minderjährige gibt es keinen Schutz, obwohl sie sich frei in der EU bewegen dürfen, da sie von den Dublin Regelungen ausgeschlossen sind. So sehen sich Reisende ohne Dokumente und reisende People Of Colour täglich staatlichem Rassismus ausgeliefert und werden in ihrer menschlichen Würde verletzt

In diesem Kontext solidarisiert sich Kesha Niya mit den Geflüchteten an der Grenze. Kesha Niya (Sorani-Kurdisch für „kein Problem“) ist ein basisdemokratisches Kollektiv aus wechselnden Freiwilligen. Ihr Motto ist „No Borders – No Problems“. Sie streiten für eine Welt ohne Staaten, für die Bewegungsfreiheit Aller. Die Gruppe gründete sich 2016 als solidarische Großküche im französischen Lager Dunkerque, nahe Calais und ist seit 2018 in Ventimiglia aktiv. Auch wenn angesichts der staatlichen Gewaltmonopole nur kleine Gesten der Unterstützung möglich sind, bleibt die ständige Suche nach Handlungsspielräumen zur Verbesserung der unmenschlichen Situation. So ist neben der praktischen Arbeit an der Grenze und dem Verteilen von Kleidung und Decken, die Netzwerkarbeit, Spendensammlung und das Beobachten und Erfragen der Bedürfnisse der geflüchteten Menschen eine wichtige Aufgabe. Zugleich ist es erforderlich, das oft gewaltvolle Vorgehen der Polizei im Auge zu behalten und zu dokumentieren. Diese Informationen dienen als Grundlage für politische Kampagnen und juristische Prozesse. Durch ihre hartnäckige Präsenz und das kontinuierliche Monitoring an der Grenze, wird Kesha Niya von den anderen Akteur*innen in der Region als wichtige Bündnispartnerin im Kampf für die Rechte von Geflüchteten wahrgenommen.

Italienisch-französisches Grenzgebiet – Foto: Helene Debande

So bringen einige Anwohnende nahe der Grenze Spendeneinkäufe zum Rastplatz oder erkundigen sich bei ihren alltäglichen Spaziergängen nach der Lage. Doch nicht alle zeigen sich verständnisvoll. Regelmäßig gibt es Beschwerden von Bewohner*innen des kleinen Dorfes am selben Steilhang über die starke Frequentation „ihres Ortes“ durch Geflüchtete. Dieses Dorf ist der Ausgangsort des Bergpfads über die Grenze und muss erst einmal komplett durchquert werden. Einige Einheimische sorgen sich zwar um die Unversehrtheit der Reisenden und um die mangelnden Informationen bezüglich der Wegführung. Mehr jedoch wünschen sich, sie würden von all den Problemen nichts mitbekommen. Seitdem es kälter geworden ist und der Lockdown verschärft wurde, mehren sich die Schwierigkeiten und das Unverständnis, was darin gipfelt, die Menschen auf dem Weg bei der Polizei anzuzeigen.
Der Weg ist an sich gut markiert und relativ einfach für junge, gesunde Menschen zu begehen. Doch nicht umsonst trägt er den Namen „passo della morte“ – „Todespfad“. Denn bei Nacht, bei schlechten Bedingungen, ohne angemessene Ausrüstung und unter permanentem psychischen Druck, kann er auf Grund der Klippen tödlich enden. Einmal den Bergkamm überwunden, ist die Ankunft in Frankreich noch nicht gesichert. Möglicherweise wartet im Tal die französische Armee oder die Polizei. Zudem handelt es sich in dieser Region um einen erweiterten Grenzbereich: Polizeikontrollen finden oft noch in Nizza und Cannes statt, insbesondere an Bahnhöfen, die zur Weiterreise meist unumgänglich sind.

Missachtung der Gesetze

Seit 2015 missachten die französischen Sicherheitsbehörden unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung das Recht auf Prüfung von Asylgründen nach der Einreise. Auch für alleinreisende Minderjährige gibt es keinen Schutz, obwohl sie sich frei in der EU bewegen dürfen, da sie von den Dublin Regelungen ausgeschlossen sind. So sehen sich Reisende ohne Dokumente und reisende People Of Colour täglich staatlichem Rassismus ausgeliefert und werden in ihrer menschlichen Würde verletzt, tragen teils sogar physische Schäden davon. Die Liste der Polizeigewalt ist lang und einige Szenen wiederholen sich stetig.

Foto: Helene Debande

Schon auf dem Bahnhofsvorplatz in Ventimiglia wird die Spannung spürbar, die die Polizeipräsenz verursacht. Sie kontrollieren mittels Racial Profiling systematisch Menschen mit nicht-weißer Haut entweder vor dem Eintritt in den Zug oder im Zug beim Grenzübertritt. Aus Erzählungen ist bekannt, dass vor allem in den ersten und letzten grenzüberschreitenden Zügen des Tages brutale Kontrollen stattfinden. In diesen Zügen sitzen sehr selten weiße Zuschauende. Sogar Frauen mit Kindern berichten, dass sie mit Pfeffergas aus den Toiletten gezwungen wurden. Es ist regelmäßig von Schlägen durch die Polizei und von durch zerstörten Identifikationsdokumenten die Rede. Ein (nächtlicher) Aufenthalt im Polizeicontainer an der Grenze bietet weder Schutz vor Kälte, noch medizinische Versorgung in dringenden Fällen und keine Möglichkeit Abstand zu halten. Weitere Rechte wie Toilettengang, ein Dolmetscher, die Freilassung nach maximal vier Stunden werden häufig ignoriert. Solidarischen Ärzten*innen und parlamentarischen Beobachter*innen wird der Zutritt zum Container verwehrt. Dieser wird nun juristisch erkämpft. Der oberste Gerichtshof in Frankreich bestätigte im Dezember 2020, dass die harten Kontrollen an dieser innereuropäischen Grenze unverhältnismäßig sind. Die Praxis hat sich bisher nicht verändert.
…da gibt es diese Grenze.

 

Spendenaufruf

Im Angesicht der komplexen Problematik rund um die Fluchtbewegungen und der sich ständig verändernden Situation bleibt unser Einblick beschränkt. Wer sich ermutigt fühlt, sich für mindestens zwei Wochen in solch einem Kontext zu engagieren, ist bei Kesha Niya sehr willkommen. Geld- sowie Sachspenden sind ebenfalls unabdingbar, um eine kontinuierliche Arbeit zu gewährleisten. Weitere Informationen, Kontaktmöglichkeiten, sowie regelmäßige, ausführliche Berichte sind auf www.keshaniya.org veröffentlicht.

Kontoinhaber:
Frederik Bösing
IBAN: DE32 4306 0967 2072 1059 00
Stichwort: Schönere Willkommenskultur

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.