bücher

Überleben als „Besatzungskind“

Die Autobiographie einer schwarzen deutschen Frau

| Carla Romancini

Ika Hügel-Marshall: Daheim Unterwegs. Ein deutsches Leben, Orlanda Frauenverlag, Berlin 1998, 154 S., 34 DM

Der Buchtitel „Daheim Unterwegs. Ein deutsches Leben“ könnte geradezu der Deutschtümelei verdächtigt werden, bezöge er sich nicht auf die Autobiographie einer schwarzen deutschen Frau: Ika Hügel-Marshall. Der Widerspruch, in Deutschland daheim und doch aufgrund ihrer Hautfarbe ausgegrenzt zu sein, durchzieht ihr Leben. Ika Hügel-Marshall schreibt ihre Geschichte nüchtern, doch die Grausamkeit kindlichen Leidens geht dem/der LeserIn durch Mark und Bein.

1947 wird Erika Hügel in einer bayerischen Kleinstadt als Kind einer weißen deutschen Frau und eines schwarzen US-amerikanischen Soldaten geboren – als sogenanntes „Besatzungskind“. Sie kennt ihren Vater nicht. Als kleines Mädchen ahnt sie nicht, daß eine rassistische Bewertung ihrer Hautfarbe sie nach offizieller Meinung der 50er Jahre zum „Negermischling“ und zu einem „menschlichen und rassischen Problem“ (S.18) stempeln könnte.

„Noch teilte ich die Welt nicht ein in Schwarz und Weiß, eher vielleicht in Gut und Böse, in Freundlich und Unfreundlich. Für mich gab es überhaupt keinen Grund, daran zu zweifeln, mit meiner weißen Mutter in meiner weißen Familie in meiner weißen Heimat glücklich zu sein und erwachsen zu werden.“ (S.17)

Sie hätte sich nicht träumen lassen, daß sie selbst aus ihrer Familie auf amtlichen Druck hin ausgestoßen werden könnte, bis sie mit sieben Jahren in ein Heim gebracht wird. Kindliche Unbeschwertheit weicht dem furchtbaren Trauma, willkürlich verlassen worden zu sein.

„Ganz tief in meinem Innern ahne ich, daß ich nie mehr nach Hause darf. (…) kein Schreien, kein Flehen hilft, man hat mich vergessen. Man hat mich zurückgelassen. (…) Zurückgelassen ohne Abschied, weil der für Mutter und Tochter zu schmerzvoll gewesen wäre? Vergessen – um sich nicht mehr zu erinnern. Abgesondert vom Rest der Gesellschaft. Ich bin sieben Jahre alt, ich stehe auf und wische mir die Tränen aus dem Gesicht.“ (S.25)

Christlicher Rassismus

Das Kind wird im Heim Opfer einer haarsträubenden christlichen Bigotterie. Militärisch autoritäre Strenge verbindet sich mit rassistisch und sexistisch geprägten Vorstellungen von christlicher Reinheit. Die Autorin erzählt von der Allgegenwart der erbarmungslosen Repression und besonderen Diskriminierung, die sie als schwarzes Mädchen erfährt. Sie kann qua Hautfarbe dem zugeschriebenen Makel von Dummheit, Unmoral und Schuldhaftigkeit nicht entkommen. Der gehässige Schuldspruch der weißen Umwelt trifft bereits die Mutter: „Wie kann man nur solche Kinder in die Welt setzen, die es dann ihr ganzes Leben so schwer haben? Wahrscheinlich ist die Mutter aus niedrigen Verhältnissen, sonst hätte sie sich doch mit jemand anderem eingelassen als ausgerechnet mit einem Neger. Die Kleine wird mal genauso unmoralisch und labil wie die Mutter.“ (S.31)

Die irrationale und religiös inquisitorische Quälerei im Kinderheim gipfel in einer Teufelsaustreibung, die Ika mit 10 Jahren über sich ergehen lassen muß. Die Unmoral der Mutter soll das Blut der Tochter verunreinigt haben. „Reinige meine schwarze Seele“, wird sie gezwungen nachzubeten und fühlt sich fortan „schrecklich schuldig. Ich beginne, meine Hautfarbe zu hassen.“ (S.38)

Rassistische Definitionen schreiben ihr unartiges Verhalten ihrem ungebändigten Instinkt, dem „Neger“ zu, der in ihr stecke. Ihr Fleiß, ihre Begabungen und schulischen Leistungen werden ohne Lob übersehen, nicht anerkannt, unterdrückt. Stets wird ihr selbst von scheinbar wohlmeinender Seite der Verzicht auf eigene Ambitionen nahegelegt, mit dem Hinweis, daß es für sie das beste sei. Ein schwarzes Kind, eine schwarze Frau hat in dieser Gesellschaft nichts zu erwarten. Je eher sie sich damit abfindet, desto besser. Durch rechtzeitige Dämpfung der eigenen aussichtslosen Ansprüche sollen ihr vorprogrammierte Mißerfolge und Anfeindungen erspart werden. Dieselbe Gesellschaft, die diese Anfeindungen produziert, scheint auf heuchlerische Weise ihre Opfer davor in Schutz nehmen zu wollen. Dies ist eine wiederkehrende Erfahrung der Autorin, die sich in verschiedenen Ausprägungen durch ihre Biographie zieht: die Ratschläge, die vorgeben, gut gemeint zu sein, und doch nur der Unterdrückung dienen. Mit dieser „Beratung“ wurde die Mutter geradezu genötigt, die Tochter ins Heim zu geben. Und die Negativprophezeihungen nehmen ihren Lauf.

„Es ist das beste für Ihr Kind. Hier in der Kleinstadt hat es keine Zukunft. Wenn es älter wird, wird es vielleicht seelisch labil, auf jeden Fall wird es für Männer Freiwild sein, uneheliche Kinder bekommen, alkoholsüchtig werden und was weiß ich sonst noch. Wollen Sie das denn?“ (S.21)

Die einzige Lehrerin, die der kleinen Erika Hügel in der Grundschule wohlgesonnen ist, redet ihr den Wunsch, auf das Gymnasium zu gehen, aus: „Die Kinder hier in der Schule sind schon so gemein zu dir, auf dem Gymnasium wird es noch viel schlimmer sein.“ (S.48)

Die Heimleitung entscheidet gegen Ikas Traum, Lehrerin zu werden, über ihre Ausbildung. Sie wird in ein Internat gesteckt und zur Kinderpflegerin ausgebildet. „Heiraten wird dich eh niemand, deshalb wirst du später mal alleine für dich sorgen müssen. Du wirst einen sozialen Beruf ergreifen, das ist das einzige, was für dich in Frage kommt.“ (S.54)

Die eigenen Wünsche, der eigene Ärger – alles gilt immer wieder als unvernünftig und ungerechtfertigt. Ohne jede Förderung wird die Autorin als Kind und Jugendliche fortgesetzt dazu gezwungen, an sich selbst, ihren Bedürfnissen und Wahrnehmungen zu zweifeln. Die Macht ist nie auf ihrer Seite.

Rassismus in der weißen Frauenbewegung

Als sie im Gegensatz zu den weißen Kinderpflegerinnen keine Praktikumsstelle bekommt, erntet ihr verzweifeltes Aufbegehren gegen diese Ungerechtigkeit nur Mißbilligung und Unverständnis. Vor dem Rassismus aus Vernunft und Bescheidenheit zu kapitulieren steht immer als beste Lösung da. Vor der Heirat mit einem weißen Mann warnen daher zweifelnde Stimmen: „Du willst tatsächlich heiraten? Denk doch bitte mal weiter, deine Kinder werden es immer schwer haben, du weißt doch selbst gar nicht, wo du so richtig hingehörst. (…) Auf Dauer kann auch eine noch so gute Beziehung dem Gerede der Leute nicht standhalten.“ (S.74) Tatsächlich wird gerade die Verleugnung des Rassismus der Beziehung zum Verhängnis.

Und selbst mit der Sehnsucht, ihren Vater in den USA ausfindig zu machen, beißt sie lange auf den Granit der Einschätzungen anderer, daß eine solche Suche doch sinn- und zwecklos sei. ‘Bescheide dich und mach keinen Wirbel, was du denkst und möchtest, ist im Zweifelsfall falsch’ – das ist die stete und frustrierende Botschaft, mit der Selbstachtung und Selbstvertrauen gebrochen werden. Ika Hügel-Marshall arbeitet diese Erfahrungen genau heraus, aber auch den überlebenswichtigen Prozeß, von der ewigen unterdrückerischen Fremdbestimmung über den Ausdruck von Schmerz und Wut zur Selbstentfaltung zu gelangen.

Der/die LeserIn mag es geradezu als kleines Wunder empfinden, daß die Autorin nach all den erlittenen Grausamkeiten nicht zerbricht. Sie setzt kämpferisch ihren Realabschluß, das Sozialpädagogikstudium und auf ihrer langjährigen Arbeitsstelle die radikale Reform der Heimerziehung durch. Sie schwingt sich mit der eigenen Rebellion über den ihr zugewiesenen Platz hinaus und emanzipiert sich gegen einen weißen gönnerhaften Paternalismus, mit dem ihr in angeblich eigenem Interesse Stillverhalten diktiert wurde.

„Meine Veränderung ruft in den Köpfen weißer Menschen Panik hervor. Das arme und bemitleidenswerte Geschöpf wächst nicht mehr in ihrem Sinne, wie in ihren Köpfen ausgedacht heran, sondern über ihre Köpfe hinaus.“ (S.79)

Doch als isolierte Minorität Vorwürfe und Anklagen zu erheben, heißt auf einem schmalen Grat zu gehen und sich dem drohenden Verlust von schwer erworbener Sympathie und Solidarität auszusetzen. Ika Hügel-Marshall spricht die Selbstüberwindung und die Gefahr an, die es für sie bedeutete, als feministische Aktivistin innerhalb der weißen Frauenbewegung auch rassistische Unterdrückungsstrukturen zum Thema zu machen: „Viele Augen sind plötzlich auf mich gerichtet. Unwillen, Ärger und Unverständnis ist in den Gesichtern zu erkennen. In diesem Augenblick wünsche ich mir, ich hätte nichts gesagt. Ich spüre Angst in mir aufsteigen und weiß nicht, ob ich, als einzige Schwarze Frau, der zwangsläufig folgenden Diskussion gewachsen bin. (…) Worte, Sympathie, gemeinsames Lachen. Und da ist er wieder: der Schmerz, der mich trifft. Ich lasse mir nichts anmerken und sage nicht sofort, wie ich empfinde. Ich werde sie nicht in diesem Augenblick auf ihren Rassismus ansprechen. Ich warte lieber, denn sonst, das habe ich gelernt, riskiere ich, ihre Zuneigung im Nu wieder zu verlieren.“ (S.82f.)

Reflexhaft werden die Hinweise auf Rassismus als Schuldvorwürfe, selbstsüchtig, vermessen und rücksichtslos gegenüber den weißen Schwestern zu sein, an die Ausgangsadresse zurückverwiesen. Das Leben und die Auseinandersetzung als schwarze Frau mit der weißen Umwelt zerrt an den Nerven und geht an die Substanz.

„Wie lange noch bin ich bereit, ihr Verhalten zu verharmlosen oder nach Entschuldigungen dafür zu suchen? (…) Ich muß ständig auf der Hut sein, jedes Anzeichen einer Diskriminierung oder Kränkung erkennen. Offen und gleichzeitig mißtrauisch sein zu müssen, kostet mich unendlich viel Kraft und führt dazu, daß ich in einer permanenten Anspannung lebe.“ (S.85) Daheim unterwegs. Dazugehören und doch außen vor sein.

Begegnung mit Afrodeutschen und die Suche nach dem Vater

Ika Hügel-Marshall schildert den Kampf ihrer Sehnsucht nach Gemeinsamkeit mit anderen schwarzen Menschen gegen die Widerstände ihrer eigenen Selbstabwertung aufgrund rassistischer Zuschreibungen. Es braucht eine Zeitlang, bis sie aufhört, sich die Suche nach dem Vater und den Anschluß an eine Gruppe afrodeutscher Frauen und Männer zu versagen.

„An meinen Vater muß ich immer öfter denken, und das intensive Bedürfnis, einen Vater zu haben, begleitet mich. Ich verbiete mir dieses Verlangen und will es nicht spüren. Die Angst und die Abwendung von mir selbst hat sich so tief in mein Inneres gebrannt, daß ich mir nicht vorstellen kann, meinem Vater zu begegnen. Mich in ihm zu entdecken, ist mir unvorstellbar.“ (S.86) Und: „Was um alles in der Welt will ich mit ‘meinesgleichen’? (…) Nein, ich will nicht in andere afrodeutsche Gesichter sehen und meinem Schmerz begegnen.“ (S.88) Aber sie tut es doch.

Ein Traum ist zu Ende

Reste meiner Tag- und Nachtträume steigen in meinem
Körper hoch,
Traumtänze.
Es ist wie ein Licht, das den Raum um mich erhellt.
Ich bin weder Schwarz noch weiß,
sondern durchlässig und transparent.
Es erschreckt mich, weil ich annehme, alle können mich
sehen.

Erschöpft lehne ich mich an eine Wand
Und lasse meinen Körper fallen.
Ich glühe – und in dem Gefühl des Willkommens und
Ankommens sehe ich in Gesichter, die meines wiederspiegeln.
Ich schließe meine Augen und ermesse die Unendlichkeit
Zwischen meiner Sehnsucht und meiner Einsamkeit
Ich fühle die Versuchung in mir und will zu ihnen,
nur ein Stück näher.
Meine Angst kriecht mir über den Rücken,
und ich schaue verzweifelt auf meine braunen Hände.
Ich will allen zurufen:
„Ich brauche Hände, eure braunen Hände.“
Doch die leiseste Berührung hätte meinen Körper
zersplittern lassen.
Mein Atem wird langsamer.

Erst im Kontakt mit anderen Afrodeutschen wird Ika Hügel-Marshall das ganze Ausmaß ihrer 39jährigen Einsamkeit und Isolation bewußt. „Schritt für Schritt fange ich an, meinen Weg zu mir selbst zu finden. Alle Zweifel, die verdrängten und doch spürbaren Schmerzen, die Weiße mir zugefügt haben und die letztendlich doch nur eingebildet, ein Resultat meiner Überempfindlichkeit sein sollen, werden in der Begegnung mit meinen Schwestern und Brüdern ausgeräumt. Ich kann wieder an mich glauben, mich ernst nehmen, vieles, was Weiße mich lehrten, wieder verlernen. Ich beginne, mich zu lieben, meine Hautfarbe, all das, was mich ausmacht.“ (S.92)

Die „Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Erlösung“ (S.99) findet endlich Grund. Die Bekanntschaft und Freundschaft mit der afroamerikanischen Dichterin Audre Lorde beschreibt Ika Hügel-Marshall als einen Meilenstein, der ihr Leben in persönlicher und politischer Hinsicht entscheidend prägt, noch bevor sie durch die Hilfe einer Freundin ihren Vater in den USA ausfindig macht. Ein letztes Mal setzt der abgrundtiefe Zweifel ein, die verzweifelte Angst vor der Enttäuschung, er könnte ihr auf ihren Brief hin nicht antworten. Das Treffen zwischen Vater und Tochter wirkt wie das ersehnte Ende einer langen Odyssee, einer mühsamen, aber befreienden Entwicklung.

„Ich strecke meine Hand aus
meiner Schwarzen Familie entgegen
mein Vater, meine Familie
hier ist meine Reise zu Ende
hier fließt die ganze Welt zusammen.“ (S.127)

Ika Hügel-Marshall ist in ihrer Autobiographie eine sowohl erschütternde als auch anrührende Anschaulichkeit gelungen. Die Geschichte sollte jedoch nicht nach dem Muster „Ende gut – alles gut“ mißverstanden werden. Als weiße, wenn auch rassismusbewußte Leserin überkam mich der Schrecken über die rassistische Grausamkeit und gleich danach die Scham, diesen Schrecken über das Leid der anderen eben auch wieder vergessen zu können, um mit jeweils neuem Erstaunen empörender Ungeuerlichkeiten gewahr zu werden. Die schlimmen Kindheitserfahrungen Ika Hügel-Marshalls lassen sich nicht allein dem autoritären und heute zum Teil überkommenen gesellschaftlichen Klima der 50er Jahre zuschreiben. Nach wie vor ist der Kampf gegen eine rassistisch strukturierte Gesellschaft für die von ihr Verfolgten ein Kampf ums Überleben. Nicht zuletzt, um das klarzumachen, hat Ika Hügel-Marshall ihre persönliche Geschichte, sehr intime Gefühle und eine reife Selbstreflexion auf eine Weise eingesetzt, die nahegeht.