Schwarze Fahnen, Schwarze Haltung

| Jens Kastner

Marquis Bey: Anarcho-Blackness. Notes Towards a Black Anarchism. ak press 2020, Chico, CA/ Edinburgh, 123 Seiten, 9 Euro, ISBN-13: 9781849353755

Marquis Bey verknüpft in seinem Pamphlet „Anarcho-Blackness“ den Anarchismus mit queer-feministischer und Black Liberation-Theorie

„Hierzulande meinen die Anarchisten“, schrieb Huey P. Newton im November 1968, „daß sie sich nur individuell zu äußern brauchten, daß es genüge, die ihnen auferlegten Beschränkungen zu ignorieren, um ohne Führung und ohne Disziplin gegen einen äußerst disziplinierten, durchorganisierten, reaktionären Staat opponieren zu können“(1).
Newton, Mitbegründer der Black Panther Party und deren „Verteidigungsminister“, betont in diesem Text die Unterschiede in den Ausgangspunkten von weißen Linken und Schwarzen Aktivist*innen im Kampf um Befreiung. Während die Schwarzen noch kollektiv „als Volk unterdrückt“ (2) würden, hätten die Weißen schon das Privileg, sich der Befreiung der individuellen Seele zuwenden zu können. Auch sie aber würden erst frei sein, wenn es keine Unterdrückung mehr gebe. Newtons Artikel „Über die Beziehung von Anarchisten und Individualisten zum Revolutionären Kampf und zur Schwarzen Befreiungsbewegung“ erschien in The Black Panther, der von Newton und Bobby Seale 1967 gegründeten Zeitschrift der Partei.
Mehr als 50 Jahre später erscheint nun „Anarcho-Blackness“ (2020), die kleine theoretische Studie des Literaturwissenschaftlers Marquis Bey. Sie scheint im Titel schon den Gegensatz zu versöhnen, den der Black Panther betont hatte. Tatsächlich geht es Bey um Gemeinsamkeiten, um Verbindendes zwischen dem adjektivisch gebrauchten anarcho- und einem Schwarzsein, das er nicht an Hautfarbe gebunden wissen will. Was soll das heißen? Bey geht es nicht darum, die gängige Geschichte anarchistischer Theorie und Praxis um ein paar Schwarze Theoretiker*innen und Aktivist*innen aufzupeppen. Anarcho Blackness ist also keine Abhandlung über oder für Schwarze AnarchistInnen. Dafür verweist er auf Leute wie Lorenzo Kom’boa Ervin, die eine solche Geschichte geschrieben haben („Anarchism and the Black Revolution“, 1979). Anarcho Blackness wird vielmehr als Motiv verstanden, als eine Art antiautoritäre Leitlinie. Sie soll „die Logik des Anarchismus weiter vorantreiben“ („push anarchism`s logics further“; S. 17). Bey geht es darum, mittels queer-feministischer Theorie und theoretischen Ansätzen aus der Black Liberation-Tradition den Anarchismus zu radikalisieren. Bezogen auf den Eindruck, der angesichts anarchistischer Publikationen im deutschen Sprachraum entsteht, müsste es heißen: den Anarchismus erst mal auf den Stand der Dinge in Sachen Herrschaftskritik zu bringen.
Denn für Bey ist klar, dass ein Anarchismus, der seinem Anspruch gerecht werden will, auch die Kritik an Geschlechterverhältnissen und an Rassismus miteinschließt. Anarchismus könne keiner sein, wenn er Schwarze feministische Theorie nicht mit einbeziehe („if it does not heed Black feminist theory“; S. 62). Ausgehend von Michail Bakunins Diktum, dass wirkliche Freiheit keine individualistische Angelegenheit, sondern nur die Freiheit aller sein könne, skizziert Bey eine Tradition der Infragestellung von Hierarchien von den Aufständen der Schwarzen Sklav*innen bis zum Unterlaufen von dualistischen Geschlechternormen in Drag Performances. Ein nach Bey richtig verstandener Anarchismus muss antirassistisch sein, weil er keine Marginalisierung und Benachteiligung dulden kann; und er muss feministisch sein, nicht in dem Sinne, auch Frauen zu Präsidentinnen und Konzernchefinnen zu ermächtigen, sondern in dem, alle geschlechterbasierten Unterscheidungen zu unterwandern. Anarcho-Blackness ist in diesem Verständnis nicht nur eine Metapher für das Aufgreifen von Black Liberation-Theorie, sondern auch ein Plädoyer für die Überwindung von identitären Zuschreibungen. Obwohl er sich positiv auf das Combahee River Collective bezieht, jene Gruppe Schwarzer, lesbischer Sozialistinnen, die in den 1970er Jahren erstmals ein explizit emanzipatorisches Verständnis von Identitätspolitik entwickelt hatte, will er kollektive Identität nicht als Anker oder Ausgangspunkt politischer Aktion betrachten. Es ist die Ermöglichung von trans- (jenseits von, über hinaus), das ihn interessiert. Alles ist auf Verflüssigung und Überwindung ausgerichtet: Schwarzsein und Trans sollten als Ausflug in eine andere Form des Lebens begriffen werden („we must render Blackness and transness as an anarchic sashay into another way of life“; S. 84). Die Erprobung und Verwirklichung anderer Lebensformen als jener, die Kapital und Staat vorherbestimmen, ist die zentrale Zielrichtung, auf die das Buch zuläuft. Es endet mit dem Aufruf: „Tu was kannst, tu alles, was du kannst, wo du gerade bist und wo auch immer sonst du damit hinkommen wirst“ (S. 107). Und damit beginnen die Probleme ja eigentlich erst. So sympathisch es ist, andere, antihierarchische Lebensformen in den Blick zu nehmen und so richtig es ist, die Praxis als wichtigsten Bezugspunkt anarchistischer Theorie auszumachen, zeigen sich an diesem Punkt doch mindestens zwei Schwächen anarchistischer Konzeptionen – bei Bey und vielleicht überhaupt. Erstens bleibt erstaunlich unbestimmt, was den Staat eigentlich ausmacht. Außer, dass er gewaltsam Normen durchsetzt, erfahren wir nur sehr wenig über ihn. Zwar schließt Bey sich der an Gustav Landauer angelehnten Definition des Staates als soziales Verhältnis an: Dann aber nur Gewalt und nicht auch Kooptation und Partizipation in den Blick zu nehmen, die schließlich auch staatlich organisiert werden, ist inkonsequent. Es führt letztlich auch dazu, das „tu alles, was du kannst“ im Sinne der Revolution für stets möglich und machbar zu halten – und damit nicht erklären zu können, warum nur so wenige sich diesem Aufruf verschreiben.
Und zweitens werden, was angesichts des Buchtitels ebenfalls verwundert, soziokulturelle Differenzen unterschätzt. Hat Huey P. Newton nicht heute noch Recht damit, dass die Unterdrückungserfahrung den Ausgangspunkt der Befreiung stark mitbestimmt? Erleben etwa Schwarze Frauen nicht ganz andere Formen der Ausbeutung und Diskriminierung als weiße Männer? Und dementsprechend anders sieht in der Regel auch die befreiende Praxis aus, dementsprechend anders müsste sie auch konzeptualisiert werden. Gut, es ist nur ein dünnes Buch, das nicht alles leisten kann. Immerhin öffnet es Türen, die zwischen anarchistischer, queer-feministischer und Black Liberation-Theorie bislang verschlossen blieben oder zumindest stark klemmten.
Mit diesem Rekurs auf feministische Theorie geht es auch deutlich über den 51 Jahre alten Black Panther-Text hinaus. Dennoch hat auch dieser noch nicht sämtliche Aktualität eingebüßt. Huey P. Newton verfasste seinen Text schließlich auch in Auseinandersetzung mit dem Pariser Mai 1968. Die schwarzen Fahnen wehen im Geiste, Daniel Cohn-Bendit wird direkt adressiert und die mangelnde Bereitschaft zur Organisierung wird als zentrale Schwäche der Anarchist*innen grundsätzlich kritisiert. Nun hat Murray Bookchin gleich im Januar 1969 aus anarchistischer Sicht auf diese Vorwürfe reagiert und sie zurückgewiesen. Zum einen kenne er, schrieb Bookchin damals in einem offenen Brief, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keine AnarchistInnen, die nicht auch an Organisierung interessiert seien. Die Frage sei nicht, ob Organisation oder keine, „sondern welche Art von Organisation“ (3). Denn zum anderen habe schließlich die stalinistische Französische Kommunistische Partei, anders als Newton nahelegen würde, 1968 gerade nicht auf Seiten der Rebellierenden und „des Volkes“ gestanden. Bookchin spricht sich für hierarchiefreie Komitees und gegen disziplinierende Parteien mit ihren Parteisoldaten – „stumpfsinnigen Robotern, Kreaturen autoritären Trainings“ (4) – aus.

Bey greift diese Debatte allerdings nicht auf. Wäre er auf den Newton-Bookchin-Austausch eingegangen, hätte ihn das wohl auch von der falschen Behauptung abhalten müssen, auch die Black Panther Party weise wie Black Lives Matter und die Street Transvestite Action Revolutionaries (STAR) eine innere Verbindung zum Anarchismus auf („bear affinities with anarchism“, S. 90). Was Bey aber implizit aufgreift ist der anti-autoritären Impetus, der sich bei Bookchin äußert. Gegen Disziplinierung und für rebellisches Alltagsleben, das kristallisiert sich auch als Beys Credo heraus. Es ist letztlich das, was er unter Blackness versteht. Indem er Schwarzsein so positiv als Haltung definiert – und weniger als gewaltförmige Zuschreibung –, als „kritische Art und Weise“ („critical modality“; S. 104), sich der Realität verändernd entgegenzustellen, wendet er sich zu Recht gegen Biologismen aller Art. Es hält ihn aber zugleich davon ab, die Frage nach der Organisierung derjenigen zu stellen, die von staatlichen Normierungen und kapitalistischen Ausbeutungen ganz unterschiedlich marginalisiert werden.

1) Huey Newton: „Zur Verteidigung der Selbstverteidigung. Über die Beziehung von Anarchisten und Individualisten zum Revolutionären Kampf und zur Schwarzen Befreiungsbewegung“ [1968]. In: Gerhard Amendt (Hg.): Black Power. Dokumente und Analyse. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, S. 76-80, hier S. 78. Dass der Text nicht im Februar 1968 erschienen sein kann, wie es unter der deutschen Version heißt, ergibt sich schon aus den Ereignissen, die darin diskutiert werden. 2) Ebd., S. 79. 3) Murray Bookchin: „Anarchy and Organization: A letter to the left“ [1969]. In: https://theanarchistlibrary.org/library/murray-bookchin-anarchy-and-organization-a-letter-to-the-left [Übers. J.K.] 4) Ebd.