Francis Seeck und Brigitte Theißl (Hg.): Solidarisch gegen Klassis-mus: organisieren, intervenieren, umverteilen. Unrast-Verlag, Münster 2020, 280 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-89771-296-6
Deutschland hat kaum Tradition von Arbeiter_innenliteratur oder -selbstbildung. Anders als Schweden, wo seit Anfang des 20. Jahrhunderts Arbeiter_innen, die sich das Schreiben selbst beigebracht hatten, Romane, Gedichte und Theaterstücke verfasst haben, die längst zu einem wichtigen Teil des kulturellen Erbes geworden sind und immer neue Vertreter_innen der so genannten „unteren Schichten“ (wie auch mich) angeregt haben, ihre Erfahrungen und Sichtweisen in ihren eigenen Stimmen und Dialekten auf Papier zu bringen. (1) Die Gründe für den Unterschied sind im Großen und Ganzen die Zerschlagung der Arbeiter_innenbewegung in Deutschland durch den Nationalsozialismus, wie auch, dass das kulturelle Erbe der DDR nach der Wiedervereinigung in Vergessenheit versetzt wurde. (2)
Sogar mehr als die Themen des Untertitels ist das durchgehende Thema der Anthologie Solidarisch gegen Klassismus: organisieren, intervenieren, umverteilen die Sprachlosigkeit der Arbeiter_innenklasse in Deutschland. Die Autor_innen setzen sich zum einen mit der Sprachlosigkeit auseinander: Wie von ihnen erwartet wurde, eine ganz andere Sprache zu lernen, um an Hochschulen und in bürgerliche Kreise reinzupassen, um gehört und ernst genommen zu werden. Ihre eigenen Sprachen und Dialekte wurden derart stigmatisiert, dass sie das akademische Hochdeutsch nicht als Zweitsprache lernten, sondern ihre Muttersprache, den heimischen Dialekt, verlernten. Zum anderen bietet die Anthologie an sich praktische Beispiele von Sprachlosigkeit. Absurd viele der Texte sind in akademischer Sprache verfasst, obwohl die Herausgeber_innen gegen die Akademisierung der antiklassistischen Bewegungen Stellung nehmen. Und kaum ein_e Autor_in verwendet z.B. eine marxsche Herangehensweise, mit Ausnahme der BASTA!-Aktivist_innen.
Die Herausgeber_innen kritisieren auch, dass es zu wenige klassengemischte Auseinandersetzungen über Klassismus gibt. Allerdings sind fast alle Autor_innen Arbeiter_innenkinder mit Hochschulabschlüssen (oder „Poverty-Class-Academics“, wie Tanja Abou es in ihrem Text auf Akademisch-Denglisch nennt). Wenn Personen ohne höhere Studien zu Wort kommen, dann geschieht dies (mit Sabto Schlautmann als einziger Ausnahme) durch ein Interview, das von studierten Redakteur_innen durchgeführt und bearbeitet wurde. Tatsächlich haben in den letzten Jahrzehnten, u.a. mit Hilfe von BAföG, immer mehr Arbeiter_innenkinder studiert. Die Autor_innen sind die ersten in ihren Familien, die jemals studiert haben. Trotzdem betrifft das, nicht zuletzt in Deutschland mit seinen enormen Klassenunterschieden in der Bildung (thematisiert von Andreas Kemper in seinem Beitrag), immer noch einen kleineren Teil des Proletariats.
Solidarisch gegen Klassismus scheint sich zudem seltsam oft an bürgerliche Leser_innen zu richten, wie mit der wiederkehrenden und irritierenden Interviewfrage: „Was wünscht ihr euch von Aktivist_innen mit Klassenprivilegien aus dem Bürgertum?“ (Die immerhin von mehreren Interviewten mit einer Variation von „zuhören und Fresse halten“ beantwortet wird.)
In den recht wenigen, aber sehr interessanten Texten, die sich mit organisieren, intervenieren, umverteilen beschäftigen, lassen sich zwei hauptsächliche Werkzeuge erkennen. Die Selbstorganisation, um gemeinsam eine Sprache für das Erlebte zu finden und um zu erkennen, dass es nicht individuelle Probleme sind, sondern gesellschaftliche, kollektive – also um ein Klassenbewusstsein zu entwickeln. Sowie die Umverteilung von Mitteln: eine gemeinsame Ökonomie, das anonyme Umverteilungskonto der Prololesben, die Vermögensaufstockung im Konzeptwerk Neue Ökonomie, oder die kostenlose Hilfe beim Hausbau aus der russlanddeutschen Community. In den Beispielen geschieht die Umverteilung selbstorganisiert und auf freiwilliger Basis – es fehlt eine radikalere Perspektive, z.B. von kämpferischen Gewerkschaften.
Auf die Überschneidungen von Klassismus mit Diskriminierung aufgrund von Herkunft, Geschlecht oder Behinderungen wird in mehreren Texten aufmerksam gemacht. Nebenbei sei angemerkt, dass es mich wundert, dass in einer Anthologie über Klassismus aus Deutschland die Linie der Diskriminierung zwischen West und Ost nicht erwähnt wird. Sofern der Osten Thema ist, wird es in Klassismus allgemein eingeordnet, wie bezüglich der Medienberichte über den „Nazi-Ork aus Hellersdorf“. Hoffentlich trägt diese Anthologie dazu bei, dass immer mehr Arbeiter_innenliteratur und Literatur über (Anti-)Klassismus erscheinen wird, in immer größeren Bandbreiten!
(1) Mehr zu diesem Thema: Philipp Wagner: Glück auf! Für neue Perspektiven zur Arbeiterliteratur, Goethe-Institut Schweden, https://www.goethe.de/ins/se/de/kul/sup/ltk/21675333.html
(2) Mehr siehe: Anne M. N. Sokoll: Die schreibenden Arbeiter der DDR: Zur Geschichte, Ästhetik und Kulturpraxis einer „Literatur von unten“, transcript Verlag, Bielefeld 2020.