Der Dannenröder Forst ist ein wunderschöner, uralter und ökologisch wertvoller Mischwald in der Nähe von Marburg / Hessen. Um seine Rodung zugunsten eines Autobahnprojekts zu verhindern, beteiligte sich die Umweltaktivistin Ella an der monatelangen Waldbesetzung. Seit der Räumung ihres Camps vor über einem halben Jahr sitzt sie nun in der JVA Frankfurt. Für die Behörden heißt Ella UWP1, da sie ihre Identität nicht preisgibt. Die Staatsanwaltschaft Gießen wirft ihr vor, bei der Räumung Widerstand gegen die Staatsgewalt geleistet zu haben.
Ella ist seit dem 27. November 2020 in U-Haft. Am 25. Mai begann ihre Hauptverhandlung. Das bedeutet über 6 Monate Freiheitsentzug, bis überhaupt der erste Verhandlungstermin stattfand. Also 180 Tage ohne Selbstbestimmung, ohne Aussicht auf Besserung und ohne Ausweg.
Seit ihrer Inhaftierung habe ich mich mit dem Thema und den Ungereimtheiten dahinter beschäftigt. Die Erfahrungen, die ich persönlich in dieser Zeit in autonom linken Strukturen machen durfte, haben mich auch noch dafür sensibilisiert. Plötzlich waren Gefängnisse überall präsent, Repressionen und Gewalt in vielen Formen immer da. Auch wir als Gemeinschaft sind dabei oft an unsere Grenzen gestoßen und mussten mit Themen umgehen, die nur schwer in unsere idealistische Utopie gepasst haben. Es schien, als sei eine der grundlegendsten Fragen des Zusammenlebens: „Wie gehen wir mit Menschen um, die nicht nach unseren Regeln spielen?“. Der Staat löst diese Frage derzeit mit Gewalt, mit Isolation und Freiheitsentzug. Potentielle Störfaktoren für die Gesellschaft werden aus ihrem Umfeld geholt und in ein gewaltvolleres und unterdrückendes Umfeld im Knast gesteckt. Um den Rest der Gesellschaft vor ihnen zu schützen. Zusammen mit der bürokratischen Lage und struktureller Benachteiligung heißt das dann, dass z.B. Ella bereits jetzt mit einem halben Jahr ihrer Freiheit bezahlt hat, nur weil sie angeblich nicht nach den Regeln des Staates gespielt hat.
In den letzten 6 Monaten haben wir häufig darüber gesprochen, wie ungerecht das alles ist. Haben uns eine Welt ohne Gefängnisse erträumt und mussten auch selbst lernen, mit Repression umzugehen. Ich habe auch gelernt, wie tiefgreifend diese Utopie von einer Welt ohne Knäste eigentlich ist und wie sehr sie unser alltägliches Handeln beeinflussen muss. Wie funktioniert ein Zusammenleben, wenn du Menschen nicht einfach als Strafe aus der Gesellschaft ausschließen kannst? Wie funktioniert eine Gesellschaft ohne Gewaltmonopol? Können wir es schaffen, zusammen zu leben, auch ohne Angst vor Repressionen und Strafen? Ella schreibt in einem ihrer Briefe (13.05.21): „Es ist ein trauriger Zustand, aus der niedrigsten aller menschlichen Emotionen, der Angst, zu herrschen und beherrscht zu werden. Die Angst vor Bestrafung, die Angst, keine Belohnung zu bekommen, die Angst vor dem Verlust der Kontrolle über andere, anstatt uns einfach von uns selbst leiten zu lassen in dem, was wir wünschen. Wenn es die Angst ist, die uns von dem wegzieht, was wir nicht wollen, dann ist es die Liebe, die uns zu dem hinzieht, was wir wollen.“
Ich würde mir sehr wünschen, dass wir mal ein paar Schritte zurückgehen und uns wirklich Zeit nehmen, uns als Gemeinschaft darüber Gedanken zu machen, wie wir mit Grenzübertritten und Regelbrüchen umgehen können, wie wir die Betroffenen wirklich hören und den Grenzübertreter*innen die Möglichkeit geben können, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen.
Ich lese daraus vor allem die Regierung der Angst und der Verbote. Als wäre die Welt voller negativer Magnete, die sich alle gegenseitig abstoßen. Es ist die Angst, die uns von dem wegzieht, was wir nicht wollen. Ich will keine Welt nur mit negativen Magneten. Ich will Reibung und Anziehung, vor allem will ich eine Abschaffung der Angst und des Gewaltmonopols. Ella schreibt, es braucht Liebe, die uns zu dem hinzieht, was wir wollen. Als Gegenpol zur Angst.
Auch wir hatten Grenzübertritte und Regelbrüche in den letzten 6 Monaten. Oft war unsere Antwort der Ausschluss aus der Gesellschaft. Unsere Strafe war der soziale Ausschluss aus unserer Gemeinschaft. Auch wenn wir die Menschen nicht isoliert haben und sie nicht weggesperrt haben, haben wir doch kollektiv beschlossen, dass wir ihre Regelbrüche nicht innerhalb der Gemeinschaft tragen können. Auch wenn wir jeden Tag versuchen, alles besser und richtig zu machen, unterscheidet sich unser zu Grunde liegendes Verhaltensmuster nicht wesentlich von dem des Staates. Und das kann ja wohl nicht unser Ernst sein.
Ich würde mir sehr wünschen, dass wir mal ein paar Schritte zurückgehen und uns wirklich Zeit nehmen, uns als Gemeinschaft darüber Gedanken zu machen, wie wir mit Grenzübertritten und Regelbrüchen umgehen können, wie wir die Betroffenen wirklich hören und den Grenzübertreter*innen die Möglichkeit geben können, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Ich finde, das sind wir all unseren Mitkämpfer*innen schuldig, die unter diesem Handlungsmuster des Staates leiden müssen und mussten. Und ohne diesen Schritt zurück wird es auch keine großen Schritte nach vorn Richtung Utopie geben. Wir können unsere Magnete nur umpolen, wenn wir unser Handlungsmuster von der untersten Ebene anfangen zu ändern. Bei uns, unserem direkten Umfeld, unserer Gemeinschaft.
Ella sagt: „Der Geist, der uns dazu treibt, uns selbst zu organisieren und als Teil der Natur zu leben, ist keine Bedrohung, sondern ein Gewinn für die Natur, ist keine Bedrohung, sondern ein Gewinn für andere Menschen. Wir wissen das, weil wir auf einem schönen Planeten leben, auf dem alles miteinander zusammenhängt. Es liegt an den anderen, das zu erkennen.“
Also lasst uns mal so starke Magnete sein, dass wir das negative Gewaltmonopol des Staates umpolen können. Für Ella, für alle anderen politischen Gefangenen, und für unsere eigene Zukunft. Ohne Knäste, verdammt.
Dies ist ein Beitrag der Online-Redaktion, Schnupperabos der Druckausgabe zum Kennenlernen gibt es hier.