„Effektive Polizeiarbeit“ – Unter dieser Überschrift kündigte die in NRW regierende Koalition aus CDU und FDP an, ein Landesversammlungsgesetz zu erlassen, welches das derzeit geltende Bundesgesetz ersetzen würde. Der Gesetzentwurf liegt nun seit Januar vor. Wie bereits bei den Änderungen am Polizeigesetz im Jahr 2018 soll die Position der Polizei gestärkt werden, diesmal im Zusammenhang mit Demonstrationen, Kundgebungen, Mahnwachen und anderen Versammlungen und zum Teil sogar im Rahmen von öffentlichen Veranstaltungen wie Fußballspielen. Über die neuen gesetzlichen Änderungen und ihre Bedeutung für die Versammlungs-Teilnehmer:innen schreibt für die Graswurzelrevolution das Bündnis „Versammlungsgesetz NRW stoppen – Grundrechte erhalten!“ (GWR-Red.)
Jede Teilnahme an einer Versammlung ist von der Änderung des Versammlungsgesetzes betroffen. Sobald beispielsweise auch nur hundert Personen bei einer Kundgebung stehen bleiben, wäre es je nach juristischer Auffassung in Zukunft der Polizei erlaubt, Kameras für sogenannte Übersichtsaufnahmen einzusetzen. Dabei bestätigen Gerichtsurteile, dass Polizeikameras unstreitig von der Teilnahme an Versammlungen abschrecken, zumal nicht auszumachen wäre, ob die Polizei die Voraussetzungen für weitere Maßnahmen als gegeben ansieht, wie etwa, dass weitere Kameras nicht erkennbar eingesetzt werden, Bild und Ton aufgezeichnet werden, per Ausschnittvergrößerung die Reaktion jedes einzelnen Menschen studiert wird, oder biometrische Daten gesammelt werden. Auch in die Versammlung entsandte Zivilpolizist:innen müssten sich zukünftig nicht mehr bei der Versammlungsleitung als solche zu erkennen geben.
Schon vor Erreichen einer Versammlung sollen Personen und ihre Sachen von der Polizei durchsucht werden dürfen, wonach dann über weitere Maßnahmen beginnend mit einer Identitätsfeststellung entschieden wird. Hier geht es neben tatsächlichen Waffen auch um alltägliche Gegenstände, die dazu geeignet sein könnten, die Identität zu verschleiern (Vermummung) oder Gewalteinwirkung von Seiten der Polizei abzumildern (Schutzausrüstung). Dieses muss lediglich mit einer unterstellten verbotenen Absicht der Demoteilnemer:innen begründet werden.
Begründung und Bedeutung
Zur Begründung ihres Gesetzentwurfs dient der Landesregierung u.a der Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1985. Dabei wird die zentrale Aussage des Beschlusses über die Wichtigkeit von Formen unmittelbarer Demokratie ignoriert: „Namentlich in Demokratien mit parlamentarischem Repräsentativsystem und geringen plebiszitären Mitwirkungsrechten hat die Versammlungsfreiheit die Bedeutung eines grundlegenden und unentbehrlichen Funktionselementes.“ Dies gelte insbesondere für Einzelne, die sich nicht für die Mitwirkung in einer Partei oder einem Verband entscheiden mögen.
Seit dem Brokdorf-Urteil von 1985 sind diverse neue Möglichkeiten entstanden, seine politischen Ansichten kundzutun. Dies kann die Wirkmacht einer Versammlung allerdings nicht ersetzen. Oft zögern Menschen, sich zum ersten Mal einer Demonstration anzuschließen, deshalb ist ein niederschwelliger Zugang wichtig. Durch Kontrollstellen, Übersichtskameras und Befugnisse, die unwägbare Sanktionsrisiken mit sich bringen, kann leicht die Bereitschaft verloren gehen, sich an einer Versammlung zu beteiligen und nachfolgend vielleicht auch in Zukunft aktiv am politischen Leben teilzunehmen. Protest und Kritik müssen öffentlich geäußert werden, um die Zukunft zu gestalten und frühzeitig auf Fehlentwicklungen oder nötigen Wandel hinzuweisen. Dies zeigen die Debatten, die durch die Proteste am Hambacher Forst und die regelmäßigen Demonstrationen von Fridays For Future (FFF) an Fahrt gewonnen haben. Bei einer gemeinsamen Protestversammlung gegen rechte Demonstrationen können die Teilnehmenden sich darüber hinaus in der Dringlichkeit ihres Widerstands bestärken und den von rechter Gewalt Betroffenen zeigen, dass sie nicht allein gelassen werden. Aus diesen Gründen wirkt das Versammlungsrecht auf einen neuralgischen Punkt der Gesellschaft ein.
Die 47 Seiten umfassende Begründung des Gesetzentwurfs der Landesregierung vermittelt in weiten Teilen den Eindruck, dass bestimmte Arten von Versammlungen gesetzlich unter Kontrolle gebracht werden sollen. Drei Absätze gelten ganz allgemein links- oder rechtsextremistischen Versammlungen. Ein Absatz nennt abwechselnd den „Schwarzen Block“, „neonazistische Gruppierungen“, „Garzweiler“ und „Rechtsextremisten“. Sechzehn weitere Absätze charakterisieren eher als links einzustufende Aktionsformen als Problem, wie Gegendemonstrationen, Blockaden und reine Blockadetrainings, Demonstrationen auf der Autobahn sowie den Zivilen Ungehorsam gegenüber dem Braunkohletagebau. Einige Punkte wie das Einschüchterungs- und ein erweitertes Vermummungsverbot sollen auch für sonstige öffentliche Veranstaltungen unter freiem Himmel eingeführt werden und zielen somit speziell auf Fußballfans ab.
„Beschränkungen“
Die Organisation und Durchführung einer Versammlung wird durch den Gesetzentwurf erschwert und muss Eingriffe in ihre Selbstständigkeit erdulden. Einige kritische Expert:innen sprechen daher von einer Degradierung der Versammlungsleitung zum Hilfspolizisten.
Speziell für Proteste gegen die Braunkohleverstromung mit bestimmten Ausprägungen Zivilen Ungehorsams stellt die Gesetzesbegründung eine Anleitung bereit, wie die Polizei in Zukunft besser gegen diese vorgehen kann. Der Gesetzentwurf nennt als Beispiel für Beschränkungen ausdrücklich „Verfügungen zum Ort und zum Verlauf der Veranstaltung“. Motiviert wird dies in der Begründung unter anderem mit dem Gefährdungspotential auf Grubenrandstraßen im Zusammenhang mit dem Tagebau. Schließlich erinnert die Begründung noch daran, dass, sollte die Versammlung trotz der bisherigen Maßnahmen zustande kommen, eine Versammlungsauflösung und das Vorliegen von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten zu prüfen sei. Die Behinderung von Protestformen am Braunkohletagebau mit allerlei Tricksereien hat eine unselige Tradition bei der Landesregierung. Dies zeigt z. B. die Anwendung des Baurechts, um die Baumhäuser im Hambacher Forst zu räumen.
Historisch betrachtet sind Demonstrationen ein wichtiges Element der Demokratisierung, wie z. B. der Kampf für das Frauenwahlrecht. 1899 hatte ein Frauenstimmrechts-Verband damit begonnen, sich mit Vorträgen und Petitionen politisch zu betätigen, wobei sie sich über Vereinsgesetze hinwegsetzen mussten. Die Hamburgerin Heymann weigerte sich öffentlichkeitswirksam, Steuern zu bezahlen, da man sie offensichtlich nicht als Bürgerin sehe, wenn man ihr das Stimmrecht vorenthalte. Während sich in Großbritannien Suffragetten an Absperrgitter des Parlaments ketteten, gestaltete es sich in Deutschland für Frauen schon als schwierig, eine Demonstration durchzuführen, ohne dass dies polizeilich verhindert wurde. Bereits 1873 hatte Hedwig Dohm mit dem Satz „Die Gesetze […] sind gegen sie, weil ohne sie.“ ungerechte Gesetze in Frage gestellt und die damalige Frauenbewegung erheblich gestärkt.
Bedrohung der Protestformen und ihre Auswirkungen
Zurück zur aktuellen Bedrohung der Versammlungsfreiheit durch den Gesetzentwurf der Landesregierung: Er erlaubt zur Gefahrenabwehr, die Namen und Adressen aller Ordner:innen anzufordern, und diesen und der Versammlungsleitung eventuell die Eignung abzusprechen. Es könnte daher eine logistische Herausforderung darstellen, schon Tage vor einer Versammlung genügend Ordner:innen zu finden, die nichts gegen eine eventuelle nachrichtendienstliche Erfassung einzuwenden haben, und die dann auch nicht abgelehnt werden. Besonders sich neu formierende Bewegungen hätten hier erhebliche Schwierigkeiten, ihr Recht auf Versammlungsfreiheit überhaupt wahrzunehmen. Die neu gefasste Option, einen privaten Sicherheitsdienst zu engagieren, dürfte ihnen aus finanzieller Sicht schwer fallen.
Auf die Störung anderer Versammlungen soll leichter etwa mit dem Ordnungswidrigkeitenrecht reagiert werden können, was sich eindeutig gegen antifaschistische Gegenproteste richtet – wenn schon das Abspielen lauter Musik vor Gericht endet (siehe GWR 458).
Ein neues Militanzverbot überlässt es der Polizei, zu qualifizieren, ob etwas „in vergleichbarer Weise Gewaltbereitschaft vermittelt und dadurch einschüchternd wirkt“ wie paramilitärisches Auftreten. Der Innenminister erinnerte bei der Vorstellung des Entwurfs an hundert Neonazis, die 2018 in Dortmund im Gleichschritt marschiert seien, als wäre wieder 1933. Aber ist es nicht scharf zu kritisieren, dass der Nationalsozialismus verharmlost wird, wenn nicht nur neonazistische Gruppierungen, sondern auch der sogenannte „Schwarze Block“ und Menschen in weißen Overalls „bei den Garzweiler-Demonstrationen im Sommer 2019“ dem Gefahrenbild von SA und SS entsprechen sollen? Im Übrigen hätte der Naziaufmarsch in Dortmund auch mit dem aktuellen Versammlungsrecht verhindert werden können, wenn es denn gewollt gewesen wäre.
Fazit
Neben sehr viel offensichtlich Kritischem gibt es auch einige positiv anmutende Änderungen. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch klar, dass auch diese nicht mehr sind als eine Normierung der aktuell geltenden Rechtsprechung. Dies betrifft Eil- und Spontanversammlungen sowie den Schutz von Gedenktagen. Das Engagement von Fridays for Future belohnt die Regierung schulmeisterlich-gönnerhaft mit der Aufhebung einer Volljährigkeitsvoraussetzung für Ordner:innen.
Insgesamt gibt der Entwurf der Polizei mit vielen neuen Eingriffsvoraussetzungen die Möglichkeit, speziell linke unliebsame Versammlungen einzuschränken und als Gefahr zu brandmarken (Ordner:innendaten, Kontrollstellen, Übersichtskameras). Dagegen wird die Kontrolle der Polizei nicht ausgebaut, z. B. durch eine Kennzeichnungspflicht, was angesichts von Berichten über unverhältnismäßige oder diskriminierende Polizeimaßnahmen angebracht wäre.
nrw-versammlungsgesetz-stoppen.de