Peter Cole: Ben Fletcher. The Life and Times of a Black Wobbly, PM Press, Oakland/CA, 2021, 324 Seiten, 24,95 US-$, bestellbar in Europa über europe@pmpress.org
Peter Cortin, ein Vorarbeiter, meinte über den afrikanisch-amerikanischen Organizer der Industrial Workers of the World (IWW oder auch Wobblies), Ben Fletcher, dieser hätte in all den aufopferungsvollen Streiks seiner legendär gewordenen Ortsgruppe „Local 8“ in Philadelphia in den 1910er-Jahren „den Leuten immer dazu geraten, tolerant zu bleiben und für ihre Ziele durch friedfertige Mittel einzutreten“ (S. 40). Fletcher war ein undogmatisch-sozialistischer Vorreiter für die solidarische, nicht-segregierte und integrierte Zusammenarbeit zwischen afrikanisch-amerikanischen und weißen Arbeiter*innen (Hafenarbeiter und Textilarbeiterinnen), Letztere zumeist aus der europä-ischen Immigration. Was Fletcher und die Local 8 damals beispielhaft vorlebten, musste in den Sechzigerjahren durch die US-Bürgerrechtsbewegung erst wieder erkämpft werden und wird derzeit in den USA durch die reformistisch-rassistischen Gewerkschaften (AFL-CIO), die weitgehend Trump wählten, schon wieder infrage gestellt. Der US-amerikanische IWW-Forscher Peter Cole hat auf Englisch mehrere Bücher über die Arbeiterschaft der Local 8 und ihren „interracial unionism“ publiziert, u. a. „Wobblies on the Waterfront“ (2013), und schon davor, 2007, eine erste Fletcher-Biografie. Die nun vorliegende, überarbeitete und erweiterte 2. Edition ist jedoch doppelt so umfangreich.
Fletcher und die legendäre Frühphase der Local 8 in Philadelphia
Von Ben Fletchers Familie gibt es so gut wie keine schriftliche Spur, wie von Hunderttausenden, die aus dem sklavenhalterischen Süden der USA in die nördlichen Metropolen wie Philadelphia zogen. Erst durch seinen Eintritt in die IWW 1910 tauchte sein Name in schriftlichen Unterlagen auf. Er schrieb für die IWW-Zeitung „Solidarity“, und schon 1912 war er ein respektierter Organisator von Streiks (Organizer). 1913 kam es zum Bruch zwischen der wahlorientierten Socialist Party und der IWW, die direkte Aktionen wie Streiks und Sabotage propagierte (S. 11). Fletcher war dann prägender Aktivist beim zweiwöchigen erfolgreichen Streik von 1913, der zur Gründung der Hafenarbeiter-Gewerkschaft Local 8 führte. Flankiert wurde das vom Streik der Textilarbeiterinnen, ebenfalls 1913, bei dem Fletcher in „Solidarity“ auf die wichtige Rolle der aus der europäischen Immigration stammenden jüdischen Organizerin Matilda Rabinowitz hinwies (S. 69f.). Von den anfangs 4.000 Hafenarbeitern der Local 8 waren mehr als 50 % afrikanisch-amerikanisch (S. 13). Sie hatten einen leichteren Zugang zu weißen Arbeitern aus der Immigration und konnten deshalb die vollkommen integrierte Gewerkschaft ohne rassistische Konflikte neun Jahre lang aufrechterhalten. Der Sieg im Gründungsstreik 1913 wurde am 28. Mai errungen, erbrachte höhere Löhne, besonders bei Überstunden und an Feiertagen, sowie die Anerkennung eines repräsentativen Arbeiterkomitees durch die Schiffseigner. Damals gab es nur mündliche Übereinkünfte, doch die Gewerkschaftsmitglieder erhielten bei Eintritt einen IWW-Button, wodurch dafür gesorgt wurde, dass nur Mitglieder angestellt wurden und ihre Arbeitermacht gefestigt blieb. Der 28. Mai wurde jedes Jahr durch Arbeitsniederlegung gefeiert, selbst mitten im Ersten Weltkrieg. Wenn doch versucht wurde, Nicht-Gewerkschafter als Streikbrecher anzustellen, warfen die Matrosen auf den Schiffen in Solidarität „Abfälle und Flaschen“ auf sie. Von den Kapitalisten gefürchtet waren die so genannten Quickie-Streiks der Local 8, bei denen nach einer ungerechten Behandlung auch nur eines einzelnen Local 8-Arbeiters plötzlich kollektiv alle Hafenarbeiter für die Be- oder Entladung eines Schiffes nach Hause gingen. Das brachte die eng getaktete „the ship must sail in time“-Profitlogik des Kapitalismus völlig aus dem Tritt (S. 18f.).
Erster Weltkrieg, Knast und interne Spaltungen durch den Parteikommunismus
Als die USA im April 1917 in den Ersten Weltkrieg eintraten, folgte gleich im Juni der „Espionage Act“ gegen die Anti-Kriegsbewegung, wobei die IWW als größte Gefahr gegen die Kriegsmaschine angesehen wurde. Dabei hatte sich nur die IWW in Kanada und Australien vollständig gegen den Krieg ausgesprochen, die US-Sektion der IWW überließ dies ihren Mitgliedern. So arbeitete ein Teil der IWW-Leute für den Transfer von Kriegsmaterial nach Europa, auch Fletcher übrigens, während andere „Fellow Workers“ solche Arbeit verweigerten oder Sabotage propagierten. Doch für die Herrschenden machte das kaum einen Unterschied. Fletcher wurde vier Monate gesucht und im Februar 1918 verhaftet. Der große Prozess in Chicago gegen 93 IWW-Angeklagte fand im April 1918 statt. Es war der längste Prozess der US-Geschichte, die Anklage lautete auf Vorbereitung eines Generalstreiks. Fletcher wurde zu zehn Jahren im berüchtigten Bundesknast von Leavenworth, Kansas, verurteilt, wo er die IWW-Kriegsdienstverweigerer wiedertraf. Durch spendenfinanzierte Kautionen kam er zeitweilig frei, etwa 1920, als er seine Organizer-Qualitäten gleich wieder beim Mammut-Streik von Juni 1920 in Baltimore einsetzte, mit dem sich die ganze Stadt solidarisierte.
Im Knast zurück organisierte Fletcher seine Mitgefangenen gegen die brutale Willkür der Aufseher und gab mit anderen Gefangenen eine Knastzeitung heraus (S. 34ff.). Insgesamt sechsmal wurde er wegen Widerstand gegen Knastgesetze und Befehlsverweigerung zu zeitweiliger Isolationshaft verurteilt. 1922 wurde seine Strafe schließlich auf Bewährung ausgesetzt, und erst 1933 wurde er vollständig begnadigt (S. 254).
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs im November 1918 folgte eine Phase jahrelanger interner Spaltungen und Ausschlussverfahren, verursacht durch das Auftreten der Kommunistischen Partei der USA und ihren Versuch, die IWW zur leninistischen Avantgarde-Organisation umzuwandeln. Hatte sich die IWW noch im Herbst 1920 von der Sowjetunion abgegrenzt, so sorgten bolschewistische Funktionäre, die zeitweilig an der Spitze der IWW agierten, für zwei direkt aufeinanderfolgende Ausschlüsse der gesamten Local 8 aus der IWW. Insbesondere handelten die Kommunist*innen gegen schwarz-weiß gemischte Industriegewerkschaften, was im Laufe der Zwanzigerjahre zu einem starken Rückgang der afrikanisch-amerikanischen Mitgliederzahlen führte. Fletcher trat entschieden antibolschewistisch und für die Unabhängigkeit der IWW auf, bis sich die Leninist*innen dazu entschieden, nunmehr die reformistische AFL-CIO zu übernehmen, wodurch es zu einer aggressiven KP-Politik der versuchten Zerstörung der IWW kam. So hielten nach 1922 rassistische Konfliktlinien auch in der Local 8 erstmals seit Gründung Einzug (S. 46f.).
Fletchers Arbeit als Organizer und Redner blieb ungebrochen bis zu seinem Schlaganfall 1933, als er 42 Jahre alt war. In den Zwanzigern war Ben Fletcher mit einer Weißen verheiratet, war dann, nach der Scheidung, einige Zeit Single, bevor er um 1931 eine afrikanisch-amerikanische Krankenschwester, Clara, heiratete, die ihn nach dem Schlaganfall versorgte, während er Gelegenheitsjobs verrichtete oder arbeitslos blieb. Ben Fletcher starb 1949 in Brooklyn/New York. Dieser Werdegang wird im zweiten Teil des Buches reichhaltig dokumentiert durch insgesamt 96 Primärquellen und kommentierte Artikel von Ben Fletcher aus der Arbeiterpresse der IWW und am Ende (S. 269, 286, 289) auch durch die Erinnerungen von Esther, Sam und deren Sohn Anatole Dolgoff, dessen Buch „Links der Linken. Sam Dolgoff und die radikale US-Arbeiterbewegung“ (Verlag Graswurzelrevolution, 2020) nicht
weniger als vier Kapitel über Ben Fletcher enthält.