Michael Seemann: Die Macht der Plattformen. Christoph Links Verlag, Berlin 2021, 448 Seiten, Print: 25,00 Euro, E-Book 9,99 Euro, ISBN: 978-3-96289-075-9.
Diskussionen über die Schattenseiten des Internets und die Marktmacht der großen Internetfirmen – Facebook, Amazon, Google und so weiter – werden häufig sehr moralisch geführt: Bei Amazon darf man nicht kaufen, auf Facebook sollte man eigentlich nicht sein, statt Google besser eine andere Suchmaschine benutzen. Doch der moralische Zeigefinger funktioniert bei diesem Thema als politische Strategie noch schlechter als sonst, und das hat Gründe.
Der Kulturwissenschaftler Michael Seemann analysiert in seinem Buch, woher die Macht der Internetgiganten kommt und welche Bedeutung das für Ökonomie und Politik hat. Es ist eine Doktorarbeit und entsprechend komplex in der Argumentation, aber trotzdem verständlich geschrieben. Unterfüttert mit zahlreichen Beispielen erfährt die Leserin, wie sich die verschiedenen Plattformen entwickelt haben, was letztlich zu ihrem Durchbruch geführt hat, warum andere Plattformen hingegen nicht erfolgreich geworden sind.
Dabei wird deutlich, wie eng politische und ökonomische Faktoren hier zusammenwirken. Die Macht von Internet-Plattformen entsteht nicht auf dieselbe Weise, wie ökonomische Macht im Kapitalismus herkömmlicherweise entsteht, nämlich dadurch, dass staatliche Gesetze die kapitalistischen Akteure stützen, zum Beispiel ihre Eigentumsrechte sichern oder Streiks erschweren. Sondern Plattformen entwickeln Macht durch Netzwerkeffekte, was bedeutet, dass ihre Macht daraus entsteht, dass sehr viele Menschen sie nutzen, und zwar letzten Endes freiwillig. Wenn auf Apple-Computern eine bestimmte „Killer-Applikation“ installiert ist, die alle Menschen haben wollen, dann werden die Kund:innen Apple-Computer kaufen, auch wenn andere Marken vielleicht besser und billiger sind. Wenn alle Leute, die ich kenne, auf Facebook sind, dann werde ich mich dort vernetzen und nicht woanders, wo Daten und Privatsphäre vielleicht besser geschützt wären. Die traditionellen Mechanismen der Konkurrenz um das bessere Produkt sind daher außer Kraft gesetzt. Aber auch staatliche Politik hat gegen diese Netzwerkeffekte kaum eine Handhabe, jedenfalls keine demokratisch legitimierte – in China mag es anders sein. Aber in Demokratien haben Plattformen tendenziell sogar mehr Macht als Staaten, auch weil sie global agieren, während wir im politischen Bereich immer noch auf der Ebene von Nationalstaaten operieren.
Interessant fand ich Seemanns These, dass die Herrschaft, die Plattformen ausüben, besser analog zum Kolonialismus gedacht werden kann als zum Kapitalismus. Er beschreibt den Weg einzelner Plattformen zur globalen Vormachtstellung als „Landnahme“ für einen bestimmten Lebensbereich: Facebook organisiert soziale Interaktion, Amazon den Einzelhandel, Google die Suchmaschinen und so weiter. Das heißt, alle diese Plattformen haben einen bestimmten Bereich menschlicher Interaktion gewissermaßen „besetzt“ und ihren eigenen Regeln unterworfen. Dieser Prozess der „Graphnahme“, wie Seemann ihn nennt, führt dazu, dass es, wenn ein Bereich erst einmal von einer Plattform übernommen wurde, fast unmöglich ist, sich als Konkurrent hier noch zu betätigen. Neue Internetgiganten können eigentlich nur entstehen, wenn sie weitere, bislang noch „unentdeckte“ Bereiche menschlicher Gesellschaft finden und der Plattformlogik einverleiben.
Wenn man sich die Geschichte der vergangenen drei Jahrzehnte anschaut, haben alle Versuche, diese Dynamik staatlicherseits zu reglementieren, nur dazu geführt, dass die Plattformen immer mächtiger wurden. Staatliche Kontrolle erweitert ihre Macht, anstatt sie zu begrenzen. Ein gutes Beispiel ist die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) in Deutschland, hinter der ja die Absicht stand, bestimmte Datenschutzvorgaben verbindlich durchzusetzen. Die Folge davon war eine Stärkung der Internetgiganten im Vergleich zu kleineren Konkurrenten: Denn um die staatlichen Vorgaben umzusetzen, mussten komplexe Anpassungen in den eigenen Programmen vorgenommen werden, was eine große Plattform natürlich viel besser stemmen kann als ein kleines Unternehmen. So hat insbesondere der Versuch, die Macht von Google bei der Auswertung von Daten zu bremsen und zu reglementieren, in Wirklichkeit dazu geführt, dass Googles Konkurrenz aus dem Weg geräumt wurde.
Etwas Ähnliches beobachten wir derzeit mit Facebook als einer Plattform, die in politische Prozesse eingreifen kann, weil ihr Algorithmus die persönlichen Vorlieben der Nutzer:innen gezielt bedient. Aufgefallen ist das als Gefahr für die Demokratie spätestens mit der Abstimmung zum Brexit und der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA. Diese Manipulation der öffentlichen Debatte hat Facebook viel Kritik eingebracht. Aber als Folge dieser Bewusstwerdung wird Facebook derzeit zu einer Instanz ausgebaut, die demokratische Wahlen garantieren soll, etwa indem es Regularien ergreift und zum Beispiel Konten von Corona-Leugner:innen oder auch eben das von Donald Trump sperrt.
Diese Dynamik hat sich von den herkömmlichen politischen Debatten gelöst, weil es hier um schlichte Fakten geht: Das Problem ist einfach da, und es gibt keine Lösung in Form von politischen Maßnahmen. Laut Seemann besteht die Herausforderung nun darin, demokratische Strukturen zu entwickeln, die mit dieser Logik von Plattformen und Internetgiganten zurechtkommen. Wie das gelingen könnte, dazu gibt er am Ende einige Ausblicke. Seine Prognosen für die Zukunft der parlamentarischen Demokratie sind allerdings nicht sehr rosig. Dennoch eine inspirierende und wichtige Lektüre für alle, die linke Gesellschaftskritik und Politik betreiben wollen.