Auch weit nach Ende der NS-Diktatur sind in Deutschland Hunderte Todesopfer rechter Gewalt zu beklagen. Thomas Billstein forscht zu rechten Morden nach 1945 und entreißt die Opfer dem Vergessen. In seinem Artikel für die Graswurzelrevolution gibt er einen Überblick über die Taten und die Politik des Vertuschens und Verschweigens. (GWR-Red.)
Wenn über die Todesopfer rechter Gewalt gesprochen wird, denken viele Menschen verständlicherweise zunächst an die Opfer der nationalsozialistischen Terrorherrschaft. Rund 17 Millionen Menschen ermordeten die Nazis und ihre Kollaborateur*innen damals direkt – eine schier unvorstellbare Zahl. Dutzende weitere Millionen starben in dem durch die Deutschen entfachten 2. Weltkrieg und dessen langjährigen Kriegshandlungen.
Aber auch nach dem 8. Mai 1945, dem Tag der Befreiung, war die mörderische Ideologie nicht verschwunden, denn schließlich lebten ja viele Täter*innen noch und ebenso ein großer Teil des Volkes, das die nationalsozialistische Gesinnung einst an die Macht hob. Bereits in den frühen Nachkriegsjahren organisierten sich ehemalige SA- und SS-Mitglieder neu, beispielsweise in der „Deutschen Friedens- und Freiheitsbewegung“, welche allerdings schnell mit ihrem Treiben Aufmerksamkeit erregte und schon im April 1947 durch den General Court in der amerikanischen Besatzungszone zerschlagen wurde. Später dann, in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik, waren öffentliche Ämter durchsetzt mit alten Nazis. Ende der 1950er recherchierte der Sozialistische Deutsche Studentenbund, dass mehr als hundert Richter aus der NS-Zeit wieder in Amt und Würden waren. Täter, die während des Nationalsozialismus Tausende Menschen in den Tod schickten. Zeitweise hatten zudem alle damals tätigen Oberstaatsanwälte in ihrer Vergangenheit ein NSDAP-Parteibuch gehabt. Nein, eine Entnazifizierung fand nicht statt. Und so gab es auch kein konsequentes Engagement gegen völkische, antisemitische und rechte Ideologie.
Keine Dokumentation rechter Morde
Aber auch die Aufarbeitung und Dokumentation rechter Gewalt in den frühen Nachkriegsjahrzehnten fand nicht statt, oder allerhöchstens rudimentär. Dass es beispielsweise Racheangriffe von Nazis gab, sei es gegen Geflüchtete, politische Gegner*innen oder Alliierte, ist naheliegend, aber kaum dokumentiert und erforscht. Gerade Fakten und Ereignisse aus der Zeit zwischen der Kapitulation der Nazis und der Gründung der Bundesrepublik dürften hierbei wenig bekannt sein.
Die Erfassung von Todesopfern rechter Gewalt startete in der öffentlichen Debatte oftmals noch wesentlich später. Initiativen wie die Amadeu Antonio Stiftung führen auf ihren Gedenklisten erst die Opfer seit 1990, dem Jahr der Wiedervereinigung von Bundesrepublik und DDR. Auch die Bundesregierung beginnt mit der Zählung auf ihrer wesentlich kürzeren und lückenhaften Opferliste erst ab 1990. Aber auch wenngleich der neonazistische Straßenterror mit den frühen Jahren der Nachwendezeit seinen Höhepunkt erlangte, fand tödliche rechte Gewalt bereits viel früher statt, und je mehr Menschen sich mit alten und neuen Nazis in den ersten Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg beschäftigen oder einfach nur tiefer in die Lokalgeschichte eintauchen, umso mehr Hinweise auf Übergriffe und Todesopfer finden sich dazu.
Doch was genau ist rechte Gewalt, und welche unterschiedlichen Motive lassen sich darunter zusammenfassen? Rechtsextreme Gewalt resultiert, vereinfacht gesagt, aus einem unterschiedlich stark ausgeprägten ideologischen Weltbild der Täter*innen, welches andere Menschen aufgrund von äußeren und/oder kulturellen Merkmalen abwertet. Die meisten Todesopfer rechtsextremer Gewalt sind durch eine rassistische Tatmotivation zu erklären. Danach folgen Angriffe auf echte oder vermeintliche politische Gegner*innen sowie sozialdarwinistische Motive. Bei diesem Motiv werden Obdachlose, Erwerbslose oder sozial randständige Menschen von den Täter*innen als minderwertig angesehen und angegriffen. Weitere Motive sind beispielsweise Antiziganismus, Antisemitismus oder der Hass gegenüber Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung bzw. ihrer sexuellen Identität. Eigentlich kein neues Phänomen, wenngleich es auch in den letzten Jahren stärker wahrgenommen wird, sind misogyne Tatmotive. Mit dem Oberbegriff Misogynie wird die Abwertung von Frauen bezeichnet. Eine rechtsextreme Einstellung geht untrennbar mit einem benachteiligenden Rollenbild der Frau einher. Dieses ist unterschiedlich stark ausgeprägt und führt in der stärksten Form zu tödlicher Gewalt gegen sie.
Beispiel Andreas Ostermeier
Galt bis vor einiger Zeit noch der versuchte Mord an Rudi Dutschke 1968 als erste tödliche rechtsmotivierte Gewalttat, haben Forschungen gezeigt, dass bereits zwei Jahre zuvor ein politischer Aktivist von einem Nazi ermordet wurde. Der 63-jährige Andreas Ostermeier wurde in einem Gasthaus in Dorfen (Bayern) von einem 70-Jährigen zunächst als „Kommunistenschwein“ beschimpft und anschließend erstochen. Das Opfer arbeitete in jungen Jahren in einer Ziegelei, verlor aber durch einen schweren Betriebsunfall einen Unterarm. Dadurch wurde er arbeitslos und bestritt seinen Lebensunterhalt fortan als Hausierer.
Politisch engagierte er sich in der Kommunistischen Partei (KPD) und wurde Leiter der Ortsgruppe. Die Herrschaft der Nationalsozialisten überlebte er, auch wenn er zeitweilig in so genannter Schutzhaft war und auf der städtischen Liste „offenkundige Staatsfeinde“ sogar auf dem ersten Platz stand.
Aber den Mord an Andreas Ostermeier als erstes dokumentiertes Todesopfer rechter Gewalt zu benennen, ist zweifelsohne nur eine Momentaufnahme. Dass der Fall nach so vielen Jahrzehnten wieder seinen Weg in die Öffentlichkeit fand, ist im Übrigen der Dorfener Geschichtswerkstatt zu verdanken.
1972: Ein antiziganistischer Mord mit Rückendeckung der lokalen CSU
Denn oftmals wurden solche Hassverbrechen zum Zeitpunkt der Tat nicht als solche erkannt oder gar bewusst von Politik, Behörden und Medien verharmlost. So auch im Fall der 1972 ermordeten Sintiza Anka Denisov. Sie befand sich mit anderen Sinti*ze auf der Durchreise von Italien nach Skandinavien und rastete am Tatabend in einem bayrischen Dorf. Dort ging die schwangere 18-Jährige gemeinsam mit vier Mädchen zu einem Bauernhof, um Lebensmittel einzukaufen. Als der Bauer die Sintize in seinem Haus sah, holte er sofort sein Kleinkalibergewehr und schoss das Magazin auf die Gruppe junger Frauen leer. Anka Denisov erlitt einen tödlichen Herzschuss, eine 16-jährige Begleiterin wurde durch die Schüsse schwer verletzt. War die Gewalttat bereits grausam genug, kam es nach der Tat zu weiteren unfassbaren Ereignissen. Zunächst wurde nicht gegen den Täter, sondern gegen drei Begleiterinnen des Opfers Haftbefehl erlassen. Dann organisierte der zuständige Polizei-Gruppenleiter einen quasi militärischen Schutz für die Dorfgemeinschaft, um sie vor vermeintlichen Angriffen der „Landfahrer“ zu schützen und postierte „drei Mann mit Maschinenpistolen, zwei Schäferhunde, außerdem noch nächtliche Patrouillen“ im Ort. Als der Täter Wochen nach der Tat und erst durch einen engagierten Rechtsbeistand der Sinti*ze verhaftet und schließlich verurteilt wurde, sammelten CSU-Bürgermeister und -Landrat mit dem Aufruf „Bitte helfen Sie sofort!“ öffentlich Gelder für den Täter, damit dieser ohne finanzielles Risiko in Revision gehen könne.
Anka Denisov ist somit das aktuell erste dokumentierte Todesopfer antiziganistischer Gewalt in der BRD. Der Forschungsstand ist allerdings weiterhin extrem dünn, und es gab bereits 1950 und 1960 mindestens drei Opfer tödlicher Polizeigewalt, die kaum nach Motiven untersucht wurden.
Über 300 dokumentierte Todes-opfer in den letzten 60 Jahren
Die oftmals auftretende Frage, wie viele Todesopfer rechter Gewalt es denn nun genau in der jüngeren deutschen Geschichte gibt, lässt sich eigentlich gar nicht exakt beantworten. Vielmehr kann nur der aktuelle Stand der bisher ermittelten und dokumentierten Fälle genannt werden. Dieser liegt zurzeit bei rund 320 Verstorbenen, inklusive 40 Opfern, die als Verdachtsfälle geführt werden müssen, da ein rechtes Motiv zwar sehr wahrscheinlich ist, dieses aber nicht hundertprozentig bewiesen werden kann. Zusätzlich sind viele Hunderte weitere Fälle vorhanden, bei denen zumindest ein vager Anfangsverdacht vorliegt. So teilte das Bundesinnenministerium schon im Jahr 2013 mit, dass es unter allen unaufgeklärten Tötungsdelikten etwa 750 Fälle gibt, bei denen Anfangsverdachtsmomente für ein rechtsextremes Motiv vorliegen.
Zusätzlich gibt es eine Vielzahl von Menschen mit Migrationsgeschichte, die in Polizei- oder Abschiebehaft unter dubiosen Umständen verstorben sind. Bei etlichen Fällen ist eine rassistisch bedingte Tatmotivation oder Tateskalation durch die Beamt*innen möglich oder so-
gar naheliegend. Eine Aufklärung solcher Fälle ist aber nur sehr schwer durchführbar.
Zeug*innen, die als Dritte fungieren, sind in der Regel nicht vorhanden, ebenso wenig Ermittler*innen, die bereit sind, kritisch gegen die eigenen Polizeistrukturen und den Korpsgeist nachzuforschen.
Erinnern heißt kämpfen!
Die vielen Menschen, die in den letzten Jahrzehnten so sinnlos durch Rassismus, Antisemitismus, Sozialdarwinismus und andere Formen der Ausgrenzung getötet wurden, dürfen nicht vergessen werden. Sie mahnen uns zugleich jeden Tag aufs Neue, alle Anstrengungen aufzunehmen und für eine solidarische und freie Gesellschaft zu streiten, in der alle Menschen gleichberechtigt einen würdevollen Platz haben.
Vom Autor ist zum Thema erschienen:
Thomas Billstein: kein vergessen – Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland nach 1945,
Unrast Verlag, Münster 2020, 344 Seiten, 19,80 Euro,
ISBN 978-3-89771-278-2
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Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.