„taz: Du schreibst für die ‚Graswurzelrevolution‘. Würdest Du Dich als Anarchist bezeichnen?Jochen Stay: Im Prinzip ja, aber nicht in erster Linie. Vorher bin ich Mensch, Vater, Anti-Atom-Aktivist, Autor und dann irgendwann auch Anarchist.“Interview mit Jochen Stay, aus: taz, Berlin, 19./20.5.2001
Jochen habe ich Anfang der 1990er in der Anti-Atomkraft-Bewegung kennengelernt. Ich war damals aktiv im Umweltzentrum (UWZ) Münster und in der Aktionsgruppe WigA (Widerstand gegen Atomanlagen).
Jochen war seit 1989 regelmäßiger Autor und dann Redakteur der Graswurzelrevolution (GWR), die ich als begeisterter Abonnent seit 1986 jeden Monat aufs Neue verschlungen habe, und dadurch eine bekannte Stimme in der gewaltfreien und anarchistischen Szene und der Anti-AKW-Bewegung.
Ein solidarischer Freund und Genosse
Anfang 1992 wurde das UWZ mit Ermittlungsverfahren nach den Gummi-Paragrafen 111 StGB „Öffentliche Aufforderung zu Straftaten“, 129a „Werbung für eine terroristische Vereinigung“ und 90a „Anleitung zu Straftaten“ überzogen und eingeschüchtert. Ich weiß noch, wie sehr ich mich damals gefreut habe, als Jochen im März 1992 in der GWR 164 zur „Solidarität mit dem Umweltzentrum Münster“ aufgerufen hat, nachdem BKA, LKA und Kripo eine Großrazzia durchgeführt hatten und anschließend eine Hetzkampagne begann. Jochen stellte in seinem Artikel fest, dass mit der Repression jeder Protest im Keim erstickt werden solle. „Erreicht wurde mit der Durchsuchung wohl gerade das Gegenteil. Die breite Solidarität beweist dies.“
1992 zog Jochen von Heidelberg ins Wendland. Dort wurde in der „Kurve Wustrow“ das neue GWR-Büro eingerichtet, in dem er als verantwortlicher Redakteur fortan die Ausgaben 168 (September 1992) bis 201 (Oktober 1995) produzierte.
Jochen hatte eine meist freundliche, angenehme Stimme. Er war ein begnadeter Netzwerker. Seine Hartnäckigkeit richtete sich vor allem auf den Kampf für den sofortigen Ausstieg aus der Atomkraft, und die GWR entwickelte sich zu einem wichtigen Sprachrohr der Anti-AKW-Bewegung. Andere Themen gingen zwar nicht ganz unter, aber die lachende Anti-Atom-Sonne leuchtete in der GWR-Berichterstattung wohl nie so hell wie zu Jochens Redakteurszeit.
In der taz vom 2.10.1995 wurde unter dem Titel „Jubiläum der Gewaltfreien“ über die ersten 200 GWRs berichtet und Jochen mit dem Hinweis zitiert, dass auf dem Höhepunkt der Proteste gegen die „Nachrüstung“ in den 1980ern in der Friedens- und in der Anti-AKW-Bewegung heftig über den Sinn gewaltfreier Sitzblockaden gestritten wurde. Dass „heute etwa bei den wendländischen AtomkraftgegnerInnen die gewaltfreie Blockade der Castor-Transporte selbstverständliche Protestform ist“, wertete Jochen als „Erfolg der Ideen der Graswurzelrevolution“.
Jochen und „X-tausendmal quer“
Ohne die bei der GWR gemachten Erfahrungen ist die Entstehung der Kampagne „X-tausendmal quer“ nicht zu verstehen; der Grundstein dafür wurde in der Redaktion gelegt. Mit den Castor-Transporten nach Gorleben formierte sich die Anti-Atomkraft-Bewegung Mitte der 1990er neu. Jochen war mit seinen organisatorischen, rhetorischen und agitatorischen Talenten ein Sprecher und Motor von „X-tausendmal quer“. Nicht zuletzt mit Hilfe der GWR mobilisierte er zu den Blockadeaktionen, darunter zur größten Aktion, einer mehrtägigen Sitzblockade in Dannenberg 1997. Rund zehntausend gewaltfreie Aktivist:innen hatten sich vor dem Verladekran versammelt und über 48 Stunden die Transportstrecke blockiert. Bis 2011 haben Jochen und „X-tausendmal quer“ zu jedem Castor-Transport ins Wendland Tausende Menschen zu Sitzblockaden auf der Strecke zwischen Lüneburg und dem Zwischenlager in Gorleben mobilisiert.
Anlässlich einer Einschüchterungskampagne gegen Jochen 2001 bot sich die Gelegenheit, mich als GWR-Redakteur für die 1992 von ihm ausgeübte Solidarität zu revanchieren. Unter dem Titel „Feindbild ‚Anarchist‘“ analysierte ich in der GWR 260, wie die Organe der Staatsgewalt aus Jochen und anderen Gewaltfreien „Gewalttäter“ machen. „Unter dem Deckmantel der Gewaltfreiheit“, so die fette Überschrift eines Artikels zum Castor-Widerstand in Deutsche Polizei Nr. 5/2001, einer Zeitung der Deutschen Polizeigewerkschaft. Hier wurde der Boden bereitet für Repressionsmaßnahmen gegen Jochen
und andere Graswurzelrevo-
lutionär:innen durch den Versuch, „X-tausendmal quer“, die „Kurve Wustrow“, die Graswurzelbewegung und die GWR als „gewalttätig“ zu diskreditieren.
Seit dem Castor-Transport im März 2001 hatten Polizeiführung, BILD und Focus versucht, Jochen zu einem „Gewaltbefürworter“ und „Rädelsführer“ der Anti-AKW-Bewegung zu stilisieren. Die Hetzkampagne erreichte mit diesem Artikel einen Höhepunkt, wie ich in der GWR 260 zusammenfasste: „Damit alle PolizistInnen in der BRD den angeblichen ‚Gewalttäter‘ sofort erkennen können, drucken die (…) Autoren des Artikels nicht nur eine Art Fahndungsfoto des Anarchisten ab. Untertitel: ‚In Gewahrsam genommen und für die Dauer des Castor-Transports aus dem Verkehr gezogen wurde Jochen Stay, Sprecher der Initiative X-tausendmal quer. Er hatte mehrfach zu Straftaten aufgerufen.‘ Sie reißen bewusst Zitate aus dem Zusammenhang und stellen sie durch Kommentare in einen anderen Sinnzusammenhang. (…) Der begrenzte Horizont der Staatsschützer hat zur Folge, dass für sie eine Organisationsform von unten nicht denkbar ist. (…) Wäre X-tausendmal quer nicht (…) basisdemokratisch organisiert, sondern von einem ‚Rädelsführer‘ geleitet, hätte es Ende März 2001 nicht diese effektiven Anti-Castor-Aktionen von X-tausendmal quer im Wendland gegeben, während gleichzeitig der angebliche ‚Rädelsführer‘ ohne jegliche Rechtsgrundlage im Knast saß.“
Konflikt um einen GWR-Artikel
Für mich als GWR-Koordinationsredakteur war Jochen lange Zeit eine der ersten Ansprechpersonen für Artikel zu den neusten Machenschaften der Atommafia. Ein Anruf bei ihm, zack, schon folgte die Zusage, und sein Artikel trudelte pünktlich zum Redaktionsschluss ein. Jochen war eine sichere Bank.
Das Verhältnis wurde aber getrübt, nachdem in der GWR ein Artikel abgedruckt worden war, der sich kritisch mit „X-tausendmal quer“ auseinandersetzte. Jochen reiste daraufhin zum GWR-Herausgeber:innentreffen an, wo er als Sturkopf auftrat und durchzusetzen versuchte, dass sich die GWR öffentlich von dem abgedruckten Artikel und seinem Autor distanziert. Das Angebot, eine Erwiderung für die nächste Ausgabe zu
schreiben, war ihm nicht genug. Wutschnaubend reiste er ab.
Vermutlich haben diese unglückliche Auseinandersetzung und auch die oben skizzierte Medienhetze dazu beigetragen, dass er sich peu à peu von der GWR entfernt hat. Meine Interviewanfragen an ihn liefen ins Leere. 2008 endete Jochens regelmäßige Tätigkeit als Autor für die GWR mit der Gründung der Nichtregierungsorganisation „.ausgestrahlt“, auf die er sich fortan konzentrierte und die dank seines Geschicks sehr erfolgreich war. So gelang es Jochen und „.ausgestrahlt“ zum 24. April 2010, 24 Jahre nach dem Super-GAU von Tschernobyl, 150.000 Menschen für die Stilllegung aller Atomanlagen und gegen die von der CDU/FDP-Regierung geplante Laufzeitverlängerung auf die Straße zu holen. Rund 120.000 DemonstrantInnen bildeten eine 120 Kilometer lange Menschenkette zwischen den AKWs Brunsbüttel und Krümmel, 20.000 umzingelten das AKW Biblis.
Jochen hat einen großen Anteil daran, dass viele Atomkraftwerke inzwischen abgeschaltet sind. Das wurde in den Nachrufen auf ihn, von „.ausgestrahlt“ bis zur BI Lüchow-Dannenberg, gut herausgearbeitet.
Spiegel, Süddeutsche und taz haben in ihren Texten zu Jochen seine Zeit bei der GWR verschwiegen, obwohl er die Zeitung und sie ihn mitgeprägt hat.
Jochen war Mensch, Vater, Anti-Atom-Aktivist, aber eben auch GWR-Redakteur und Anarchist. Er war jemand, der sich auf den Weg gemacht hat, zur anarchistischen Gesellschaft.
Lieber Jochen, wir werden dich nicht vergessen.