Bombardierung von Atomkraftwerken, Notbetrieb der Reaktoren in umkämpften Regionen und Debatten über Laufzeitverlängerungen von AKW in der Bundesrepublik: In ihrem Artikel für die Graswurzelrevolution gibt Eichhörnchen einen Überblick über die atomaren Risiken des Ukrainekriegs. (GWR-Red.)
„Quelle connerie la guerre“ (dt. „Welch eine Dummheit ist doch der Krieg“), schrieb der bekannte französische Dichter Jacques Prévert in seinem Gedicht „Barbara“, in dem er die Schrecken der Bombardierung von Brest beschrieb. Das Gedicht ist universell. Jeder Krieg ist grausam. Auch der Ukraine-Krieg. Und als gäbe es durch den Krieg an sich nicht genug Tote, Verletzte, zerstörte Existenzen, zerstörte Infrastruktur, zerstörte Natur, kommt noch die atomare Bedrohung hinzu. Nicht nur durch den möglichen Einsatz von Atomwaffen, sondern durch den „Normalbetrieb“ von Atomanlagen in einem Kriegsgebiet.
Atomstreitkräfte in Bereitschaft
Wladimir Putin droht unmissverständlich mit dem Einsatz von Atomwaffen. Ihr Einsatz würde zu einer unkalkulierbaren Eskalation führen, die weder Russland noch andere Länder befürworten können. Auch wenn Expert*innen die Wahrscheinlichkeit ihres Einsatzes als gering einschätzen, traue ich Putin dies in seiner Machtbesessenheit und Kriegseuphorie zu. (1) Das wäre nicht das erste Mal in der Geschichte. Schließlich wurden Atomwaffen im Zweiten Weltkrieg durch die USA in Hiroshima und Nagasaki eingesetzt. Im Kalten Krieg kam es mehrfach zu einem Beinahe-Einsatz. Meldungen zufolge hat Putin die atomaren Streitkräfte in Bereitschaft versetzt. Zum Glück gibt es für den Einsatz solcher Waffen ein Protokoll unter Beteiligung mehrerer Akteur*innen, es ist nicht mit einem einfachen Knopfdruck getan.
Nuklearer Fehler
Die Gefahr lauert aber nicht nur in dieser Drohung. Wahrscheinlicher ist vielmehr ein Unfall im Zusammenhang mit Kriegshandlungen bei einer Atomanlage in der Ukraine. „Früher in der Geschichte gab es keine Kriege in Gebieten, die stark von Atomenergie abhängig oder stark verstrahlt waren. Dies ist mit schwer vorhersehbaren Folgen verbunden – in einem Krieg kann alles passieren“, warnt der russische Ecodefense-Aktivist und Träger des Alternativen Nobelpreises Vladimir Slivyak. (2)
Er fährt fort: „Die Kontrolle über ein hochradioaktives Gebiet kann dazu benutzt werden, die Regierung zu erpressen, in deren Hoheitsgebiet die Militäroperationen stattfinden. Eine weitere unangenehme Option ist der Diebstahl radioaktiver Materialien, die dann in die Hände von Angreifern auf der ganzen Welt gelangen können. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass eine Rakete oder Bombe, die absichtlich oder versehentlich ein strahlungsgefährdendes Objekt trifft, zu einer neuen großflächigen Kontamination relativ sauberer Gebiete mit Strahlung führen kann.“ Das müsse nicht unbedingt „aus Bosheit“ erfolgen, erläutert Vladimir, und erwähnt den „aus Versehen“ abgeschossenen Boeing-Flug „MH17“ im Juli 2014 über der Ost-Ukraine, den Russland für ein Militärflugzeug hielt. (3)
Fehler passieren. Bei Atomkraft haben sie aber sehr weitreichende Folgen. Atomanlagen sind nicht dafür ausgelegt, dem Beschuss durch Raketen oder Abwurf einer Bombe standzuhalten. Nicht einmal gegen den Absturz größerer Flugzeuge seien die ukrainischen Atomkraftwerke geschützt, sagte Sergej Boschko, Chef der ukrainischen Atomaufsicht, 2014. (4)
Brenzlige Situation in Tschernobyl
Die Meldungen reißen nicht ab. Selbst die Internationale Atomenergie-Organisation IAEA schlägt Alarm. Eine Behörde, die für die Nutzung der Atomkraft steht und die Mär der sicheren friedlichen Nutzung verbreitet. (5)
Die russische Armee hat die Kontrolle über die Sperrzone rund um das havarierte AKW Tschernobyl übernommen. Dort ist seit 2000 kein Reaktor mehr in Betrieb. Es gibt allerdings jede Menge Atommüll und den Sarkophag um das havarierte AKW. Der Atommüll muss überwacht werden, zahlreiche Wartungsarbeiten finden dort statt. Etwa 2.000 Menschen arbeiten dort normalerweise im Schichtbetrieb. Die russische Armee hat die Arbeiter*innen als Geiseln genommen; sie schlafen an Ort und Stelle und werden nicht mehr abgelöst. Erhöhte radioaktive Werte wurden lokal gemeldet. Sie wurden mit den Bewegungen von schweren Kriegsgeräten begründet. Berichten zufolge sind inzwischen die Geräte zur Messung der Radioaktivität ausgeschaltet, was für die Arbeiter*innen die Überwachung der Anlage erschwert. Sollte es einen Zwischenfall geben, kann dieser möglicherweise nicht rechtzeitig entdeckt werden; die Folgen können verheerend sein. Zwischendurch war der Standort außerdem ohne Strom.
Sorge um die Situation am AKW Saporischschja
Weitere beunruhigende Meldungen betreffen das AKW in Saporischschja im Süden des Landes. Es wurde beschossen. Ersten Meldungen zufolge ist es noch „gut“ gegangen, es hat scheinbar „nur“ einen Gebäudebrand gegeben.
Es braucht aber keinen Treffer auf den Reaktor selbst, um einen so genannten Atomunfall auszulösen. Mitteilungen darüber, dass der nukleare Teil nicht getroffen wurde, sind daher immer mit Vorsicht zu genießen. Fatal ist zum Beispiel, wenn die Kühlung des Reaktors ausfällt. Selbst abgeschaltete Reaktoren müssen gekühlt werden. Umso ernster zu nehmen ist die Meldung vom 10. März 2022, dass, anders als zunächst gemeldet, doch Kampfhandlungen in unmittelbarer Nähe der Reaktoren stattgefunden haben. Aufnahmen zeigen die Reste von Geschossen. Der ukrainischen atomaren Sicherheitsbehörde zufolge wurde ein Transformator beschädigt, er verliert Öl, und Ersatzteile können nicht beschafft werden. Wenn ein Transformator nicht mehr funktionsfähig ist, muss das AKW heruntergefahren und gekühlt werden. Wenn die Kühlung ausfällt, gibt es Notstromgeneratoren, diese haben aber eine begrenzte Betriebszeit, müssen mit Sprit versorgt werden und springen oft gar nicht an. Ein Reaktor soll noch im Betrieb sein, um die Kühlung der anderen vier zu gewährleisten. Mitten in einem Kriegsgebiet.
Problematisch sind zudem die Arbeitsbedingungen vor Ort. Das Personal wurde wie in Tschernobyl als Geiseln genommen. Die Kommunikation nach außen wurde weitestgehend eingestellt. Durchsickernde Nachrichten deuten auf eine stetig zunehmende Gefahr eines GAU, eines Größten anzunehmenden Unfalls, hin. Die Belegschaft muss den Betrieb und die Kühlung überwachen. Die Menschen sind jedoch übermüdet, einem enormen Stress ausgesetzt. Das alles begünstigt Fehler, so genanntes menschliches Versagen.
Neben den Reaktoren als Risikoquelle gibt es die Gefahr durch die Lagerung von Brennelementen sowohl in Abklingbecken als auch in einem Trockenlager. Der Betonschutz kann bei schwerem Beschuss versagen. Die Brennelemente im Abklingbecken würden bei Verlust des Wassers in Brand geraten, und da es sich um noch sehr heiße Brennelemente handelt, würde dies eine großflächige Freisetzung von Radioaktivität über Landesgrenzen hinweg zur Folge haben. Die Situation ist selbst für die Behörden schwer einzuschätzen, da die Kommunikation nach außen gekappt wurde und keine Radioaktivitätsmesswerte mehr verfügbar sind. (6) Am 7. März 2022 wurde außerdem gemeldet, ein Atomlabor in Charkiw sei durch Beschuss zerstört worden – laut IAEA ohne Freisetzung von Radioaktivität. Wie zuverlässig die Meldungen angesichts des ausgefallenen Messnetzes sind, ist fraglich. (7) Es bleibt nur zu hoffen, dass es nicht zu einem Unfall kommt. Sicher ist nur das Risiko.
Scheindebatte Laufzeitverlängerung
Vor diesem Hintergrund ist eine Debatte um eine AKW-Laufzeitverlängerung geradezu absurd. Atomkraft bringt in einer geopolitisch instabilen Welt unermessliche Gefahren mit sich.
Positiv zu bewerten ist, dass der Atomdeal zwischen Framatome und Rosatom um die Brennelementefabrik Lingen vorerst geplatzt ist. (8) Urenco, die Betreiberfirma der Urananreicherungsanlage in Gronau, verzichtet außerdem auf den Export von Uranmüll nach Russland – Transporte, gegen die es in der Vergangenheit starken Protest und Blockade-Aktionen in Deutschland gab. (9)
Der Atomausstieg muss zu Ende gedacht werden: „Deutschland darf die Gefahren der Atomenergie nicht länger exportieren. Ein zeitnaher Ausstieg aus der Brennelementefertigung in Lingen und der Urananreicherung in Gronau muss jetzt mit entsprechenden Gesetzen auf den Weg gebracht werden“, erklärten Friedens-, Antiatom- und Umweltverbände am 4. März 2022 in einer gemeinsamen Erklärung.
Heuchelei – Sanktionen gelten nicht für die Atomkraft
Scharfe Kritik muss zudem an den trotz Sanktionen weiterlaufenden Atomgeschäften zwischen Russland und europäischen Konzernen geübt werden. Es ist viel die Rede von der energetischen Abhängigkeit vom russischen Gas. Was selten Erwähnung findet: Auch bei Uran und Brennelementen für AKW ist die EU zu einem großen Teil von Importen aus Russland abhängig. Die Uranwirtschaft bekommt im Ukrainekrieg eine Extrawurst. Am 1. März 2022 erfolgte eine Brennelementelieferung aus Russland per Flugzeug (!) in die Slowakei. Der Luftraum war gesperrt, für den Transport gab es eine Sondergenehmigung. Solche Transporte erfolgen normalerweise nicht per Flugzeug, sondern per Zug, weil dieses Transportmittel als sicherer gilt. (10)
Frankreichs staatliche Atomkonzerne Orano, Framatome und EDF unterhalten außerdem enge Beziehungen mit dem russischen Konzern Rosatom und gedenken nicht, diese zu beenden. Der ehemalige Chef von EDF, Henri Proglio, sitzt sogar im Aufsichtsrat von Rosatom. Bei den Geschäften geht es um Uran aus Russland, um Bauteile für AKW und den Export von Uranmüll nach Russland. (11)
Für das Verbot von Atomwaffen und die Stilllegung aller Atomanlagen weltweit!
(1) https://www.swr3.de/aktuell/nachrichten/atomstreitkraefte-russland-bereitschaft-100.html
(2) https://blog.eichhoernchen.fr/post/russland-ukraine-lrieg-nuklearer-fehler/
(3) https://www.tagesschau.de/ausland/europa/mh17-lebenslange-haft-forderung-anklage-101.html
(4) https://web.archive.org/web/2014090208
0048/ http://www.tagesschau.de/wirtschaft/atomkraftwerk-ukraine-100.html
(5) https://twitter.com/iaeaorg/status/1502023
334279712773
(6) Zur Situation an den AKW-Standorten: https://www.rnd.de/wissen/ukraine-wie-gross-ist-das-risiko-eines-atomgaus-einschaetzung-eines-energieexperten-URX65YEKDNFQPLZG7JH25WX5TI.html
https://www.n-tv.de/politik/Atombehoerde-Uberwachung-von-Tschernobyl-nicht-mehr-moeglich-article23182247.html
https://snriu.gov.ua/en/news/information-zaporizhzhia-npp-1200-10-march-2022
(7) https://www.noz.de/deutschland-welt/politik/artikel/iaea-atomlabor-zerstort-kein-radioaktiver-austritt-22659022
(8) https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/lingen-einstieg-von-rosatom-in-deutsche-atomfabrik-vorerst-geplatzt-a-f355e411-7635-4a44-8d4f-c9c9061888fb
(9) https://www.tagesschau.de/regional/nordrheinwestfalen/wdr-story-46339.html
(10) https://www.berliner-zeitung.de/news/trotz-
luftraumsperre-russen-flieger-bringt-nuklearbrennstoff-in-die-eu-li.215613
(11) https://www.greenpeace.fr/le-double-jeu-dangereux-de-lindustrie-nucleaire-francaise/
https://www.lefigaro.fr/societes/nucleaire-l-etat-pret-a-ceder-20-d-arabelle-au-russe-rosatom-20220308
https://www.lesechos.fr/industrie-services/energie-environnement/henri-proglio-ex-patron-dedf-ne-compte-pas-demissionner-du-russe-rosatom-1391597
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.