Der Krieg in der Ukraine und die Sanktionspolitik gegen Russland führen zu einer massiven Verknappung von Grundnahrungsmitteln, und die Preise für Lebensmittel explodieren. Besonders im globalen Süden drohen deshalb Hungerkatastrophen mit zahllosen Toten. In seinem Artikel für die Graswurzelrevolution macht Dju auf diese kaum beachteten Folgen und die moralischen Doppelstandards des Westens aufmerksam. (GWR-Red.)
Ich rede hier nicht von den Toten in Russland, die Wirtschaftssanktionen durch eine verminderte Lebenserwartung nach sich ziehen werden. Ich rede auch nicht von den toten UkrainerInnen, die durch die Waffenlieferungen und die dadurch bedingte Verlängerung und Ausweitung des Konflikts sterben werden, und nicht von den durch Russlands Krieg verursachten Toten. Obwohl ich auch all dieses unverantwortlich finde. Nein, mir geht es um die Hunderttausende, wenn nicht gar Millionen Menschen in den Armutsregionen dieser Welt in Afrika, Lateinamerika und Asien, die noch weiter verelenden werden und von denen viele in der Folge ein schlechteres und kürzeres Leben haben werden, weil die EU- und US-amerikanische Sanktionspolitik dazu führen wird, dass die Lebensmittelpreise explodieren.
Explodierende Lebensmittelpreise
Russland und die Ukraine sind global zwei der wichtigsten Exporteure von Grundnahrungsmitteln. Außerdem sind der wichtigste externe Faktor, der in den Preis von Lebensmitteln einfließt, die Energiekosten, die einen zweistelligen Prozentbetrag des Preises von Grundnahrungsmitteln ausmachen. Die Sanktionen gegen Russland werden zusammen mit dem Krieg so erstens direkt zur Nahrungsmittelverknappung beitragen und zweitens über die massive Verteuerung von Energie indirekt zu extremen Preissteigerungen führen.
Dies geschieht in einer Situation, in der die Menschen in vielen Armutsregionen, nachdem sie sich vorher schon nicht wirklich von der Weltwirtschaftskrise (2008) erholt hatten, durch eine verfehlte Coronapolitik bereits Schwierigkeiten hatten, ihre Ernährung zu sichern. Laut Angaben der UNESCO hat durch die Coronapolitik die Zahl der in Lebensmittelunsicherheit lebenden Menschen um mehr als 100 Millionen zugenommen. Zugenommen hat auch der lebensgefährdende Hunger. In dieser Situation kann die Sanktionspolitik leicht zu Hunderttausenden oder mehr Toten führen, falls sie erfolgreich umgesetzt wird – und leider deutet zur Zeit alles darauf hin.
Menschenverachtende Sanktionspolitik
Wie viele Tote in der Armutsbevölkerung des Trikont (Afrika, Lateinamerika, Asien) ist der Druck auf Russland wert? Wie viele tote NichteuropäerInnen pro getöteter/m europäischer/m UkrainerIn sind nach Meinung der SanktionsbefürworterInnen hinzunehmen als Kosten der Sanktionspolitik: 100 tote NichteuropäerInnen je UkrainerIn, 200 tote NichteuropäerInnen je UkrainerIn, 1.000 tote NichteuropäerInnen je UkrainerIn? Der sich moralisch gebende Eurozentrismus der SanktionsbefürworterInnen weist diese nicht nur als moralisch ignorant aus, er ist tödlich.
Deutschland wird vermutlich in der Lage sein, die schlimmsten Folgen abzufedern und den einen Lieferanten durch andere zu ersetzen, aber genau dadurch wird Deutschland die Preissteigerungen wesentlich mit verursachen, die dann dazu führen werden, dass Hunderttausende oder mehr Menschen in den Armutsregionen der Welt sich nicht mehr ausreichend oder gar kein Essen mehr leisten können. Und nein, sie können dann nicht alternativ billig die Produkte aus Russland kaufen; dies wird ihnen ja auch von der EU und den USA verunmöglicht, insbesondere durch den Machtmissbrauch der Kontrolle des internationalen Zahlungsverkehrs.
Drohende Massenverelendung
Die dadurch entstehenden Verelendungsprozesse, Hungeraufstände und Bürgerkriege werden dann wiederum bei den moralisch sich überlegen dünkenden deutschen DünkelbürgerInnen auf Entsetzen und Mitleid stoßen: Wie schlimm. Richtiger sollte es heißen: Wie verlogen. IHR entzieht diesen Menschen die Lebensmöglichkeiten. IHR tragt die Verantwortung. IHR verursacht ihr Elend und Sterben. Aber sicher werdet IHR dann eine Ausrede finden: der Klimawandel, die Korruption, … Und sicher, all dies trägt auch zum Elend bei, aber gerade deshalb ist es unverantwortlich, die Lage noch weiter zuzuspitzen.
Und ja, sinnvoll wäre es, die Lebensmittelproduktion langfristig im Sinne des Konzepts regionaler ökologischer Lebensmittelsouveränität umzubauen, wie es z. B. die etc-Group in ihrem Report „A Long Food Movement: Transforming Food Systems by 2045“ (1) ausführt, um die Ernährung unabhängig von globalen Finanzströmen, Ausbeutung und fossilen Energieträgern zu gestalten. Nur ist dies leider nicht die Realität, in der die Menschen heute leben. Heute ist ihre Ernährung abhängig vom Funktionieren globaler Finanz- und Warenströme und billiger Energie. Und es sind zu großen Teilen dieselben politischen AkteurInnen, die diese Situation herbeigeführt haben, weil sie ihren wirtschaftlichen Interessen und ihrer neoliberalen Ideologie entsprechen, die nun die Sanktionspolitik gegen Russland einfordern.